Wer schon einmal Orangen-Direktsaft getrunken hat, war dem größten Hafen der südlichen Hemisphäre näher als vielleicht gedacht. Denn drei von fünf Gläsern des weltweit konsumierten Getränks werden hier abgefertigt: An den insgesamt 59 Terminals wurden im Jahr 2023 gut 173 Millionen Tonnen Fracht umgeschlagen, von Autoteilen bis hin zu Lebensmitteln, die in die ganze Welt geliefert werden.
Die Rede ist vom Hafen von Santos an der südbrasilianischen Küste. Gleich am Eingang der Stadt empfängt die Statue eines Hafenarbeiters die Besucher: Ein schwarzer Mann trägt einen Sack auf dem Rücken zu einem Schiff – ein ikonisches Bild der brasilianischen Geschichte. Die Statue ehrt diejenigen, die dazu beigetragen haben, das Land durch den Export von Lebensmitteln, insbesondere Kaffee und Zucker, reich zu machen. Die Exportwaren gelangten über den Hafen von Santos in die Welt.
Dieser Güterstrom hält bis heute an: Nur 70 Kilometer entfernt von São Paulo, der bevölkerungsreichsten Stadt des Landes, schlagen die Terminals von Santos Ein- und Ausfuhren aus allen Ländern der Welt um und gelten als Haupttor nach Südamerika. Auch Tausende von Einwanderern aus verschiedenen Ländern Europas und Asiens gingen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach einem neuen Leben an seinen Piers an Land.
Wettbewerbsfähig in allen Ladungssegmenten
„Von allen Häfen des Landes funktioniert er am besten. Er ist in allen Ladungssegmenten wettbewerbsfähig: Schüttgut, Container, Flüssigkeiten, Fahrzeuge“, sagt der Präsident der National Federation of Operations Ports (FENOP), Sérgio Aquino. „Von drei Säcken Zucker, die in den Häfen der Welt umgeschlagen werden, verlässt einer Santos. Auf Brasilien entfällt ein Drittel der weltweiten Zuckerexporte“, sagt der Journalist und Hafeningenieur Leopoldo Figueiredo, der die Entwicklung des Komplexes von Santos seit 27 Jahren verfolgt. Das wirft ein Schlaglicht auf ein Land, das zwar zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt gehört, dessen Exporte aber hauptsächlich aus dem Agrarsektor stammen und dessen Wertschöpfung gering ist.
„Meine Aufgabe ist es, große Schiffe mit Zucker zu beladen. Eine einzige Maschine kann Tausende von Tonnen pro Stunde verladen“, sagt ein Hafenarbeiter, der nicht namentlich genannt werden will. Er bedient und reinigt einen großen Kran für den Containertransport von Zucker.
„In einem brasilianischen Supermarkt findet sich kaum ein Produkt, das nicht an irgendeinem Punkt der Herstellung den Hafen von Santos passiert hat“, sagt Figueiredo. Brasilien hat einen ausgeprägten Prozess der Deindustrialisierung durchlaufen. Daher werden die meisten Maschinen, mit denen verschiedenste Produkte hergestellt werden, importiert – ebenso wie fast alle in der Landwirtschaft eingesetzten Düngemittel.
Der große Motor der Stadt
„Ein Hafen ist nie nur ein Hafen. Wichtig sind auch die Menschen, die hier arbeiten und leben“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Roberto Levier. Er koordiniert den Studiengang Hafenmanagement an der Faculdade Getúlio Vargas (FGV), einer renommierten autonomen Hochschule. Der Hafen versorgt mehr als 50.000 Menschen mit Jobs. Sie stammen aus Santos selbst, der Stadt mit mehr als 400.000 Einwohnern. Viele kommen aber auch aus anderen Teilen des Landes.
