Sich abwählen lassen ist keine Option

Getty Images/Alexandre Schneider
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro bei einer Demonstration in Sao Paulo am 7. September 2021: "Gott hat mich in diese Position gebracht, und nur Gott wird mich absetzen“, sagte er kürzlich.
Brasilien
Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro verliert immer mehr an Rückhalt – und will um jeden Preis verhindern, dass er abtreten muss. Droht der größten Demokratie Lateinamerikas ein Staatsstreich?

Jair Bolsonaro, der parteilose Präsident Brasiliens, hat sein politisches Schicksal bei einer Zusammenkunft mit Kirchenführern im vergangenen August im Bundesstaat Goiás so umrissen: „Es gibt drei Möglichkeiten für meine Zukunft: Gefängnis, Tod oder Wahlsieg. Sie können sicher sein, dass die erste Möglichkeit keine Option ist.“ Ohne Gesichtsmaske, die in Brasilien – einem der am schlimmsten von Corona betroffenen Länder der Welt – eigentlich vorgeschrieben ist, verkündete er: „Gott hat mich in diese Position gebracht, und nur Gott wird mich absetzen.“

Die schrillen Töne des populistischen Präsidenten offenbaren die Krisenstimmung im Palácio do Planalto, dem Sitz der brasilianischen Regierung. Bolsonaro begann seine politische Karriere mit der Wahl in den Stadtrat von Rio de Janeiro im Jahr 1988 und schied damit aus dem aktiven Armeedienst aus (er war Hauptmann der Reserve). Die Wahl zum Staatspräsidenten gewann er 2018 mit dem Versprechen, der Korruption ein Ende zu setzen und die traditionellen Familienwerte zu retten. Aber mittlerweile laufen gegen ihn fünf Ermittlungsverfahren des Obersten Gerichtshofs und des Obersten Wahlgerichts.

15 Millionen Arbeitslose - so viele wie nie zuvor

Eines betrifft den Vorwurf der systematischen und organisierten Verbreitung von Falschinformationen mit dem Ziel, die staatlichen Institutionen und die Demokratie zu schwächen. Unter anderem wird Bolsonaro angelastet, Hassrede verbreitet und zur Behandlung von Corona Medikamente empfohlen zu haben, die nicht auf ihre Wirksamkeit geprüft sind. Gegenstand eines anderen Verfahrens ist, dass Bolsonaro bei Regionalwahlen in diesem Jahr ohne Belege Zweifel an den elektronischen Abstimmungsinstrumenten geschürt hat, um das Wahlsystem in Misskredit zu bringen.

Der Präsident, der seit Januar 2019 regiert, steht auch sozialen und ökonomischen Problemen gegenüber: 15 Millionen Brasilianererinnen und Brasilianer sind inzwischen arbeitslos, so viele wie nie zuvor in der Geschichte des Landes. Laut einer Studie des Brasilianischen Forschungsnetzwerks für Ernährungssicherheit (Rede PENSSAN) vom April 2021 leiden von den gut 215 Millionen Menschen im Land 19 Millionen oft Hunger; für die Hälfte der Bevölkerung ist ihre Ernährung mehr oder weniger unsicher. Hinzu kommen die Inflation, hohe Lebensmittel- und Benzinpreise sowie Stromausfälle aufgrund von Betriebsproblemen in den Wasserkraftwerken.

Die Hälfte der Brasilianer hält die Regierung für schlecht

Ein Stofftaschentuch für jeden Toten: Die NGO Rio de Paz erinnert am Copacabana-Strand von Rio de Janoiro an die 600.000 Menschen, die an Corona gestorben sind.
Schließlich sind unter dem Präsidenten bereits 590.000 Menschen an Covid-19 gestorben. Seine Regierung verweigert sich geeigneten Schutzmaßnahmen, hintertreibt die von Gouverneuren der Bundesstaaten erlassenen Maßnahmen zur Kontaktreduzierung und wird der Korruption bei der Beschaffung von Impfstoffen beschuldigt. Inzwischen sammelt ein Corona-Untersuchungsausschuss im Bundessenat hierzu Material und führt Anhörungen durch.

