Im Lager wird die Heimat zur Fremde

Eine Frau kommt über eine staubige Straße, hinten  niedrige Hütten und junge Männer.
Sirak Eshetu
Monica Niankor auf dem Weg ins Zentrum des Jesuit Refugee Service in Kakuma 2024. Sie ist hier geboren; ihre Mutter ist 1992 aus dem Südasudan geflohen.
Flüchtlinge
In Kenia leben Hunderttausende in großen Flüchtlingslagern, zum Teil schon ihr ganzes Leben. Viele wollen nicht zurück in ihre Herkunftsländer und fühlen sich als Kenianer, doch die Regierung tut kaum etwas, sie im Land zu integrieren.

Seit mehr als drei Jahrzehnten leben Flüchtlinge in Kenia sehr lange Zeit in Lagern wie Kakuma und Kalobeyei im Nordwesten des Landes sowie Dadaab im Osten an der Grenze zu Somalia. Die kenianische Regierung und das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR sagen, dass es zu wenig Plätze für die Ansiedlung in anderen Ländern gebe, dass die globale Flüchtlingssituation dynamisch sei und dass Sicherheitsbedenken eine sichere Rückführung verhindern. Die Folge ist, dass die Flüchtlinge weiter in den Lagern ausharren müssen, ohne Aussicht auf eine dauerhafte Lösung wie die Umsiedlung in ein anderes Land (Resettlement), die Rückkehr nach Hause oder die Integration in Kenia.

Mohammed Hassan aus Somalia, 2019 Vizevorsitzender des Weltwirtschaftsforums in Davos, erzählte bei dem Treffen in der Schweiz von seinem Leben im Lager Kakuma, wo er über 20 Jahre verbracht hat: „Die Menschen hören das Wort Flüchtlinge und denken, dass es nur um unmittelbare Probleme geht, vor denen die Menschen fliehen und sofortigen Schutz brauchen. Aber was passiert mit den vergessenen Flüchtlingen – mit denen, die seit Jahrzehnten in den Lagern leben? Man spricht lieber nicht über uns und tut so, als gäbe es uns nicht.“

Geflohene aus vielen Kriegen

Das Lager Kakuma im Nordwesten Kenias an der Grenze zu Südsudan wurde 1992 nach der Ankunft der sogenannten Lost Boys of Sudan – der verlorenen Jungs des Sudan – eingerichtet, einer Gruppe unbegleiteter Minderjähriger, die vor dem Krieg im Sudan geflohen waren. Im selben Jahr kamen nach dem Sturz der äthiopischen Regierung große Gruppen äthiopischer Flüchtlinge an. Außerdem herrschte in Somalia Bürgerkrieg, was viele dazu veranlasste, in Kakuma Zuflucht zu suchen.

Im Jahr 2016 richtete der UNHCR zusammen mit der kenianischen Regierung die integrierte Siedlung Kalobeyei ein, die nur wenige Kilometer von Kakuma entfernt liegt. Sie ist Teil des Flüchtlingslagers Kakuma und wird nach demselben Konzept betrieben; sie zielt darauf ab, Kakuma zu entlasten und die Integration der Geflüchteten mit der kenianischen Gemeinde zu fördern. Laut UNHCR leben in Kakuma und Kalobeyei mehr als 295.000 Flüchtlinge und Asylsuchende. Die meisten von ihnen stammen aus Somalia, Südsudan, der Demokratischen Republik Kongo, Äthiopien, Burundi, Sudan, Uganda, Eritrea und Ruanda.

Monica Niankor ist im Lager geboren

Monica Niankor aus Südsudan gehört zu denen, deren Familien 1992 in Kakuma ankamen. Sie ist im Flüchtlingslager geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. „Ich bin schon mein ganzes Leben hier, seit 25 Jahren. Ich kenne mein Heimatland nicht, ich war noch nie dort. Das Leben hier war nicht einfach, und es sieht nicht so aus, als ob das UNHCR uns bei der Übersiedlung in ein anderes Land hilft. Wir sind einfach hier, und ich frage mich ständig, warum.“ Sie hofft, dass sich eines Tages etwas zugunsten der Flüchtlinge ändert, vor allem für die, die schon sehr lange in Kakuma sind. 

