Das Ausmaß der Gewalttaten in Mexiko ist erschreckend: Jedes Jahr werden über 30.000 Menschen ermordet, Tausende weitere lässt man „verschwinden“. Die Hauptursache ist, dass zwei große Drogenkartelle und viele teils mit diesen Kartellen verbundene Drogenbanden um Kontrolle über Territorien und Handelswege kämpfen. Aber auch Staatsorgane üben willkürlich Gewalt gegen unbeteiligte Zivilisten aus. Das mittelamerikanische Land gehört laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zudem zu den gefährlichsten für Journalistinnen und Menschenrechtsverteidiger.
Chiapas ganz im Süden des Landes war bis vor kurzem weniger betroffen. Nun aber beklagt das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de Las Casas, kurz Frayba, aus der Stadt San Cristóbal de Las Casas eine ständige Zunahme von Gewalttaten und Menschenrechtsverletzungen in dem Bundesstaat. „Wir haben zum Beispiel Zwangsvertreibungen, Zwangsrekrutierungen für eine der kriminellen Banden und außergerichtliche Hinrichtungen dokumentiert. Die Aufgabe des Staates wäre es, die Bevölkerung vor so etwas zu schützen“, sagt Patricia Domínguez von Frayba.
Im Grenzgebiet kämpfen zwei Drogenkartelle
Zusammen mit ihrem Kollegen Lázaro Sánchez hat sie im Oktober Deutschland besucht. Frayba sieht mehrere Ursachen für den Anstieg der Gewalt in Chiapas. Die erste ist Kriminalität: „Seit 2021 hat das organisierte Verbrechen in Chiapas zugenommen, besonders im Grenzgebiet zu Guatemala. Da handelt es sich um Auseinandersetzungen zwischen zwei großen Drogenkartellen“, sagt Domínguez. „Wir wissen, dass dort etwa 400 Familien vertrieben wurden, das sind etwa 2000 Personen; weil es schwierig ist, sich dort zu bewegen, können wir die tatsächliche Zahl nicht feststellen. Wir fordern, dass der Staat diese Banden entwaffnet und für Frieden in dem Gebiet sorgt.“
Laut Sánchez liegen genau in dieser Region eine große Militärbasis und eine Basis der Nationalgarde: „Wie ist da zu erklären, dass das organisierte Verbrechen frei operieren kann?“ Er spricht von „Durchlässigkeit zwischen Verbrechen und Staat“: „Die Verbrechergruppen im Süden von Chiapas haben ihr Geschäftsmodell über den Drogenhandel hinaus ausgeweitet und versuchen, auch den Handel mit Vieh und Waffen sowie die Migrationswege zu kontrollieren. Dazu müssen sie Absprachen mit Behörden und Teilen der Polizei haben.“
Die meisten Übergriffe verüben laut Frayba nicht staatliche Sicherheitskräfte. Denen werfen sie vor allem Unterlassung vor, etwa bei gewaltsamem Verschwindenlassen: „Wir wissen, dass in einem einzigen von 125 Landkreisen in Chiapas mindestens 19 Menschen verschwunden sind. Einen solchen Fall will der Staat in der Regel als ‚nicht aufzufindende Person‘ registrieren statt als Verbrechen, dann muss er nicht tätig werden“, sagt Sanchéz. Es gebe zwar eine staatliche Kommission für die Suche nach Verschwundenen, „aber vor Ort tut auch die nichts. Deshalb wenden wir uns mit solchen Fällen an internationale Institutionen wie die UN-Kommission zu erzwungenem Verschwindenlassen“.
Großprojekte, Landprivatisierung, Vertreibung
Der Staat befördere die Gewalt aber darüber hinaus: erstens mit großen Entwicklungsprojekten wie dem Tren Maya und zweitens mit Versuchen, Land zu privatisieren und die Selbstverwaltung indigener Gemeinden zurückzudrängen. Das hat mit Besonderheiten dieses Bundesstaats zu tun: Er ist relativ arm und der Anteil von Menschen indigener Herkunft ist höher als im Landesdurchschnitt; im Ostteil von Chiapas stellen sie die Mehrheit.
Sie sind das Rückgrat der Bewegung der Zapatisten. Die begannen 1994 einen bewaffneten Aufstand, gegen den die Regierung einerseits in den 1990er Jahren mit einem großen Aufstandsbekämpfungsprogramm vorging; dabei griff sie auch auf Paramilitärs zurück, die blutige Überfälle auf Gemeinden verübten. Andererseits sicherte die Regierung mit den Verträgen von San Andrés der indigenen Bevölkerung 1996 Autonomierechte zu. Die Zapatisten haben seitdem vor allem im Ostteil von Chiapas autonome Gemeinden aufgebaut und verbinden indigene Traditionen mit sozialistischen und basisdemokratischen Ideen.
