Schleuser bekämpfen trifft die Falschen

Anadolu via Getty Images/Anadolu
Gerettet, aber nicht willkommen: Geflohene Rohingya haben Anfang Januar 2024 den Norden der indonesischen Insel Sumatra erreicht.
Migration
Menschen, die aus Not ihre Heimat verlassen, brauchen Schleuser, um Grenzsperren zu überwinden. Die zu bekämpfen, löst aber das Migrationsproblem nicht – weder moralisch noch in der Praxis, wie Beispiele aus Australien und Indonesien zeigen.

Wenn es darum geht, Migration über das Mittelmeer zu unterbinden, lassen sich europäische Politiker gern von australischen Kollegen beraten. Das Land gilt als Vorreiter im Austesten rigider Instrumente gegen Migration. Dazu gehören nicht nur die juristisch zweifelhafte Unterbringung von Flüchtlingen auf isolierten Inseln im Pazifik und Zwangsrückführungen von Bootsflüchtlingen in Herkunfts- oder Transitländer. Das australische Recht sieht auch Mindeststrafen von fünf Jahren Haft für Schleuser vor und sogar bis zu zwanzig Jahre Haft in Fällen, in denen Menschen ums Leben gekommen sind. 

Zwischen 2009 und 2013 kamen über 50.000 Flüchtlinge per Boot nach Australien – für europäische Verhältnisse sind das ausgesprochen wenige. Dennoch reagierten australische Politiker mit Panik und sprachen von unkontrollierbaren Invasionen. Der damalige Premierminister Kevin Rudd bezeichnete Schleuser als „Abschaum der Welt“. Auch seine Nachfolger sahen die Verantwortung für die steigende Anzahl von Flüchtlingen vor allem bei den Transporteuren statt in Kriegen oder im Fehlen legaler Möglichkeiten, Australien zu erreichen und dort Asyl zu beantragen. 

Die meisten, die bis zur Einführung der dem australischen Militär unterstellten Sicherheitsoperation „Sovereign Borders“ auf hoher See 2013 ins Land kamen, stammten aus Afghanistan, viele hatten noch nie den Ozean gesehen. Zusammen mit Flüchtlingen aus Iran, Irak, Pakistan, Somalia, aber auch Sri Lanka, Myanmar und Vietnam stachen sie von Indonesien aus in See. Dies hatte sich seit den frühen 2000ern zu einer Drehscheibe für Asylsuchende entwickelt. Die Anerkennungsraten für Asylsuchende sind in Indonesien relativ hoch, aber das Land integriert keine Flüchtlinge dauerhaft, viele warten jahrelang auf Umsiedlung in Drittländer. Da die Seereise nach Australien sehr weit und die Strecke gefährlich ist, können Flüchtlinge sie nicht allein zurücklegen. Sie wurden auf indonesischen Booten und von indonesischen Seeleuten transportiert, aber die Organisation der Überfahrten lag in den Händen nicht indonesischer Mittelsmänner. 

Mittelsmänner haben Kontakte und kulturelles Wissen

Dies waren oft abgelehnte Asylbewerber aus denselben Heimatländern wie die Reisewilligen. Selbst nach dem Scheitern eines Asylantrags konnten sie aber nicht abgeschoben werden, da sie keine gültigen Papiere haben und sich ihre Herkunftsländer oft weigern, sie wieder aufzunehmen. Weil sie in Indonesien nicht legal arbeiten durften, blieben ihnen nur der informelle Sektor oder kriminalisierte Beschäftigungen übrig – wie eben das Organisieren von Überfahrten nach Australien. 