Niankor arbeitet in Kakuma seit über vier Jahren für den Lutherischen Weltbund als Lehrerin. Obwohl sie so nicht viel verdient, ernährt sie damit ihre Familie, ihre Großmutter, ihre Mutter und ihre drei Geschwister. Das sei nicht einfach, aber sie versuche zurechtzukommen. Allerdings würden Flüchtlinge schlechter bezahlt als kenianische Kollegen, und ihre Qualifikationen würden weniger anerkannt. „Die meisten meiner Flüchtlingskollegen haben einen Master-Abschluss, andere haben einen Bachelor, der über einige der Qualifikationen der Kenianer hinausgeht. Aber sowohl die kenianische Regierung als auch das UNHCR wollen nicht, dass wir mit den Bürgern dieses Landes gleichgestellt werden. Wenn ich die Qualifikationen habe und sie wissen, dass ich für einen Job geeignet bin, dann habe ich ihn auch verdient. Aber hier im Lager funktioniert das nicht so. Ich weiß nicht, warum.“

Bildungszugang, aber wenig zu Essen

Gut sei in Kakuma, dass man hier Zugang zu Bildung habe und dass es gute Kommunikationsmöglichkeiten gebe. Andererseits würden für die Flüchtlinge wegen der vielen Neuankömmlinge vom UNHCR die monatlichen Lebensmittelrationen gekürzt. Niankor drückt es so aus: „Wenn du nichts hast, worauf du zurückgreifen kannst, dann kannst du hier genauso gut verhungern.“ Für die Flüchtlinge ist das ein großes Problem, da sie keine verlässlichen Einkommensquellen haben. „Die meisten, selbst wenn sie die Sekundarstufe II abgeschlossen haben, haben keine Arbeit und sind nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen“, sagt Niankor. Die Lebensmittelration des UNHCR für eine Familie sei nach zwei Wochen aufgebraucht, obwohl sie für einen Monat reichen sollte. In Kalobeyei hat sich eine Mutter von zehn Kindern aufgrund der harten Bedingungen im Lager das Leben genommen.

Niankors Unterkunft ist mit Lehmziegeln gebaut und ist ihrer Meinung nach „gar nicht so schlecht“. Aber wenn es stark regnet und sich das Wasser in ausgetrockneten Flussbetten sammelt, kann es zu Überschwemmungen kommen und die Häuser wegspülen. Niankor sagt außerdem, dass die medizinischen Einrichtungen für die Flüchtlinge in Kakuma nicht mehr ausreichten und es zu wenig Medikamente gebe.

Ins Umland nur mit Genehmigung

Auch sei die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge in Kakuma eingeschränkt. Um das Lager zu verlassen, benötigt sie eine vom Lagerleiter ausgestellte Reisegenehmigung. Das Papier enthält ihre Daten, den Grund der Reise, das Reiseziel und die Gültigkeitsdauer. Sie muss diese Genehmigung vorzeigen, wenn sie außerhalb des Lagers unterwegs ist, insbesondere wenn sie von der Polizei angehalten wird. Die Flüchtlinge können so außerhalb des Lagers nicht nach besseren Beschäftigungsmöglichkeiten suchen, Handel oder Landwirtschaft betreiben. Arbeitserlaubnisse werden sehr selten erteilt, auch wenn es derzeit so aussieht, dass sich das ändern könnte, da einige Anträge in Bearbeitung sind.

