Die amtierende brasilianische Regierung von Präsident Lula da Silva war kaum eine Woche im Amt, als sie am 8. Januar 2023 mit Gewalt gestürzt werden sollte. Mit von Großgrundbesitzern, Politikern und Kirchenvertretern finanzierten Bussen reisten an diesem Tag rund 4000 sogenannte Bolsonaristas – Anhänger des von Lula besiegten rechtsradikalen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro – aus ganz Brasilien in die Bundeshauptstadt Brasilia. Von untätigen Sicherheitskräften beobachtet überfiel die Menge den Regierungssitz, das Parlament sowie den Obersten Gerichtshof, zertrümmerte dort Mobiliar, Kunstgegenstände und elektronische Ausrüstung im Wert von 20,7 Millionen Real (rund 3,8 Millionen Euro). Begleitet wurde der Überfall von Chören und Transparenten der Bolsonaristas, die den Wahlsieg Lula da Silvas infrage stellten und zu einem Militärputsch aufriefen.
Von den rund 4000 Randalierern, die selbst konservative Medien wie die mächtige Zeitungs- und TV-Gruppe O Globo als „Terroristen“ bezeichneten, wurde rund die Hälfte festgenommen. Dutzende von ihnen wurden bis Mitte 2024 angeklagt und wegen Angriffs auf den Rechtsstaat, Putschversuchs und schwerer Sachbeschädigung zu teils 17-jährigen Haftstrafen verurteilt. Ermittlungen der Bundespolizei ergaben, dass Militärs aus Heer, Luftwaffe und Marine, insbesondere in die Politik gewechselte Generäle, die der Regierung Bolsonaro angehörten, sowie der militarisierten Bereitschaftspolizei an dem Umsturzversuch beteiligt waren.
Bischof wettert gegen den Obersten Gerichtshof
Doch auch Pastoren und Bischöfe evangelikaler Kirchen spielten eine aktive Rolle. Festgenommene Gewalttäter behaupteten, ihre Kirchenvorstände hätten sie dazu angestiftet und Buskonvois nach Brasilia bezahlt. Als Beispiele wurden in Verhören der Bundespolizei, zu denen brasilianische Medien Zugang hatten, die „Erneuerte Presbyterianische Kirche“, die „Baptistenkirche“ und die Kirche „Versammlung Gottes“ genannt.
Wenige Tage nach dem Putschversuch kritisierte Silas Malafaia, der einflussreichste evangelikale Bischof Brasiliens und Vorsitzender der Kirche „Versammlung Gottes im Siege Christus“, die Verhaftungen und ging zum Angriff auf den Obersten Gerichtshof über. Menschen „ohne rechtliche Grundlage festzunehmen“ sei „undemokratisch”, sagte Malafaia, der mit einem Millionenvermögen als der zweitreichste Bischof Brasiliens gilt, nach Edir Macedo, dem Vorsitzenden der „Universellen Kirche vom Reiche Gottes“, dem der zweitgrößte brasilianische Fernsehsender SBT gehört und dessen Vermögen auf mehr als zwei Milliarden US-Dollar geschätzt wird.
Malafaias Rolle beim Umsturzversuch und in der rechtsradikalen politischen Szene innerhalb des evangelikalen Spektrums gleicht einer Kampfansage an den demokratischen Rechtsstaat. Auf dem Höhepunkt des Wahlkampfes Ende 2022 hatte der Bischof beispielsweise von seinen Gemeinden Gebete zum Boykott der elektronischen Wahlmaschinen gefordert, mit denen Wahlbetrug zugunsten Lula da Silvas betrieben werden solle. Damit reihte sich der Bischof in die von Bolsonaro und einigen seiner Generäle betriebene Kampagne zur Diskreditierung der brasilianischen Wahlurnen ein, die allerdings weltweit – vom Carter Center bis zu den Vereinten Nationen – für ihre Sicherheit und Effizienz gelobt wurden.
