„Die Regierung hat nichts in den Schlafzimmern der Menschen verloren“

Ein nigerianischer Schriftsteller mit ärmellosem weißem Shirt, Brille und Mikrofon in der Hand im Halbporträt vor einem magentafarbenen Hintergrund.
Jörg Kandziora
Jude Dibia ist in Lagos, Nigeria, aufgewachsen und hat moderne europäische Sprachen studiert. Als in Nigeria ein verschärftes Gesetz gegen Homosexuelle in Kraft trat, ging er ins Exil nach Schweden.
Homosexualität
Der nigerianische Autor Jude Dibia fordert seine Leser heraus, Vorurteile über queere Menschen infrage zu stellen. Er motiviert damit auch jüngere queere Autoren, ihre Geschichten zu erzählen und für Gleichberechtigung zu kämpfen, erklärt er im Interview.

Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?
Ich habe schon als Kind gern und viel gelesen. Mein Vater hatte eine große Bibliothek, und ich las viel über andere Länder. Sie eröffneten mir die ganze Welt, mit ihnen war ich an einem Tag in Nordamerika, am nächsten in Europa oder in Indien. Anders als meine Brüder interessierte ich mich nicht für Mädchen. Ich suchte nach Büchern mit homosexuellen schwarzen Figuren, doch da waren nur Weiße oder Asiaten; in keinem fand ich mich wieder. 
An der Universität merkte ich, dass ich eine Gabe hatte, zu schreiben und Geschichten zu erfinden. Schreiben war für mich etwas Schönes, aber ich sah es noch nicht als Beruf. Ich studierte Deutsch; mein Traum war es, Diplomat zu werden und um die Welt zu reisen. Ich erhielt ein Sprachstudium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), und nach dem Studium arbeitete ich zunächst für die Lufthansa – geschrieben habe ich nur in den Ferien.

Jude Dibia: Walking With Shadows. Blacksands Book, Lagos 2005

Wie entstand Ihr erster Roman?
Bevor ich mit dem Manuskript begann, berichtete ich einem afro-amerikanischen Autor, der queere Literatur schrieb, von meinen Ideen. Er war fasziniert, und das hat mich ermutigt, an mich selbst zu glauben. „Walking With Shadows“ entstand Anfang der 2000er Jahre, in der Übergangszeit von einer Militärdiktatur in Nigeria zur Demokratie, als queere Menschen regelmäßig angegriffen wurden. Ihre Lebensweisen galten als ausländisch, nur privilegierte Personen übernähmen sie von den Weißen.

Worum geht es in dem Roman?
Im Mittelpunkt steht ein Mann, der verheiratet ist, eine wunderbare Familie hat und plötzlich geoutet wird. Wir begegnen ihm schon als Kind und als gläubigem Christen. Dann kommt der Moment, in dem er seiner Ehefrau und Familie als queerer Mann gegenübertritt. Es war mir wichtig, von der Angst zu erzählen und vom Verhältnis des Protagonisten zu seinen Brüdern – wie er versucht, zwischen ihnen seinen Weg zu finden. Es geht um einen gewöhnlichen Mann, eine komplexe Persönlichkeit, ein Leben jenseits des Schlafzimmers. Ich wollte Leser herausfordern, ihre Vorurteile infrage stellen, denn viele haben eine sexualisierte Perspektive auf queere Menschen, verbinden sie mit Pornografie und suchen nach dem Sex von Schwulen. Zudem werden queere Menschen auch mit Verweis auf die Bibel verteufelt. Am Ende meines Romans ändern einige Figuren ihre Meinung. 
Bücher können das Leben von Menschen verwandeln. Einer meiner Brüder etwa schenkte seinem homophoben Chef meinen Roman zu Weihnachten. Nach der Lektüre hatte dieser zwar noch Vorbehalte, aber er war nicht mehr so homophob wie zuvor. Wir kämpfen also gegen Narrative, denn wir sind gewöhnliche Leute. Wir sind so wie Ihr: Ärzte, Lehrer, Anwälte, Studenten, Paare mit Kindern, queere Jugendliche. Es sollte keinen Unterschied geben, nur weil wir jemanden lieben. Als Menschen sind wir gleich. Deshalb ist es wichtig, unsere Geschichten zu erzählen.