Aus all diesen Gründen hat Bolsonaro nach 1000 Tagen im Amt die zweitniedrigste Zustimmungsrate aller Präsidenten seit Brasiliens Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1985. Laut der jüngsten repräsentativen Umfrage des Instituts Ipec vom September 2021 halten 53 Prozent der Befragten die Regierung von Jair Bolsonaro für „schlecht“ oder „sehr schlecht“, 23 Prozent bewerten sie als „durchschnittlich“ und 22 Prozent finden die Regierung Bolsonaros „gut“ oder „ausgezeichnet“. „Nur 22 Prozent Zustimmung sind noch schlimmer als 53 Prozent Ablehnung“, sagt Mara Telles, Politikwissenschaftlerin und Professorin an der Bundesuniversität von Minas Gerais. „Wie er es schafft, sich im Amt zu halten? Er weiß die Mehrheit im Parlament hinter sich, und der Finanzsektor, dem er Privatisierungen, den Abbau von Sozialleistungen und die Verschlankung des Staats versprochen hat, unterstützt ihn.“

Hunderte Gesuche wegen Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro

Der brasilianische Nationalkongress – das aus zwei Kammern bestehende Parlament – hat schon über 100 Gesuche von Oppositionspolitikern und Bürgerrechtsgruppen erhalten, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro einzuleiten. Das ist nach brasilianischem Recht nur im Fall einer Verletzung der Amtspflichten möglich. Die liegt zum Beispiel vor, wenn Amtsträger sich weigern, Maßnahmen in ihrer Verantwortung zu ergreifen oder die Würde und das Ansehen ihres Amtes schwer schädigen. Beides ist Bolsonaro schon mehrfach nachgewiesen worden, insbesondere für die Tatenlosigkeit der Regierung gegenüber der Corona-Pandemie. Trotzdem hat das Parlament bislang kein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet. 

„Der Bruch der geltenden Regeln begann in Brasilien 2016 mit dem Amtsenthebungsverfahren des Parlaments gegen Präsidentin Dilma Rousseff”, erklärt Mara Telles. „Das war ein Staatsstreich von innen, denn es lag keine Verletzung der Amtspflichten vor; der Beweis dafür ist, dass keinerlei Ermittlungen gegen sie aufgenommen wurden. Die Demokratie stirbt, wenn die Missachtung ihrer Regeln normal wird. Das passiert schleichend, wenn die Gesellschaft Regelverstöße zur Norm macht und Ränkespiele außerhalb der demokratischen Regeln akzeptiert.”

"Aggressiv und gefährlich für die Demokratie“

Seit Bolsonaro an der Macht ist, lautet seine politische Devise: „Na und?“ Diese Antwort gab der Präsident im April 2020 tatsächlich auf die Frage eines Journalisten nach dem rasanten Anstieg der Corona-Todesfälle im Land. Bolsonaro gehört zu keiner politischen Partei, er schmiedet keine Bündnisse, diskutiert keine politischen Ideen und präsentiert keine Projekte. Nur um dem Amtsenthebungsverfahren zu entgehen, hat er einen Großteil der Macht an Kongressabgeordnete des politischen Zentrums abgegeben. So wurde er zusammen mit dem Rest der Bevölkerung zu deren Geisel: Da Bolsonaro mit keiner politischen Partei verbunden ist, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich die Zustimmung der Parteien des Zentrums mit Begünstigungen zu erkaufen.
„Je tiefer seine Umfragewerte sinken, desto stärker gerät er in die Isolation. Teile der Wirtschaft, der Politik und der Zivilgesellschaft wollen ihn nicht mehr unterstützen. Das macht ihn noch aggressiver und gefährlicher für die Demokratie“, sagt die Soziologin Kelli Maforte von der Bewegung der Landlosen (MST), der größten sozialen Bewegung des Landes. Laut Maforte sind Teile der Bevölkerung sexistisch und rassistisch eingestellt und hegen Vorurteile gegenüber LGBT-Personen. Sie halten Bolsonaro die Treue, weil er solchen Haltungen eine Stimme gibt.

Um Stärke zu demonstrieren, hat Bolsonaro zum diesjährigen Nationalfeiertag am 7. September, an dem der Unabhängigkeitserklärung gegenüber Portugal im Jahr 1822 gedacht wird, zu einer Demonstration seiner Anhänger in mehreren Städten aufgerufen. Die Hauptkundgebungen fanden in der Hauptstadt Brasília und in São Paulo statt, der größten Stadt des Landes. Der Präsident erwartete nach eigenen Aussagen 2 Millionen Menschen allein auf der Avenida Paulista in São Paulo, der wichtigsten Bühne für politischen Protest im Land. Aber es folgten laut Angaben der Sicherheitsbehörden nur 140.000 Menschen dem Aufruf – hauptsächlich Angehörige der Elite, der evangelikalen Kirchen sowie Lastwagen- und Motorradfahrer. Zu letzteren beiden Gruppen gehören viele konservative Männer mit sexistischen und homophoben Tendenzen. 