Diese Mittelsmänner haben nicht nur die sozialen Kontakte und Netzwerke, sondern auch das nötige kulturelle Wissen. Denn neben der Organisation der Besatzung, Verpflegung und Ausrüstung der Boote müssen auch Unterbringung der Flüchtlinge, Routen sowie Absprachen mit bestechlichen einheimischen Sicherheitsbehörden koordiniert werden. Das erfordert interkulturelles Fingerspitzengefühl. Diese Organisatoren gingen nie mit an Bord, überhaupt traten sie gegenüber den Flüchtlingen selten in Erscheinung. Die wichtigste Kommunikation wurde per Telefon abgewickelt. Für die Abholung der Flüchtlinge aus ihren Unterkünften, dem Transport zu den Stränden und die eigentliche Überfahrt wurden Indonesier eingesetzt. 

Viele indonesische Seeleute wanderten in den Knast

Während die Abfahrten von Indonesiens langen Südküsten verhältnismäßig sicher waren, da die indonesische Marine kaum patrouilliert, drohten beim Erreichen der australischen Gewässer Festnahmen. Oft wurden die Boote bereits auf dem Meer von der australischen Küstenwache aufgehalten. Bootcrews und Flüchtlinge wurden dann getrennt; letztere kamen in Lager, erstere bis zum Beginn der Gerichtsverhandlungen in Untersuchungshaft. Im Laufe der Jahre war die Zahl der Gerichtsverfahren gegen indonesische Seeleute so hoch, dass sich etliche Gerichte in Nordaustralien überfordert sahen. 

Von 2010 bis 2012 wanderten Hunderte indonesische Seeleute, darunter auch viele Minderjährige, in den Knast. Doch der Zahl der Flüchtlinge, die auf Booten nach Australien kamen, tat das keinen Abbruch. Denn die eingesperrten Seeleute aus Indonesien konnten leicht durch neue ersetzt werden, vor allem durch verarmte Fischer. Ihnen mussten die Mittelsleute nur hohe Entlohnungen in Aussicht stellen, und sie waren bereit, Flüchtlinge nach Australien zu bringen und dafür notfalls auch ein paar Jahre ins Gefängnis zu gehen. Denn in australischen Gefängnissen konnten sie – anders als in indonesischen – eine Art Taschengeld verdienen, wenn sie Aufgaben in der Küche oder anderen Bereichen übernahmen, und das hin und wieder an ihre Familien in Indonesien überweisen.

Bereits 2010 wurde der australischen Regierung klar, dass das Wegsperren der vermeintlichen Schleuser wenig Erfolg hatte, und sie forderte Indonesien auf, irreguläre Migration auch dort strafrechtlich zu verfolgen. Anfangs war Indonesien dazu nicht bereit, denn die Kriminalisierung von irregulären Überfahrten bedeutete auch, dass sich die Flüchtlinge dann länger in Indonesien aufhalten würden. Dennoch gab Indonesien 2011 dem Druck nach und erließ ein neues Immigrationsgesetz, welches Schleusen erstmals als Straftat definiert und Haftstrafen zwischen 5 und 15 Jahren sowie erhebliche Geldstrafen dafür vorsieht. Die Straftat ist jedoch äußerst schwammig definiert: Nach indonesischem Recht gehören dazu alle Handlungen – egal ob profitorientiert oder nicht, ob organisiert oder spontan, ob mit gültigen Papieren oder gefälschten Dokumenten –, die darauf abzielen, Personen oder Gruppen, die kein Recht haben, sich in Indonesien aufzuhalten, ins Land oder außer Landes zu bringen. 

Viele Fischer wurden Schleuser

Wer wurde in Indonesien als Schleuser verurteilt? Zwischen 2013 und 2019 habe ich über 140 indonesische Gerichtsurteile ausgewertet und vor Ort Interviews mit verurteilten Schleusern und Flüchtlingen geführt, aber auch mit Polizisten, Staatsanwälten und Richtern. Noch aktive Schleuser habe ich bewusst aus meiner Studie ausgeschlossen, um keine unnötigen Risiken für Fluchthelfer und Flüchtlinge einzugehen – auch wenn die Stichprobe dadurch verzerrt ist.