„Kann man unsere Mutter, das Land, verkaufen?“
Indigene Gruppen in Chiapas haben „eine spirituelle Beziehung zur Natur“, betont Sánchez: „In Chiapas ist ein Großteil des Landes in Gemeinschaftsbesitz. Hier stehen sich zwei gegensätzliche Kosmovisionen gegenüber: die der indigenen Gemeinden von Mutter Erde, die uns nährt, und die von Land als Ware, die man auf dem Markt verkaufen kann. Die indigenen Völker fragen: Kann man unsere Mutter verkaufen? Das Land gehört uns nicht, sondern wir sind Teil der Erde und müssen das Land schützen.“
Hiermit geraten die Entwicklungspläne von Staat und Unternehmen in Konflikt, sagt Sánchez: Seit Präsident Andres Manuel López Obrador vor sechs Jahren an die Macht gekommen ist, „versucht der Staat, besonders den Süden des Landes zu entwickeln und große Mengen Kapital dorthin zu bringen – mit Großprojekten wie dem Tren Maya, einer Raffinerie in Tabasco und dem Korridor vom Atlantik zum Pazifik. Diese Projekte betreffen Gebiete, in denen indigene Völker leben.“ Die Autobahn von San Christóbal nach Palenque sei ein Beispiel: „Sie beeinträchtigt die Laguna Soyul bei San Christóbal, aus der viele Menschen ihr Trinkwasser nehmen und die ein heiliger Ort für die indigenen Gemeinden dort ist. Der Staat schlägt vor, eine Touristenattraktion daraus zu machen.“
Frühere Paramilitärs in den Behörden
Ein anderer Problemfall ist für Frayba die Bergbaukonzession Chico Mucelo, wo das kanadische Unternehmen Blackfire Gold und Baryt abbaut. „Der Staat vergibt die Konzession für 50 Jahre und sie kann für weitere 50 Jahre verlängert werden“, sagt Sánchez. „Der Tagebau benötigt sehr viel Wasser. Zyanid sickert in die Böden und landet in Wasserläufen und Quellen. Am Ende sind Landbau und Viehzucht in manchen Gebieten nicht mehr möglich. Das ist eine Form der Vertreibung“ – Sánchez zufolge ein kontinuierlicher Vorgang seit der Kolonialzeit.
„In Chiapas trifft der Staat aber auf organisierte Gemeinden, deren soziales Netz er bisher noch nicht zerstören konnte“, so Sánchez weiter – nicht zuletzt autonome Gemeinden der Zapatisten. „Sie kennen ihre Rechte auf Selbstverwaltung und freie Entscheidung und das Abkommen von San Andrés. Ihr Widerstand hat die Vorhaben vieler Unternehmen ausgebremst. Jetzt übernimmt es das organisierte Verbrechen, dieses soziale Netz zu zerstören. Wir haben es mit einem Dreieck zu tun aus Staat, Unternehmen und organisierter Kriminalität.“ Auf Seiten des Staates sind dabei „Erben des Paramilitarismus“ aus den 1990ern am Werk, sagt er: „Funktionäre, die früher zu paramilitärischen Einheiten gehörten, jetzt aber politische Ämter in Chiapas haben“.
Ein weiterer Angriff auf die Autonomie indigener Gemeinden der Zapatisten ist Frayba zufolge ausgerechnet ein Sozialprogramm: sembrando vida (Leben säen). „Darüber können Menschen Unterstützung von zurzeit 5000 Pesos im Monat bekommen“, erklärt Domínguez. „Das erste offizielle Ziel des Programms ist Wiederaufforstung und das zweite, etwas gegen die Armut der Bauern zu tun. Das dritte ist, die Abwanderung aus Chiapas zu bremsen – junge Leute sollen nicht die Landgebiete verlassen. Aber die Voraussetzung für diese Hilfe ist, dass man 2,5 Hektar privaten Landbesitz mit Dokumenten nachweisen kann.“ Und weil das meiste Land in Gemeinschaftsbesitz ist, führe das zu Gewalt innerhalb der indigenen Gemeinden.
Ein Sozialprogramm trägt Zwist in die Gemeinden
In Chiapas, erläutert Sánchez, ist das meiste Land Gemeinschaftsbesitz: Viele freie Flächen sind infolge der Revolution von 1917 über die Jahrzehnte an Gemeinden verteilt worden, einige haben die Zapatisten von Großgrundbesitzern „zurückerobert“. In beiden Fällen überschneiden sich in der Praxis Landstücke mehrerer Gemeinden. Das war bisher kein Problem, so Sánchez: „Zwei Gemeinden haben dasselbe Land bearbeitet und das hat funktioniert. Jetzt aber, mit sembrando vida, braucht man ein Dokument, wem das Land gehört. Das schafft Konflikte.“
So hat Frayba in der Gemeinde Moises y Ghandi dokumentiert, „dass mindestens 40 Personen, die an Konflikten beteiligt sind, an sembrando vida teilnehmen“, sagt Sánchez weiter. „Sie müssen zusammen also 100 Hektar privates Land nachweisen, das zurzeit Gemeindeland ist. Das widerspricht dem indigenen Verständnis, dass Land niemandem privat gehören kann. Der Staat hat zudem dieses ‚zurückeroberte‘ Land als Gemeindebesitz offiziell anerkannt; viele Großgrundbesitzer, denen die Zapatisten Land genommen hatten, sind vom Staat entschädigt worden. Woher haben die Gemeindemitglieder nun Landbesitzurkunden, die die Gemeindeversammlung ausstellen muss? Und wieso akzeptiert der Staat die, obwohl er das Land als kollektiven Besitz anerkannt hat?“
In Moises y Ghandi hat das zu Gewalt geführt, so Sánchez. „2021 haben Bewaffnete das Kaffeelager und weitere Gebäude abgebrannt. 2022 wurden zwei Mitglieder aus dem Rat der guten Regierung der Zapatisten festgehalten, dieses Jahr wurde ein Zapatist angeschossen und schwer verletzt – von Leuten, die Landbesitz beanspruchen. Dass von denen nun 40 Unterstützung unter sembrando vida bekommen, ermutigt andere, ihrem Beispiel zu folgen.“
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