Bolsonaro gegen den Obersten Gerichtshof

Alexandre de Moraes hat als Richter des Obersten Gerichtshofs mehrere Untersuchungen gegen Bolsonaro angestrengt. Der Präsident fordert deshalb seine Absetzung.
Eine Forderung auf den Veranstaltungen war, den Obersten Gerichtshofs aufzulösen, dem Bolsonaro vorwirft, die von seiner Regierung beschlossenen Maßnahmen zu blockieren. Verlangt wurde auch, zu Stimmzetteln aus Papier zurückzukehren; seit 1996 wird in Brasilien an elektronischen Wahlmaschinen abgestimmt. In Brasília versuchten einige Gruppen sogar, das Gebäude des Obersten Gerichtshofs zu stürmen, und bedrohten Gegendemonstranten. „Die Parolen enthielten kaum konkrete Forderungen. Es ist aber sehr bezeichnend, dass so viele Brasilianer bereit sind weit zu reisen, um eine Absetzung der Richter des Obersten Gerichtshofs, die Erstürmung des Nationalkongresses und die Übertragung aller Macht auf Bolsonaro zu fordern. Das war die größte Demonstration gegen die Demokratie bisher“, sagt Kelli Maforte.

Von einem Lautsprecherwagen aus verkündete Bolsonaro sogar, Entscheidungen von Richter Alexandre de Moraes vom Obersten Gerichtshofs „wird dieser Präsident nicht mehr befolgen“. Moraes hat eine Reihe von Untersuchungen gegen den Präsidenten wegen Verbreitung von Falschinformationen sowie Angriffen auf die Demokratie und das Oberste Bundesgericht angestrengt. Die Wirtschaft reagierte empfindlich auf Bolsonaros Drohungen, an der Börse gab es einen Einbruch. Um den Präsidenten zu unterstützen, stellten Lastwagenfahrer Lebensmittellieferungen ein, was die Preise noch weiter ansteigen ließ. Zwei Tage darauf ruderte der Präsident allerdings zurück: In einer „Erklärung an die Nation“ hieß es, er hege „keinerlei Absicht, irgendeines der Verfassungsorgane anzugreifen“. Seine Anhänger quittierten dies mit Unmut und Enttäuschung.

Bedrohliche Tage für die Demokratie

„Es ist ziemlich offensichtlich, dass Bolsonaro an einen Staatsstreich denkt. Ob er damit Erfolg haben kann, ist nicht klar – schließlich war die Zahl derer, die er am 7. September mobilisieren konnte, bedeutend kleiner als angekündigt. Und die brasilianischen Unternehmer haben ihm klargemacht, dass Instabilität schlecht fürs Geschäft ist“, erklärt Kelli. „Aber es waren bedrohliche Tage für die brasilianische Demokratie.“

Politische Beobachter sind sich einig, dass 2022 ein Staatsstreich von Jair Bolsonaro wahrscheinlicher ist als seine Wiederwahl. Je aussichtsloser der Urnengang für ihn wird, desto stärker kommt in der Rhetorik und den Aktionen des Präsidenten der Wille zum Vorschein, die demokratische Ordnung zu zerbrechen.

Wer kann Bolsonaro stoppen?

Der Weg dahin ist schon vorgezeichnet. In einem Land, das 21 Jahre unter einer Militärdiktatur stand, in welcher sich Generäle im Amt des Präsidenten abwechselten, muss man hierfür nicht unbedingt an einen klassischen Staatsstreich mit Panzern auf der Straße denken. „Es gibt mehr destabilisierende Elemente in der brasilianischen Gesellschaft als die Streitkräfte und die Polizei. Mit der Deregulierung des Waffenhandels hat sich die Zahl bewaffneter Bürgergruppen vervielfacht“, sagt Ana Penido von der Studiengruppe für Verteidigung und internationale Sicherheit der Staatlichen Universität São Paulo (UNESP). „Brasiliens Institutionen sind in Gefahr. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bolsonaro bereit ist, die Präsidentenschärpe weiterzureichen. Seine undemokratische Einstellung und die Demontage des Staates, die seit 2016 im Gang ist, machen das unwahrscheinlich.“

Fachleute sehen klare Anzeichen dafür, dass Bolsonaro von sich aus nicht haltmachen wird. Damit stellt sich für Brasilien, dessen Institutionen der Auflösung der Demokratie gleichgültig zusehen, die Frage: Wer könnte ihn stoppen?

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2021: Leben im Dorf
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