Ein Zug soll sein Vermächtnis werden

Elizabeth Ruiz/AFP via Getty Images
Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador bei der Grundsteinlegung für den Touristenzug „Tren Maya“ auf der Halbinsel Yucatán im Juni 2020. Das Megaprojekt soll bis zum Ende seiner Amtszeit im Oktober 2024 fertig sein.
Umstrittenes Megaprojekt
Mexikos Präsident López Obrador will den Fortschritt auf die verschlafene Halbinsel Yucatán bringen – mit einer fragwürdigen Eisenbahnstrecke. Damit zerstört er einen der letzten von Indigenen bewohnten Urwälder Mexikos.

Luis Poot Ku ist 49 Jahre alt und ist zum ersten Mal stolz auf sein Heimatdorf Nuevo Xcan auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán. Denn Nuevo Xcan bekommt eine Zughaltestelle. Der kaum bekannte Ort wurde vor 70 Jahren als Wohnstätte für die Arbeiter einer US-Holzfirma gegründet, die Stämme für Eisenbahnschwellen für die Bahn in den USA exportierte. „Damals gab es Hotels und Bars, mein Großvater hatte ein gut gehendes Kolonialwarengeschäft“, erinnert sich Poot Ku. 

Luis Poot Ku erhofft sich vom Zug Aufschwung im Dorf Nuevo Xcan.

Doch die Zeiten sind lange vorbei. Ende der 1970er Jahre ging die Holzfirma pleite, die Geschäfte schlossen und Nuevo Xcan fiel in einen Dornröschenschlaf. Der Laden der Familie Pool Ku machte dicht, die nachfolgende Generation lebte von Subsistenzlandwirtschaft. Das ist ein hartes Brot. Poot Kus Kinder sind deshalb lieber in den 87 Kilometer entfernten Badeort Cancún gezogen und arbeiten dort in Hotels. Zurück blieben die Alten, die kaum Spanisch konnten, gerade die Grundschule absolviert hatten und so genügsam lebten wie ihre Vorfahren: in palmgedeckten Holzhütten im Rhythmus der natürlichen Zeitläufte. 

So sah es an vielen Orten im Hinterland der Halbinsel Yucatán im Jahr 2018 aus, als Präsident Andrés Manuel López Obrador sein Amt antrat. Die Hälfte der Bevölkerung der Region galt damals als arm. López Obrador hatte eine zündende Idee, wie er sie aus ihrer Rückständigkeit befreien könnte: mit einer neuen Eisenbahnlinie. So werde der Tourismusboom, der sich bislang auf die Küstengebiete Yucatáns beschränkte, auch ihnen zugutekommen, sagte der 70-Jährige, der selbst aus dem wenig entwickelten Süden Mexikos stammt. 

Die Bevölkerung wurde nicht gefragt. Und die Warnungen von Umweltschützern wegen des fragilen Ökosystems schlug López Obrador ebenso in den Wind wie die der Ingenieure, die wegen des von Höhlen durchsetzten Karstbodens die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. Ein externes Gutachten der Unternehmensberater von Pricewaterhouse Coopers zur Wirtschaftlichkeit des Projekts fiel ungünstig aus und wurde deshalb gleich nach der Erstellung zur Geheimakte erklärt. Finanzminister Carlos Urzúa sagte, nachdem er wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem Präsidenten über das Megaprojekt im Juli 2019 zurückgetreten war, der Zug werde niemals rentabel sein – und müsse dauerhaft vom Steuerzahler subventioniert werden. Die für den Bau zuständige Tourismusbehörde Fonatur schreibt vage von einem „sozial rentablen Projekt“.

Dreimal schon wurde ein Zugprojekt ad acta gelegt

Aber López Obrador wollte sich um nichts in der Welt von seinem Vorhaben abbringen lassen. Dabei war er nicht der erste mit dieser Idee. Drei seiner Vorgänger hatten ein Zugprojekt erwogen, dreimal wurde es wegen der ökologischen, wirtschaftlichen und bautechnischen Probleme ad acta gelegt. Der Süden Mexikos blieb das Armenhaus, während sich der Norden dank seiner Nähe zu den USA und dem 1994 geschlossenen Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada rasant modernisierte. 

Yucatán, im 19. Jahrhundert die Hochburg des weltweiten Sisalanbaus, ist eine ziemlich feudale Gesellschaft geblieben. Die alten Sisalhaciendas sind von den reichen Familien zu Hotels und Luxusrestaurants umfunktioniert worden; die Ländereien mit einigermaßen fruchtbarem Boden werden heute für den Anbau von genverändertem Soja in Monokultur oder für Rinder- und Schweinefarmen genutzt.

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.