Das Alter der angeklagten Schleuser reichte von 17 bis 64 Jahre, und in puncto Religion spiegelten sie exakt die Anteile von Muslimen sowie katholischen und evangelischen Christen an der Gesamtbevölkerung Indonesiens wider. Bis auf drei Frauen waren alle Angeklagten Männer. Viele hatten keine Schulabschlüsse, manche waren nach wenigen Jahren Grundschule vermutlich eher funktionale Analphabeten. 90 Prozent der erfassten Schleuser waren indonesische Staatsbürger, die restlichen kamen aus dem Iran, Sri Lanka, dem Irak, Pakistan, Myanmar und Afghanistan. Das überrascht kaum: Während der eigentliche Transport ausschließlich von Indonesiern ausgeführt wird, dominieren andere in den übrigen Tätigkeitsbereichen des Schleusens. 

Viele sind kleine Fischer: Inhaftierte Schleuser in Indonesien im Gefängnis von Rote.

Vor ihrer Verhaftung hatte die absolute Mehrheit der angeklagten Schleuser als Fischer gearbeitet. Die kennen sich nicht nur sehr gut mit langen Bootsfahrten aus, sie bringen oft auch eine hohe Risikobereitschaft mit. Aufgrund von Klimawandel, Überfischung und Missmanagement sind die indonesischen Gewässer zunehmend überlastet und die einheimischen Fischer verarmt und überschuldet. Die zweitgrößte Gruppe waren Selbstständige, was in Indonesien oft eine Beschönigung für Arbeitslose oder Menschen mit unregelmäßigem Einkommen ist. 

Es gab unter den Angeklagten aber auch Angehörige von Militär und Polizei, was darauf hinweist, dass Schleusernetzwerke und korrupte Beamte eng verwoben sind: Unterbezahlte Sicherheitskräfte haben anscheinend neben anderen illegalen Wirtschaftszweigen auch Flüchtlinge und Schleuser als Einkommensquelle für sich entdeckt. Verhaftet wurden nur Beamte der untersten Ränge und stets aufgrund von Konkurrenzkämpfen zwischen Militär und Polizei; es ist aber davon auszugehen, dass höhere Dienstgrade ebenfalls von Schutzgeldern profitiert haben.

Die höchsten Risiken und die geringste finanzielle Entschädigung

In den ersten Jahren nach Erlass des neuen Immigrationsgesetzes in Indonesien war der politische Wille zur Durchsetzung recht hoch. Wie meine Studie zeigt, wurden die allermeisten Angeklagten auch verurteilt, meist zu mehrjährigen Gefängnisstrafen. Viele hatten keinen oder nur unzureichenden Rechtsbeistand, und nur wenige legten Berufung ein. Wenn sie zusätzliche hohe Geldstrafen nicht aufbringen konnten, saßen viele Fischer länger als die Mindeststrafe von fünf Jahren ein, da dies als zusätzliche Gefängnisstrafe abgegolten werden musste. In einigen Fällen hatte die Polizei nicht genügend Beweise für eine Anklage, in anderen Fällen lag die Vermutung nahe, dass keine Anklage erhoben wurde, weil Bestechungsgelder geflossen waren. 

Oftmals wird behauptet, dass das Schleusen von Flüchtlingen ein ungeheuer profitables Unterfangen sei. Nicht so für die Befragten in meiner Studie. Denen waren zwar oft attraktive Löhne in Aussicht gestellt worden, aber eben erst nach erfolgter Überfahrt. Einmal festgenommen, war es ihnen kaum mehr möglich, die ausstehenden Zahlungen einzufordern. Viele Verurteilte waren deshalb als Hauptverdiener nicht mehr in der Lage, ihre Familien finanziell zu unterstützen. Vielmehr waren sie auf deren Hilfe angewiesen, denn ohne Geld droht ihnen in den indonesischen Gefängnissen Mangelernährung. Es war kein Zufall, dass auf eine Verurteilung oftmals die Scheidung folgte, da die verurteilten Männer ihre Familien nicht weiter versorgen konnten. Diejenigen, die die höchsten Risiken auf sich nehmen mussten, hatten die geringste finanzielle Entschädigung erhalten. Und die indonesischen Behörden konnten nur selten der eigentlichen Organisatoren der Überfahrten habhaft werden – und wenn, dann nur mit Hilfe der australischen Kollegen. 