"Bösartige Intrige" gegen Bolsonaro
Gut ein Jahr später ging der Bischof dann zur offenen Attacke auf Richter Alexandre de Moraes über, der als Mitglied des Obersten Gerichtshofs von Mitte 2022 bis Mitte 2024 auch als turnusmäßiger Vorsitzender des Obersten Wahlgerichts amtierte. De Moraes geht zudem seit 2019 gegen rechtsradikale Falschnachrichten in sozialen Netzwerken vor. Auf einer Kundgebung Ende Februar 2024 in der Zwölfmillionenmetropole São Paulo, bei der 185.000 Demonstranten gegen die Ermittlungen von de Moraes gegen Jair Bolsonaro wegen Rädelsführung beim Staatsstreichversuch protestierten, rief Malafaia der Menge zu, er werde die „bösartige Intrige“ gegen Bolsonaro enthüllen. Bolsonaro hatte unter Androhung einer Festnahme nicht zu der Kundgebung aufrufen dürfen, also übernahm das Bischof Malafaia, der die Veranstaltung außerdem finanzierte.
Auf einer weiteren Kundgebung in São Paulo Anfang September 2024 forderte der Bischof mit den Worten „Verbrecher gehören ins Gefängnis!“ die Amtsenthebung und Verhaftung de Moraesʼ sowie die Amnestierung des noch nicht angeklagten Bolsonaros und seiner in Haft sitzenden Anhänger. Zwar wurden Ermittlungen gegen Malafaia wegen antidemokratischen Angriffen auf die Justiz eingeleitet, doch auf eine Festnahme verzichtete die Justiz bislang. Malafaias Forderung nach einer Amtsenthebung des Richters dürfte im zuständigen Senat kaum Aussicht auf Erfolg haben.
USA wollten evangelikale Konfessionen fördern
Doch wie kommt es, dass die evangelikale Kirchenszene in Brasilien so mächtig ist und mittlerweile derart unverhohlen rechtsradikale Positionen vertritt? Die Ursprünge dieser Entwicklung reichen mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Im Auftrag von US-Präsident Richard Nixon unternahm im Jahr 1969 der damalige New Yorker Gouverneur Nelson Rockefeller eine Tour durch lateinamerikanische Länder, auf der die USA als Vorbild in Sachen Entwicklung und Freiheit sowie als „Beschützer vor dem Kommunismus“ gepriesen werden sollten. In seinem Abschlussbericht empfahl Rockefeller der US-Regierung und dem Geheimdienst CIA, in Lateinamerika evangelikale Konfessionen zu fördern. Als Begründung nannte Rockefeller, dass der Katholizismus sich zum „gefährlichen Zentrum potenzieller Revolution“ entwickelt habe; womit er die damals aufstrebende progressive Theologie der Befreiung meinte. Die private Rockefeller Foundation förderte fortan Gemeinden der Mormonen und der Zeugen Jehovas in Lateinamerika. Auch der US-Kongress blieb nicht untätig und bewilligte Millionen von US-Dollar für die Entsendung von evangelikalen Missionen und den Bau von Tempeln und Kirchen.
Traditionelle evangelische Konfessionen und Reformationskirchen wie die Lutherische oder die Presbyterianische Kirche haben ihre Wurzeln in der Migration von Europa nach Brasilien im 19. Jahrhundert; sie haben das gesellschaftliche und politische System des Gastlandes selten infrage gestellt. Anders die als Folge des Rockefeller-Reports ab Ende der 1970er Jahre erstarkende evangelikale Szene neopentekostaler Prägung: Zu ihrer Doktrin zählten und gehören bis heute die sogenannte Wohlstandstheologie, die Förderung von „Unternehmergeist“ und eine Agenda zur Errichtung eines theokratischen Staates.