Mittlerweile sind die Bauarbeiten an der Zugstrecke in vollem Gange, an mehreren Abschnitten gleichzeitig wird Tag und Nacht gearbeitet. Planierraupen glätten eine schnurgerade Schneise durch einen der letzten großen Urwälder Mexikos. Im Minutentakt fallen Bäume, 3,4 Millionen Baumleichen sind es offiziellen Angaben zufolge. Umweltschützer haben anhand von Satellitenbildern den Flächenverbrauch auf 10.831 Hektar berechnet, 87 Prozent der Vegetation wurde ihnen zufolge auf diesem Gebiet ohne Genehmigung oder vorherige Umweltprüfung gefällt. Als der halbwüchsige Präsidentensohn im Teenageralter seinen Vater wegen dieser Umweltzerstörung zur Rede stellte, belehrte ihn der, das geschehe zum Wohl des Landes; die Umweltschützer seien Schnösel, die für seine politischen Gegner arbeiteten. Diese Anekdote hat López Obrador selbst in einer seiner morgendlichen Medienansprachen erzählt; der Sohn wurde kurze Zeit später nach Großbritannien in ein Internat geschickt.

Fertig oder nicht – im Dezember soll Einweihung sein

Der Streckenverlauf des Mayazuges wurde mehrfach geändert – weil der Präsident spontan das Projekt von 900 auf 1500 Kilometer erweiterte, weil das Militär, das mit dem Bau einer Teilstrecke befasst ist, erst noch den neuen Hauptstadtflughafen fertigstellen musste, weil Umweltschützer und Indigene vor Gericht zogen. Bis der genervte Präsident per Dekret im November 2021 die Behörden anwies, sich über fehlende Genehmigungen und Umweltverträglichkeitsprüfungen einfach hinwegzusetzen. Schließlich will er sein Lieblings-Megaprojekt unbedingt vor Ende seiner Amtszeit 2024 einweihen. Mitte Dezember hat er bereits einen Teilabschnitt der Gesamtstrecke eröffnet. Die gesamte Trasse soll nach Angaben der Regierung bis Ende Februar fertiggestellt werden. Bislang hat der Bau umgerechnet 20 Milliarden Euro verschlungen, mehr als das Doppelte des ursprünglich veranschlagten Budgets.

Nach Nuevo Xcan kamen im Jahr 2019 Regierungsbeamte und kauften den Einwohnern 15 Hektar Land für den Bau der Strecke und eines Bahnhofes ab. Dann rollten die ersten Bagger. Die Arbeiter übernachteten in Containern, ein paar Monate später eröffneten die ersten Restaurants, es folgten mehrere einfache Posadas (= Unterkünfte). „Diesmal will ich auch auf den Zug aufspringen“, ist Poot Ku zuversichtlich. Er hat den alten Laden seines Großvaters an der Hauptstraße wiedereröffnet und verkauft jetzt Hüte und Warnwesten, Erfrischungsgetränke und Kartoffelchips. Das Geschäft geht gut. 

Doch nicht alle in Nuevo Xcan sehen den Zug als Fortschritt. Manuel Poot Dzip lebt drei Kilometer von der Hauptstraße entfernt. Er ist Bauer und Imker und zieht auf seinem Grundstück verletzte Wildtiere groß – Rehe, Wildkatzen und Papageien. „Mir liegt die Natur am Herzen, ich bin keiner von denen, die von einer Villa und einem dicken Auto träumen“, sagt der 47-jährige Maya. Den Zug sieht er deshalb kritisch. Der Lärm verscheuche die Tiere, die Mädchen im Ort fingen an, mit den Bauarbeitern in den Bars abzuhängen, und ständig klopften bei ihm Fremde an, die ihm seinen Hof abkaufen wollten, um ein Hotel zu bauen, erzählt er. „Das stresst mich total.“ 

Die Mehrheit ist dafür, eine Minderheit dagegen

Der Zug hat die Bevölkerung gespalten in die Mehrheit der Befürworter und eine Minderheit an Gegnern. „Als sie hierherkamen und uns das Zugprojekt präsentierten, wollten wir protestieren“, erinnert sich der Bauer. „Denn wir wurden gar nicht um unsere Meinung gefragt, sondern uns wurde ein Papier vorgelegt, das wir unterschreiben sollten.“ Die Indigenen würden seit 500 Jahren mit Füßen getreten, der Zug sei keine Ausnahme, ergänzt Poot Dzip empört. „Aber da sagten uns die Ältesten, wir sollten die Regierung machen lassen, denn gegen das Geld und die Macht hätten wir eh keine Chance. Wir sollten uns lieber darum kümmern, unseren Wald zu bewahren und unsere Kinder in Liebe zur Natur großzuziehen.“

Doch nicht alle geben sich mit innerem Widerstand zufrieden. Einer, der die Stimme erhoben hat, war der Mayapoet Pedro Uc. Er lebt 200 Kilometer entfernt in der Mayagemeinde Buctzotz. Der Zug ist für ihn ein neokolonialistisches Projekt. „Er ist nur ein weiterer Schritt in der Zerstörung der Mayakultur“, sagt er. „Der Zug bringt uns nichts als Konsumdenken, Trivialisierung und den Verlust unserer traditionellen Werte und unserer Gemeinschaft.“

Mayapoet Pedro Uc (rechts) prangert die Zerstörung im Dorf Nuevo Xcan an.