Verhaftungen hatten keine abschreckende Wirkung

Man könnte argumentieren, dass die Verhaftungen zumindest eine beabsichtigte abschreckende Wirkung auf andere haben könnten. Dem war aber nicht so. Viele verurteilte Schleuser erzählten mir, dass sie zum einen nichts von den neuen Gesetzen wussten und zum anderen auch nie zuvor von ähnlichen Fällen gehört hätten. Dieser Informationsmangel machte das Anwerben neuer Schleuser weiterhin leicht. Dass die Zahl der Flüchtlinge, die in Australien ankamen, ab 2014 sank, hatte also nichts mit der Kriminalisierung von Schleusern in Indonesien zu tun, sondern vor allem mit den rechtlich sehr fragwürdigen Zwangsrückführungen von Flüchtlingsbooten durch die australischen Seestreitkräfte, also der Operation „Sovereign Borders“. 

Seit einigen Jahren gehen auch etliche Regierungen von EU-Ländern stärker gegen Schleuser vor. Ihre Maßnahmen treffen immer wieder Zivilisten, Mitglieder von Seenotrettungsorganisationen und Flüchtlinge selbst. Es gibt mehrere Fälle aus Dänemark, wo deutsche Autofahrer syrischen Flüchtlingen eine kostenlose Fahrt über die Grenze angeboten haben und dafür in Eilverfahren zu Strafzahlungen und kurzzeitigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Immer wieder werfen auch italienische Politiker Mitgliedern von Sea-Watch und anderen Seenotrettungsorganisationen vor, nicht nur mit Schleusern in Kontakt zu stehen, sondern sich selbst als Schleuser zu betätigen, wenn sie gerettete Flüchtlinge ans italienische Festland bringen. 

Unwirksame Symbolpolitik

Laut einem im Juli 2023 veröffentlichten Bericht von Borderline Europe waren bereits Anfang 2023 allein in Griechenland mehr als 2150 Personen, 90 Prozent von ihnen Ausländer, wegen des Vorwurfs des Schleusens inhaftiert. Ähnlich wie vor indonesischen Gerichten wird der tatsächlich ausgeübten Funktion der Angeklagten beim Schleusen wenig Beachtung geschenkt – die Gerichte fragen nicht, ob jemand die Überfahrt organisiert oder etwa das Boot gesteuert hat. Die Definition des Schleusens bleibt vage und auch dass damit ein finanzielles Profitinteresse verbunden sein muss, ist aus vielen Gesetzestexten gestrichen worden. Vielen Bootsflüchtlingen drohen weitaus höhere Strafen als europäischen Aktivistinnen und Aktivisten, vor allem wenn die Behörden ihnen vorwerfen, für die Operation verantwortlich gewesen zu sein. Für so einen Vorwurf reicht es unter Umständen schon, am oder in der Nähe des Steuerrads gestanden zu haben.

Ähnlich wie in Australien und Indonesien erweist sich das aber als unwirksame Symbolpolitik. Die Regierungen verschiedener EU-Länder, allen voran Italiens und Griechenlands, möchten zeigen, dass sie hart gegen irreguläre Migration und Schleuserkriminalität vorgehen. Doch das Wegsperren von vermeintlichen Schleusern wird nur wenig Wirkung auf Flüchtlinge haben. Andere bereitwillige Schleuser und Fluchthelfer werden sich finden, ob nun aus Profitinteresse oder aufgrund von humanitären Überzeugungen oder persönlichen Beziehungen zu Flüchtlingen. 

Antje Missbach ist Professorin für Mobilität und Migration an der Universität Bielefeld. 

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Sehr informativer Artikel, der mich über die Hintergründe des "Schleusens" aufgeklärt hat. Danke!

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erschienen in Ausgabe 2 / 2024: Von Fahrrad bis Containerschiff
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