„Der Hafen ist der große Motor der Stadt“, betont auch FENOP-Präsident Aquino. „Wegen ihm wurde das Dorf Santos im Jahr 1546 gegründet, als sicherer und geschützter Ort für Schiffsgüter. Der Hafen war eine treibende Kraft für die Urbanisierung und die Einrichtung sanitärer Anlagen in der Stadt.“
Im 17. Jahrhundert, als Brasilien noch eine portugiesische Kolonie war, wurde als eines der ersten Infrastrukturvorhaben die Calçada do Lorena gebaut: eine schmale, mit Steinen gepflasterte Straße, die São Paulo mit der Küste verband und den sicheren Transport von Zucker zum Hafen ermöglichte. Dieses historische Wahrzeichen Brasiliens gibt es immer noch. Jahrhunderte später wurde die erste Eisenbahnstrecke im Bundesstaat São Paulo gebaut. Auf ihr gelangte der Kaffee von den Produktionszentren zum Hafen.
Autorin
Sarah Fernandes
ist Journalistin und Geografin in Brasilien. Sie berichtet über Menschenrechte und entwicklungspolitische Themen in Lateinamerika und Asien.Heute schlängelt sich der kurvenreiche Anchieta Highway durch den Gebirgszug Sea Mountain. Wer auf diesem Highway São Paulo in Richtung Küste verlässt, muss sich die Straße mit Dutzenden von Lastwagen teilen. Sie verbinden den größten Verbrauchermarkt des Landes, den Bundesstaat São Paulo, mit dem Haupteingangs- und -austrittspunkt der brasilianischen Wirtschaft.
Bis heute sind der Hafen und die Stadt Santos miteinander verflochten. Nach Angaben der Stadtverwaltung steuert die Hafenwirtschaft zwei Drittel der städtischen Einnahmen aus der Dienstleistungssteuer bei. „Der Hafen brachte die Stadt auch kulturell voran. Wenn die Schiffe wochenlang dort festlagen, brachten die Seeleute der Bevölkerung Informationen, Gegenstände und Erfahrungen aus anderen Ländern mit“, erläutert Figueiredo. „Heute liegen die Schiffe im Durchschnitt nur noch sechs Stunden im Hafen und die Besatzung geht kaum von Bord.“
In vierter Generation im Hafen tätig
„Wenn wir die gesamte Zeit zusammenzählen, die meine Familie im Hafen von Santos gearbeitet hat, kommen wir auf über 132 Jahre“, sagt Arnaldo de Oliveira Barreto stolz. Der Ingenieur ist in vierter Generation im Hafen tätig. Der erste in seiner Familie, der dort eine Beschäftigung aufnahm, war sein Urgroßvater. 26 Jahre lang war er mit dem Bau und der Erweiterung der Docks befasst. Barretos Großvater war dann 35 Jahre lang Hafenarbeiter und half bei der Gründung einer Gewerkschaft. Sein Vater schließlich brachte es auf 43 Jahre als Sekretär des Hafenvorstands und 48 Jahre als Ingenieur.
„Mein Leben spielt sich im Hafen von Santos ab. Ich wurde vor 75 Jahren in einem Haus an der Zufahrtsstraße zum Hafen geboren“, sagt Barreto. „Schon als Kind ging ich mit meinem Vater zur Arbeit und beobachtete alles aufmerksam. Ich habe mich in diesen Ort verliebt.“ Barreto vergisst weder die leidenschaftlichen Begegnungen, die er auf dem Passagierdock miterlebt hat, noch das gewaltige Feuer, das 2013 ein riesiges Warenhaus zerstörte, noch den Wind, der einen tonnenschweren Terminal-Kran ins Wasser stürzte. „Kein Tag im Hafen von Santos ist wie der andere“, sagt er. Zu seinem Bedauern hat keiner seiner drei Söhne diese berufliche Laufbahn eingeschlagen.
Obwohl Barreto im Ruhestand ist, hat er das jüngste historische Ereignis miterlebt: Im Februar 2024 legte das größte Schiff in der Hafengeschichte an einem der Terminals an, die MSC Natasha XIII. Der 366 Meter lange Containerfrachter kam aus dem brasilianischen Hafen von Paranaguá und legte einen Zwischenstopp ein, bevor er weiter nach Asien fuhr. Das war ein Meilenstein, denn im Gegensatz zu anderen brasilianischen Häfen hat Santos nur eine begrenzte Wassertiefe. „Die Schiffe werden immer größer, was neue Probleme bringt. In Santos ist es der Wasserstand der Fahrrinne. Heute haben wir eine Tiefe von 15 Metern, Studien sprechen sich für 17 Meter aus“, sagt Figueiredo.
