Mit den Kolumnen, die ich in den vergangenen Jahren zu „welt-sichten“ beitragen konnte, lud ich zum Nachdenken ein über eine planetare Lungenentzündung, versteckte Kosten in Lebensmitteln und den Versuch, durch Entwicklungszusammenarbeit Migration mitzugestalten. Ich fragte „Wie wollen wir leben? Wie viel ist genug?“, dachte über das Prinzip Hoffnung nach und über die große Sorge um das gemeinsame Haus. All diese Themen sind bis heute aktuell.
All meinen Kolumnen lag ein wiederkehrender Gedanke zugrunde, eine Option und Überzeugung: die Armen zuerst.
Sich in die Welt der Menschen hinein zu versetzen, die physisch, materiell oder ideell an den Rand gedrängt werden, kann uns auf dem Weg zu einer gerechteren Welt für alle leiten. „Niemanden zurücklassen“, der Anspruch der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung, meint genau das.
Herausforderungen laden zu einer Entscheidung ein
Das fängt im Supermarkt an: Gehe ich durch die Reihen mit der kaum fassbaren Auswahl in den Regalen und versuche, mich in eine am unteren finanziellen Limit lebende mehrköpfige Familie hinein zu versetzen, so blicken die Produkte auf veränderte Weise auf mich zurück. Fast kommt es mir vor, als zeigten sie mit dem Finger auf mich selbst. Bei jeder Tasse Kaffee denke ich an den zu schmalen Verdienst von Bauernfamilien im Kaffeeanbau, bei jedem Kleidungsstück an die Näherinnen in Bangladesch, bei vielen Schlagzeilen höre ich Menschen, deren Stimme unterdrückt wird.
Mit schlechtem Gewissen durch die Welt zu gehen erscheint mir keine sinnvolle Verhaltensweise. Die Herausforderungen sind vielmehr die Einladung zu einer Entscheidung. Jedes Mal besteht die Möglichkeit, sich für das Gemeinwohl, für eine bestimmte Richtung in der Konsumkette zu entscheiden.
Die Frage danach, ob etwas den Armgemachten nützt oder schadet, sollte uns ständig begleiten. Dabei geht es nicht zwangsläufig um ein „Weniger“, sondern eher um ein „Anders“ im Hinblick auf Lebensqualität.
Wen übersehen wir?
Orientierungsrahmen können die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen und die päpstliche Enzyklika Laudato sí sein. Beide formulieren an Bedürfnissen und Kompetenzen der Menschheit orientierte Ziele. Eine wertebasierte Entwicklungszusammenarbeit kann Vehikel sein für ein gesünderes, gleichberechtigteres Zusammenleben. Positive Szenarien, Geschichten des Gelingens weltweit – während eher Negativszenarien von Krisenkaskaden unseren medialen Diskurs bestimmen.
Daraus ergeben sich Fragen: Wen übersehen wir? Wie kann es sein, dass in einer vermeintlich stabilen Gesellschaft Menschen aus unterschiedlichen Milieus in ideologisch extreme, weltfremde Sphären abdriften? Wie kann es sein, dass Einsamkeit als Krankheit des Jahrhunderts gilt? Wie kann es sein, dass sich Regierungen trotz eines globalisierten Wirtschaftsgeflechts und weltumspannender Lieferketten verstärkt nationalstaatlicher Parolen bedienen? Wie kann es sein, dass die spürbaren Folgen der Klimakrise keine angemessene Reaktion und Bereitschaft für eine gesamtgesellschaftliche sozialökologische Transformation bringen?
„Es ist an der Zeit, die Richtung zu ändern. Wir müssen unseren Fokus von Profit auf Wohlstand, von Wirtschaftswachstum auf Nachhaltigkeit und von Materialität auf Menschenwürde verlagern“, sagte Kardinal Michael Czerny, als ihm im Januar in Aachen der Klaus-Hemmerle-Preis verliehen wurde. „Integrale Entwicklung“ und „Inklusion“ heißen die Ansätze, die auf den Fahnen einer zukunftsfähigen Entwicklungszusammenarbeit stehen. Und betont füge ich hinzu: und die Armen zuerst.
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