Aggressive Dauerkampagne gegen die Rechte von Frauen
Einer der ersten Nutznießer der Rockefeller-Offensive in Brasilien war der ehemalige öffentliche Angestellte und spätere Bischof Edir Macedo, der 1977 die „Universelle Kirche vom Reich Gottes“ gründete. Ihm folgten zahlreiche Konfessionen und Sekten mit schillernden, oft nach Macht strotzenden Namen, darunter die „Weltweite Kirche der Macht Gottes“ oder die „Evangelische Gemeinde Heile unser Land“. Mehr als die Hälfte aller christlichen Tempel und Kirchen in Brasilien gehört mittlerweile zu neopentekostalen Konfessionen; jeden Tag schießen neue aus dem Boden.
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Mit moralisierenden Parolen definiert sich die evangelikale Szene als „Vorhut zum Schutz der Werte Gottes und der Familie“. Jair Bolsonaros Regierungsdevise lautete: Brasilien über alles, Gott über allen. Von Kirchenkanzeln wird seit den ersten beiden progressiven Regierungen Lula da Silvas von 2003 bis 2010 eine lautstarke und aggressive Dauerkampagne gegen die Rechte von Frauen, etwa auf Abtreibung nach einer Vergewaltigung, der indigenen und afrobrasilianischen Bevölkerung sowie von sexuellen Minderheiten geführt.
Zugleich wuchs der Appetit, aktiv in der Politik mitzumischen. So haben die evangelikalen Konfessionen mittlerweile einen starken politischen Arm: Mit 132 von 513 Sitzen bildet die Evangelikale Fraktion (FPE) seit den Wahlen Ende 2022 die zweitstärkste Fraktion im brasilianischen Parlament. Davor liegt mit 324 Abgeordneten die Parlamentarische Front für Landwirtschaft und Viehzucht (FPA), während die Arbeiterpartei von Präsident Lula da Silva gerade mal 69 Abgeordnete zählt.
Rechtsradikale Evangelikale bestimmen den Kurs in sozialen Netzwerken
Absolute Vorherrschaft haben rechtsradikale Evangelikale in Brasilien auch in sozialen Netzwerken. Laut einer von der Heinrich-Böll-Stiftung finanzierten Studie eines Forschungsteams der Bundesuniversität Rio de Janeiro gehören acht der zehn einflussreichsten rechtsextremen Autoren in Netzwerken wie X zur evangelikalen Szene. Die Untersuchung verweist auf jüngste statistische Erhebungen, wonach sich etwa 30 Prozent der 230 Millionen Einwohner zählenden brasilianischen Bevölkerung im erweiterten Sinne als evangelisch bezeichnen. Davon macht die rechtsextreme evangelikal-neopentekostale Fraktion zwar kaum mehr als zehn Prozent aus. Doch diese radikale Minderheit hat laut der Studie umfassenden Zugang zu brasilianischen Medien und finanziellen Ressourcen und ist international gut vernetzt. Angeführt vom Parlamentsabgeordneten Eduardo Bolsonaro, einem Sohn des zum Evangelikalen bekehrten Ex-Präsidenten, pflegen die extremistischen Evangelikalen ausgezeichnete Verbindungen zur rechtsextremen Szene der USA unter Führung von Donald Trumps Ex-Berater Steve Bannon sowie zur faschistoiden spanischen Vox-Partei.
Früher genossen die Rechtsextremen in Brasilien weder Popularität noch verfügten sie über einen gesellschaftlichen Unterbau, weil sie die Militärdiktatur von 1964 bis 1985 und deren Verbrechen verherrlichten und von Skinheads und Neonazis unterstützt wurden. Das änderte sich mit der Hinwendung zur Religion: „Die Evangelikalen bilden heute eine gesellschaftliche Massenbasis für die rechtsextreme Bewegung“, warnt Politikwissenschaftler Joanildo Burity, einer der Autoren der von der Böll-Stiftung finanzierten Studie.