Alle Containerterminals an private Unternehmen vergeben
Auch wenn der Hafen mit der Gemeinde Santos verbunden ist, funktioniert er wie eine eigenständige Stadt: Er verfügt über 16 Kilometer Docks und 7,8 Quadratkilometer Nutzfläche, was 1200 Fußballfeldern entspricht. Zudem hat er ein eigenes Wasserkraftwerk, das die Terminals mit Strom versorgt. In dem Komplex sind unterschiedliche Transport- und Verkehrsmittel im Einsatz: 100 Kilometer interner Eisenbahnen, 55 Kilometer Pipelines und 20 Kilometer Autobahnen, über die täglich mindestens 7000 Lastwagen rollen.
Der Containerumschlag ist der wichtigste Transporttyp in Santos. 40 Prozent des Containeraufkommens an der brasilianischen Küste entfallen auf den Hafen. 1993 wurde ein Gesetz für brasilianische Häfen verabschiedet, seitdem sind alle 59 Terminals in Santos an private Unternehmen vergeben. Sie nutzen sie als sogenannte Private Use Terminals (portugiesische Abkürzung TUPs) und sind völlig autonom beim Betrieb und bei Investitionen in die Standorte. Viele sind Giganten des Rohstoffsektors, etwa der brasilianische Konzern Cutrale, der unter anderem Orangensaft produziert, oder der US-amerikanische Lebensmittelmulti Cargill. Über Konzessionen für Terminals verfügen auch der brasilianische Stahlriese Vale und der Öl- und Erdgaskonzern Petrobras, der größte brasilianische Betreiber von TUPs. Er kontrolliert fast alle Flüssigmassengüter, die von der Küste aus verschifft werden. Lediglich ein knappes Dutzend Piers sind noch öffentlich und werden von der Hafenbehörde verwaltet.
Auf diese Weise werden die meisten der 36 öffentlichen Häfen Brasiliens betrieben. Die Unternehmen, die die Terminals in Santos betreiben, sind verpflichtet, in die Stadt zu investieren – für was und wie viel wird in Zusammenarbeit mit der öffentlichen Hand festgelegt. Die Gelder gehen an Projekte zum Bau von öffentlichen Krankenhäusern oder zur Installation von Klimaanlagen in städtischen Schulen oder auch an Genossenschaften. Allerdings sind diese sozialen Investitionen der Unternehmen sehr niedrig im Vergleich zu ihren Gewinnen.
Ein Anstieg des Meeresspiegels wird befürchtet
Die brasilianische Regierung ist über das Verkehrsministerium für die Betreuung des Hafens zuständig. „Die Rolle der Hafenbehörde ist vergleichbar mit der eines Gebäudemanagers. Sie muss für die Sicherheit sorgen, überwacht das Ausbaggern der Fahrrinnen, gewährleistet den Zugang zum Hafen über Land und Wasser und plant den Ausbau des Komplexes“, erklärt Professor Levier von der Hochschule FGV.
Eine der am meisten diskutierten Herausforderungen ist die Dekarbonisierung der Hafenaktivitäten. „Private Terminals und die Hafenbehörde bemühen sich darum“, sagt Levier. „Es sind Investitionsprojekte erforderlich, um die Effizienz des Hafens zu verbessern. Auch der Verkehr über Land muss effizienter werden, dabei sollte mehr in die Eisenbahn als in Lastwagen investiert werden.“ In Santos werden ein Anstieg des Meeresspiegels und seine Folgen wie Sedimentablagerungen befürchtet, so wie es bereits in der Nordsee zu sehen sei, sagt Journalist und Hafeningenieur Leopoldo Figueiredo. „Wir haben bereits hohe Kosten für das Ausbaggern, und sie könnten noch steigen.“
Stößt der Hafen von Santos bald an seine Grenzen? Tatsächlich drängen sich auf den Hauptverbindungsstraßen zum Hafen immer mehr Lastwagen. Doch die Expansionsmöglichkeiten des Hafens sind beschränkt, denn die Stadt um ihn herum ist ohne Planung gewachsen – ein häufiges Problem von Häfen, die wie Santos auf Jahrhunderte Geschichte zurückblicken.
Aus dem Englischen von Anja Ruf.
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