Welche Bedeutung hatte Ihr Roman für sexuelle Minderheiten in Nigeria?
Es ist der erste Roman in Nigeria über offen queere Erfahrungen. Er ist gegen die nigerianische Gesetzgebung gerichtet, die gleichgeschlechtliche Sexualität unter Strafe stellt. Denn die Regierung hat nichts in den Schlafzimmern der Menschen verloren. Der Roman hat dazu beigetragen, die gesellschaftliche Wahrnehmung zu ändern, die verinnerlichte Indoktrination anzuzweifeln. Damals herrschten noch viel Scham und Stigma. Mit meinen Schreiben wollte ich die Stimmen der LGBTIQ-Community zu Wort kommen lassen und danach fragen, welche Liebesvorstellungen, etwa zur Liebe zwischen Mann und Frau, wir unbewusst übernommen haben. 

Jude Dibia, Olumide F. Makanjuola (Hg): Love Offers No Safety. Nigeria’s queer men speak. Cassava Republic Press, Abuja/London 2023

Der Roman hat auch jüngere queere Autoren in Nigeria motiviert, ebenfalls ihre Geschichten zu erzählen. So entstand 2023 der Sammelband „Love Offers No Safety“. Alle Beiträge darin stammen von queeren Nigerianern, die in Lokalsprachen schreiben und mehrheitlich nie einen Fuß in die Nähe eines Flughafens gesetzt haben. Das widerspricht gängigen Vorurteilen, Homosexualität sei von den Weißen übernommen worden. Denn wo hätten sie die Art ihrer Liebe lernen sollen? Über Hundert haben ihre Geschichten für den Sammelband eingereicht. Daraus eine Auswahl zu treffen und die Texte zu edieren, war nicht leicht. 

Jude Dibia: Unbridled. Jacana Media, Cape Town, 2007

Sie schreiben auch über Gewalt gegen Mädchen?
Ja. Mein zweiter Roman „Unbridled“ (2007) geht auf eine Kindheitserfahrung zurück. Als ich einmal mit meiner Mutter Verwandte besuchte und mich hinter einem Sofa versteckte, berichtete eine der Frauen, dass ihr Ehemann ihre gemeinsame Tochter missbrauchte. Sie brach zusammen und wusste nicht, was sie tun sollte. Die anderen Frauen diskutierten darüber. Das hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Mit diesem Roman wollte ich die Sichtweise des Mädchens herausfinden, die Geschichte aus ihrer Sicht erzählen. Wie wird Missbrauch verinnerlicht? Welche Sprache, welche Stimme finden Betroffene dafür? Dazu habe ich sehr viele Frauen befragt, um authentische Einschätzungen zu hören. Meine Protagonistin geht nach Großbritannien, dort gerät sie in eine gewalttätige Beziehung. Das Buch thematisiert also komplexe gesellschaftliche Probleme, und es ist kulturübergreifend, vielleicht hilft es betroffenen Frauen. Meine Verlegerin dachte bei der Lektüre des Manuskriptes aufgrund der Sprache und der dargestellten Emotionen, ich sei eine Frau. Als Mann möchte ich empathisch gegenüber Frauen sein. Manche Feministinnen meinen, ein Mann könne nicht über Frauen schreiben. Selbstverständlich beanspruche ich nicht, Erfahrungen von Frauen zu verkörpern. Das kann ich offensichtlich nicht. Aber ich möchte auch nicht in irgendeine Schublade gesteckt werden. Schließlich schreiben auch viele Autorinnen über Männer.

Wo verorten Sie sich als Autor?
Immer wieder werde ich gefragt, für wen ich schreibe, denn meine Romane erscheinen auch in Schweden. Aber dort gibt es nicht die Einteilung in afrikanische Literatur wie in Deutschland, sie kommen höchstens in Auslagen zum „Black History“ Monat. Ich sehe meine Bücher nie in der Abteilung „Afrikanische Literatur“. 
Ich möchte auch nicht darauf beschränkt werden, denn ich verstehe mich als Künstler. Zudem gibt es auf dem Kontinent und in der Diaspora noch immer viel zu wenige Autorinnen und Autoren und Bücher über gewöhnliche schwarze Menschen und über Liebe und Akzeptanz.

Das Gespräch führte Rita Schäfer beim African Book Festival in Berlin. 

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erschienen in Ausgabe 5 / 2024: Vorsicht Subkultur!
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