„Ich wusste, entweder ich gehe oder ich sterbe“

Lucio Yaxon hat seinen Vater verloren, als er 13 Jahre alt war - während des Bürgerkriegs in Guatemala wurde er 1995 umgebracht. Ein Jahr später ging der Krieg zu Ende, doch die Gesellschaft ist nach wie vor von Gewalt geprägt. Lucio erhebt dagegen seine Stimme, deshalb musste der Rapper aus Guatemala fliehen.

Als Lucio Yaxon eines Morgens sein Haus in Guatemala-Stadt verlassen will, ist seine Tür mit Blut verschmiert. An einem anderen Tag liegt ein Zettel vor seiner Haustür, auf dem steht: „Pass auf, dass Dir nicht das Gleiche passiert wie Deinen Cousins!" Die drei Cousins wurden 2008 und 2009 entführt, gefoltert und anschließend ermordet. Es ist nicht das erste Mal, dass Yaxon bedroht wird. Immer wieder hatte er unangenehme Anrufe und Begegnungen auf der Straße. Doch jetzt kann er vor Angst nicht mehr schlafen.

Autorin

Saara Wendisch

war bis August 2012 Volontärin bei "welt-sichten".

Das war vor gut zwei Jahren. Nun sitzt er in einem Café in Berlin-Kreuzberg und trinkt Kamillentee. „Ich wusste, entweder ich gehe oder ich sterbe", erzählt Yaxon nüchtern. Bedroht wurde er, weil er öffentlich seine Meinung gesagt und eine Verbindung zwischen Politik, Polizei und der Drogenmafia anprangert hat. „Ich wollte nicht aus Guatemala weg", fügt er hinzu. Aber seine Familie und Freunde drängten ihn schließlich, nach Deutschland zu gehen. Zunächst kam der 27-Jährige in einem Asylbewerberheim in Hessen unter, seit dem Sommer vergangenen Jahres lebt er in Berlin.

Dass er gerade in Deutschland Asyl beantragt hat, liegt an seiner Bekanntschaft mit dem deutschen Filmemacher Uli Stelzner. Yaxon war an dessen Dokumentarfilm „La Isla" beteiligt. Der Film begleitet junge Erwachsene, die in einem Archiv der Militärpolizei nach ihren verschwundenen Eltern suchen. Während des Bürgerkriegs in Guatemala zwischen linken Guerillaorganisationen und der Regierung wurden von 1960 bis 1996 zwischen 150.00 und 250.000 Menschen entführt und ermordet. Erst 2005 wurde in Guatemala-Stadt ein geheimes Archiv mit Dokumenten entdeckt, in denen die Militärpolizei ihre Verbrechen an der Bevölkerung minutiös festgehalten hatte.

Yaxon hat versucht, dort etwas über die Mörder seines Vaters zu erfahren, der einer Guerillaorganisation angehörte. Er war 13, als Bekannte den Vater 1995 tot auf der Straße fanden. Für den Film „La Isla", der 2010 in den deutschen Kinos lief, hat Yaxon den Rapsong „Willkommen in der guatemaltekischen Realität" geschrieben. Darin beklagt er die Straflosigkeit - die führenden Militärs wurden nie für die zahlreichen Morde zur Rechenschaft gezogen. In Guatemala interessiere sich niemand für eine wirkliche Vergangenheitsbewältigung. „Auch der Film wird daran vermutlich nichts ändern", befürchtet Yaxon.

Parallel zu seiner Arbeit im Archiv engagierte sich Yaxon ehrenamtlich für einen kommunalen Radiosender in Sololá nahe des Atitlán-Sees, im südlichen Hochland von Guatemala. Gemeinsam mit seinen Cousins kritisierte er in einer Sendung den offenen Drogenhandel in der Region. Er warf lokalen Politikern und Polizisten vor, mit der Drogenmafia gemeinsame Sache zu machen. „Politiker und Polizisten - alle verdienen sie am Drogenhandel", sagt Yaxon, der in der Region Sololá seine ersten Lebensjahre verbracht hatte und dort später regelmäßig Freunde und Verwandte besuchte. Er wollte nicht länger zusehen, wie immer mehr indigene Jugendliche vom Kokain abhängig oder als Verkäufer angeworben wurden und ihre Zukunft zerstörten.

Die Gewalt in Sololá hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Ein Grund für den florierenden Drogenhandel in der Region ist der Tourismus. Denn der Lago de Attitlán ist ein beliebtes Ziel für junge Weltenbummler und Aussteiger aus den USA und Europa. „Die Drogen werden so günstig verkauft, dass auch die Einheimischen sie kaufen können und davon süchtig werden"; so bleibe die Nachfrage konstant, erklärt Yaxon das Prinzip der lokalen Drogenbanden.