Privatarmee der Universellen Kirche
Unterdessen treibt Bischof Edir Macedo von der „Universellen Kirche vom Reich Gottes“ seit einigen Jahren ein Programm mit dem Kürzel UFP voran: „(Igreja) Universal nas Forças Policiais“, die „Universelle Kirche in den Polizeikräften“. In einem Video der UFP aus dem Jahr 2019 heißt es, man habe fast eine Million Polizisten und Familienmitglieder mit Vorträgen, Veranstaltungen, Frühstücken, Gruppengebeten und Segnungen erreicht und fast eine halbe Million „Bibeln und Literatur“ gespendet. Die Kirche behauptet, sie wolle den Uniformierten das seelsorgerische Evangelium nahebringen. Zum Dank bildeten Beamte der militarisierten Bereitschaftspolizei eine Privatarmee der Universellen Kirche aus, der viele Polizisten als Freiwillige angehören. Das ist die religiöse Macht mit der Waffe in der Hand. Passend dazu forderten evangelikale Pastoren 2023 mit Verweis auf die Bibel, den privaten Besitz von Schusswaffen wieder zu erlauben. Die Regierung Bolsonaro hatte 2019 ein entsprechendes Verbot aufgehoben, mit der Folge, dass sich die privaten Waffenkäufe bis zum Jahr 2022 fast verfünffachten. Bolsonaros Nachfolger Lula da Silva hat die Gesetzesänderung 2023 wieder weitgehend zurückgenommen.
Fern des Geschehens betätigt sich Bischof Macedo in seinem Luxuspenthouse im US-amerikanischen Miami als „spiritueller Buchautor“ und liefert die argumentativen Grundlagen für das rechtsradikal-evangelikale Bündnis. Bereits vor 16 Jahren veröffentlichte er das Buch „Plano de Poder“ – Plan zur Macht –, ein knallhartes politisches Handbuch, das sich nicht auf religiöse Anleitungen beschränkt, sondern zum Widerstand, zur Machtübernahme und zum Aufbau eines autoritären theokratischen Staates aufruft.
Lula da Silva muss die Evangelikalen zurückgewinnen
Lula da Silva ist bemüht, den Kontakt zur evangelikalen Szene nicht abreißen zu lassen. Dem Präsidenten und seinen Beratern ist bewusst, dass die Arbeiterpartei PT mitverantwortlich für die evangelikale Offensive ist, indem sie ihre frühere soziale und politische Basis insbesondere in den armen Vorstädten Brasiliens vernachlässigt und das Vakuum den neopentekostalen Konfessionen und Tempeln überlassen hat. Lula da Silva muss also die soziale Basis seiner Partei in Brasiliens Vorstädten zurückerobern.
Gelingen könnte das vor allem im Dialog mit Frauen, denn Untersuchungen zeigen, dass bei den Wahlen 2022 ein Teil der evangelikalen Frauen für Lula da Silva und nicht für Bolsonaro stimmte. Nach Empfinden vieler zumeist armer Wählerinnen war Bolsonaros Amtszeit unvereinbar mit christlichen Werten. Der Ex-Präsident warf und wirft mit Schimpfworten um sich und respektierte weder die Würde seines Amtes noch das menschliche Leben. Ständig beleidigte er Frauen in der Öffentlichkeit, etwa indem er ihnen das Recht auf gerechte Entlohnung ihrer Arbeit aberkannte oder sich gleichgültig gegenüber häuslicher Gewalt zeigte, unter der Millionen Brasilianerinnen leiden.
Doch Lula da Silvas Regierung muss ein weiteres Handicap überwinden: Sie muss den armen und evangelikalen Gemeinden ihre wirtschaftlichen Erfolge und Sozialprogramme besser erklären. Laut Umfragen lehnen derzeit 40 Prozent der Bevölkerung die Wirtschafts- und Sozialpolitik Lula da Silvas ab. Das bedeutet, dass die Nutznießer die Erfolge nicht wahrnehmen oder von rechtsradikalen Fake News in die Irre geführt werden.
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