„10.000 Hektar Wald fällen ist für uns Maya nicht Entwicklung, sondern Zerstörung“, sagt Uc, der den Präsidenten deshalb als Volksverräter brandmarkt. Die Hoffnung auf Fortschritt ist für ihn nichts weiter als ein Lügengespinst, das die Mächtigen den Indigenen seit 500 Jahren vorgaukelten. Der Zug habe neue Begehrlichkeiten geweckt. Spekulanten kaufen Land, tausende Wanderarbeiter strömten in die Region. Auch die Drogenmafia weitet ihre Geschäfte aus: Sie kauft Land, erschließt Drogenrouten, rekrutiert Kuriere und erpresst Schutzgelder von Unternehmen. 

Von sich selbst versorgenden Landbesitzern zu Proletariern

Uc fürchtet, dass die Maya ihr seit Generationen in Gemeinschaftsbesitz befindliches Land verlieren werden. Dann, so warnt er, würden sie von sich selbst versorgenden Landbesitzern zu Proletariern. „Wir sind nicht reich, aber wir haben ein gutes Leben“, betont er. „Wir rennen einer Schimäre von Entwicklung hinterher und töten dabei die Gans, die uns goldene Eier legt.“ Für seine harsche Kritik hat Uc Todesdrohungen erhalten. Nun ist er vorsichtiger und spricht nicht mehr mit jedem.

Nicht nur Indigene sehen das Projekt kritisch. Die Organisation UN-Habitat, die anfangs rund um die Bahnhöfe futuristische Modellstädte entwerfen wollte, ist nach eigenen Angaben nicht mehr an der Projektausführung beteiligt. Die Deutsche Bahn, die der mexikanischen Tourismusbehörde Fonatur beratend zur Seite steht, wiegelt angesichts von wachsender Kritik ab, sie spiele nur eine marginale Rolle. 

Auch diejenigen, die theoretisch am meisten vom Zug profitieren könnten, sind ungehalten. Im Erlebnispark „Rio Secreto“ bei Playa del Carmen, 70 Kilometer von Nuevo Xcan entfernt, sitzt der Unternehmer Otto von Bertrab auf einer Holzbank. In seinem Park können Touristen eintauchen in die Welt der Unterwasserhöhlen von Yucatán. Der Küstenabschnitt gehört zu den meistbesuchten der Halbinsel. Bertrab war zuerst wie viele Unternehmer in der Region angetan vom Zug. Zement- und Baufirmen hofften auf Aufträge, die unter der Pandemie leidenden Hoteliers auf neue Touristen, Anwohner auf neue Arbeitsplätze. „An diesem Streckenabschnitt macht ein Zug wirtschaftlich und verkehrstechnisch Sinn“, räumt Bertrab ein.

„Dieser ganze Zug ist ein absurder Widerspruch“

Doch inzwischen ist er ein Kritiker des Projekts. Für Unmut unter Unternehmern haben das Planungschaos und die Willkür der Behörden gesorgt. Erst ließ Fonatur die Palmen fällen, die Unternehmer zur Begrünung entlang der Autobahn gepflanzt hatten. Dann hieß es, der Zug solle auf einer Hochtrasse verlaufen – in einer Wirbelsturm-Region. Jetzt wurde die Trasse ins Landesinnere verlegt, direkt über Karsthöhlen, die nicht einmal einen Meter unterhalb der Oberfläche beginnen und unter dem Gewicht eines Zuges zu kollabieren drohen. Sie sind die einzigen Süßwasserquellen der Halbinsel, denn durch den kalkhaltigen, porösen Boden versickert jegliches Regenwasser, das in den Höhlen gespeichert wird. Das komplette Trink- und Bewässerungswasser wird aus diesen unterirdischen Wasseradern abgepumpt. Manche der Höhlen, berichtete der Journalist Raymundo Riva Palacio, seien inzwischen rechtswidrig zuzementiert worden. 

Die Zugstrecke durchschneidet Naturschutzgebiete und verläuft mitten durch wichtige Jaguarkorridore. Die Allianz für den Jaguar hat deshalb lautstark protestiert. Dann erhielt die NGO den Auftrag für den Bau von Wildtierübergängen und ist seither verstummt. 

„Dieser ganze Zug ist ein absurder Widerspruch“, sagt Bertrab. „Er bringt Touristen angeblich zu den Naturschönheiten Yucatáns, die für seinen Bau zerstört werden.“ Seine kritischen Zeitungsartikel hat er inzwischen eingestellt – nach kaum verhohlenen Drohungen. 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2023: Von Jung zu Alt
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