Das kenianische Flüchtlingsgesetz aus dem Jahr 2021 räumt Flüchtlingen das Recht ein, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, Ausweis- und Meldepapiere zu erhalten und sich in bestimmten Gebieten frei zu bewegen. Mit dem Gesetz wurde auch ein Plan beschlossen, die Lager in integrierte Siedlungen umzuwidmen, die kenianischen Kommunen und mit ihnen die sozioökonomische Integration der Flüchtlinge zu fördern. Bislang ist aber kaum etwas in dieser Richtung passiert. Die Regierung begründet die Verzögerung nicht, doch die Flüchtlinge vermuten, dass ihr das Geld fehlt oder dass sie fürchtet, eine größere Bewegungsfreiheit und die Integration von Flüchtlingen könnte sich nachteilig auf die Sicherheitslage auswirken.

Im Grunde Kenianer ohne Rechte

In der Praxis bedeutet die kenianische Flüchtlingspolitik, dass sich die Flüchtlinge auf die ausgewiesenen Lager wie Kakuma oder Dadaab beschränken. In Nairobi und anderen kenianischen Städten leben weniger als zehn Prozent der gesamten Flüchtlingsbevölkerung in Kenia. 

Obwohl der UNHCR sich bemüht, frustriert Menschen wie Monica Niankor der mangelnde Fortschritt, den Flüchtlingen in Kakuma eine Perspektive zu geben. Sie erwartet vom UNHCR entweder eine Neuansiedlung in einem anderen Land oder die Integration in Kenia. Eine solche Integration fände sie gut, wenn denn die Flüchtlinge die gleichen Chancen wie die einheimischen Kenianer erhielten. „Diejenigen, die hier geboren wurden, wie ich, betrachten sich als Kenianer“, sagt sie. „Ich habe meine gesamte Kindheit in Kenia verbracht und weiß nichts über mein Land Sudan. Ich fühle mich also als eine Kenianerin ohne Papiere.“ Niankor und ihre Mutter erklären, wie sich ihr langer Aufenthalt in Kakuma auf ihre sudanesische Kultur und ihre Normen auswirkt. Sie fragen sich, wie sie mit ihrem Volk zurechtkommen, wenn sie eines Tages nach Hause zurückkehren.

Aber nicht nur die Neuansiedlung in anderen Ländern verläuft sehr schleppend, sondern auch die Rückführung von Flüchtlingen in ihre Heimatländer. Nur wenige Nationalitäten sind für solche Repatriierungsprogramme registriert, Niankor und ihre Familie gehören nicht dazu. Der Grund dafür ist, dass das UNHCR zunächst die Sicherheit der Heimatländer bewerten, Geld für die Rückkehrer bereitstellen und die Zustimmung der Herkunftsländer zur Aufnahme und Unterstützung der Flüchtlinge einholen muss. Leider sind diese Bedingungen für die meisten Nationalitäten nicht erfüllt. Nur für Flüchtlinge aus Burundi haben der UNHCR sowie die kenianische und die burundische Regierung aufgrund einer besonderen Vereinbarung eine Rückführung vereinbart. Sie begann 2017, wurde während der Covid-Pandemie unterbrochen und danach fortgesetzt.

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Mohammed Hassan erklärte 2019 in Davos: „Flüchtlingslager sind nicht ethisch, sie sind nicht nachhaltig, sie sind nicht angemessen und sie sind nicht förderlich für die menschliche Entwicklung. Geld, Kapital und Waren bewegen sich sehr leicht um die Welt, Menschen aber seit Jahrzehnten nicht.“ Flüchtlinge wie er hätten großes Potenzial und die Fähigkeit, mehr zu erreichen, wenn sie Zugang zu Chancengleichheit und zu höherer Bildung mit anerkannten Abschlüssen hätten.

Monica Niankor aus dem Sudan sagt abschließend über das Leben in den verschiedenen Gemeinschaften in Kakuma: „Das Zusammenleben mit meinen Mitflüchtlingen aus verschiedenen Ländern ist wirklich toll. Es macht Spaß, weil man sich austauschen und mehr über sie erfahren kann. Vielleicht war es Gottes Plan, dass wir hierherkommen, uns treffen und austauschen, damit wir etwas zu erzählen haben, wenn wir in unsere eigenen Länder zurückkehren.“

Aus dem Englischen von Tillmann Elliesen.

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