Das größte Geschäft machen die guatemaltekischen Drogenkartelle allerdings mit dem Verkauf von Kokain ins Ausland - Guatemala ist eines der Transitländer zwischen Kolumbien und den USA. Es ist ein offenes Geheimnis, das es genug korrupte Polizisten und Politiker gibt, die sich von der Mafia schmieren lassen. Wer sich kritisch dazu äußert, bekommt Schwierigkeiten. Selbst wenn bekannt ist, wer für Einschüchterungen und Morde verantwortlich ist, gibt es keine Strafverfolgung. „In Guatemala kannst Du niemanden anzeigen. Niemand glaubt Dir", sagt Yaxon. Mehr als 6000 Menschen wurden 2010 in dem mittelamerikanischen Land ermordet oder starben bei Übergriffen. Wenn er gefragt wird, warum es in seiner Heimat so viel Kriminalität und Gewalt gibt, wird Yaxon ärgerlich. „Das liegt auch daran, dass so viele Menschen in Europa und den USA Drogen nehmen", sagt er mit lauter Stimme und schiebt seinen Tee zur Seite.

In Guatemala-Stadt hat Yaxon zuletzt als Streetworker mit jungen Straftätern gearbeitet, die zu den „Maras", den berüchtigten kriminellen Jugendbanden gehören. Mit Kunst und Kultur wollte er sie zum Aussteigen bewegen. Einige schafften es, andere wurden vorher ermordet. Yaxon stört das Bild, das in der Öffentlichkeit von den Maras vermittelt wird. „Natürlich sind sie kriminell, aber niemand spricht darüber, dass manchmal auch die Polizei dahintersteckt", meint er. Einige Bandenmitglieder hätten ihm erzählt, dass sie von Polizisten Mordaufträge erhalten hätten. Aus Perspektivlosigkeit schließen sich viele Jugendliche, die meist aus zerrütteten Familien stammen, den Maras an - die Banden sind für sie eine Ersatzfamilie.

Yaxon, der in ärmlichen Verhältnissen aufwuchs, hätte einer von ihnen werden können. Mit 17 verließ er seine Mutter und seine sechs Geschwister auf dem Land und ging alleine in die Hauptstadt, um Geld zu verdienen. Dort schloss er sich Straßenkindern an und fand zeitweise Arbeit in einer Textilfabrik und auf dem Bau. Bei einer Demonstration lernte Yaxon, der zur Maya-Volksgruppe Kaqchikel gehört, eine Gruppe von Jugendlichen kennen, die sein Schicksal teilten. Alle hatten sie indigene Wurzeln und ihre Eltern während des Bürgerkriegs verloren. Sie waren Mitglieder der „Movimiento de Jóvenes de Mayas" (Bewegung der jungen Mayas), der sich auch Yaxon anschloss. Das war für ihn der Auslöser, sich mehr mit seiner Vergangenheit und der Geschichte Guatemalas zu befassen. Zusammen mit den anderen Jugendlichen veranstaltete er Workshops über Menschenrechte und die Kultur der Mayas.

Später fing er an, seine Gedanken in Form von Gedichten oder Rapsongs aufzuschreiben. Die Musik ist sein Ventil: Seine Texte sind politisch und sehr kritisch - es geht um Korruption, Gewalt und den Widerstand der Maya-Nachfahren gegen die Elite. Er rappt nicht nur auf Spanisch, sondern auch in seiner Muttersprache Kaqchikel. Sein Lied aus dem Film „La Isla" ist bisher die einzige qualitativ gute Aufnahme seiner Musik. Gerne würde er mehr Stücke aufnehmen und seine Lieder nach Guatemala schicken. Doch dafür fehlt ihm bisher das Geld. Von einer Karriere als Rapper in Deutschland träumt er allerdings nicht, auch wenn er schon einige Male aufgetreten ist. Es gehe ihm nicht darum, auf einer Bühne zu stehen und für gute Stimmung zu sorgen. „Die Leute betrinken sich und am nächsten Morgen haben sie sowieso alles vergessen." Dafür seien seine Texte „zu ernst". Derzeit besucht er einen Deutschkurs und danach möchte er eine Ausbildung machen - vielleicht als Zimmermann. Doch eigentlich will er irgendwann nach Guatemala zurückkehren.

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erschienen in Ausgabe 5 / 2011: Die Freiheit des Glaubens
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