Es ist sechs Uhr abends in der zentralmexikanischen Ortschaft Cholula, und ein tropischer Regen platzt vom Himmel herab. Sara Ortega treibt ihren neunjährigen Enkel zur Eile an. Wie jeden Tag hat sie Emiliano von der Schule abgeholt, weil seine Mutter als Anwältin bis spät abends arbeitet. Aber weder die Eile noch der vorsorglich eingepackte Regenschirm verhindern, dass die beiden patschnass sind, als sie fünf Minuten später vor einem einfachen Backsteinhaus mit einem großen Garten stehen. Bewacht wird es von zwei Mischlingshunden, mit denen Emiliano ausgiebig knuddelt. Wäre Emiliano nicht, würde Sara bei einem solchen Wetter wohl kaum auf die Straße gehen.
Die 63-Jährige holt trockene Socken, während Emiliano richtig aufdreht und mit Katze Humita rund um die Sofagarnitur im Wohnzimmer Fangen spielt. „Um die Uhrzeit gebe ich ihm seine Narrenfreiheit“, sagt seine Großmutter und lächelt. Eigentlich wollte seine Mama Sarai die Kanzlei heute früh verlassen und eine Pizza vorbeibringen. Aber wie so oft schickt sie eine Whatsapp – es werde später, entschuldigt sie sich. Mexikos Arbeitgeber nehmen keine Rücksicht auf Familie.
Emiliano kennt das schon, und während seine Oma über ein alternatives Abendessen nachdenkt, holt er einen Joghurt aus dem Kühlschrank und wendet sich dann der fremden Journalistin zu. Und lässt ein Scooby-Doo-Stofftier, fast so groß wie er selbst, durch die Luft fliegen. Dann geht Emiliano über zur Kitzelattacke auf die Oma. Die Hausaufgaben werden auf den nächsten Morgen vertagt. Emiliano besucht eine staatliche Schule und ist für den Nachmittagsturnus eingeteilt. Deshalb geht er abends meist spät ins Bett.
Oma Sara hatte ihren Ruhestand anders geplant
Oma Sara hat sich diesem Rhythmus angepasst, auch wenn sie manchmal gerne abends ein bisschen Zeit und Ruhe für sich hätte. „Ich gehe dann halt morgens zum Yoga und mit Freundinnen frühstücken“, seufzt die lebenslustige alte Dame. Sie selbst ist Witwe, hat zwei Kinder allein großgezogen und bis vor drei Jahren als Erzieherin in einem Heim für behinderte Kinder gearbeitet. Sie hatte in ihren aktiven Jahren wenig Zeit für sich selbst und hoffte, im Ruhestand vieles nachzuholen, worauf sie früher verzichten musste – Reisen, Sport, geselliges Beisammensein mit Freundinnen und Freunden. Es kam anders. „Ich weiß ja selbst, wie schwierig es ist, Job und Familie zu vereinbaren“, sagt sie. Deshalb möchte sie ihre Tochter Sarai so gut wie möglich dabei unterstützen.
Dennoch war es für sie nicht einfach, als ihre 28-jährige Tochter sich vor fünf Jahren von ihrem Mann trennte und aus Mexiko-Stadt zurück nach Cholula ins Elternhaus zog. „Hier in Mexiko geht man selbstverständlich davon aus, dass die Großeltern für die Enkel sorgen“, hat Ortega beobachtet. Einer Umfrage der Universität Valle de México aus dem Jahr 2017 zufolge hüten 74 Prozent der Seniorinnen und Senioren das familiäre Eigenheim und halten es in Schuss, während ihre Kinder arbeiten. 60 Prozent kümmern sich zudem um die Enkel. In Ortegas Bekanntenkreis ist es völlig normal, dass die Großeltern ihre Enkel täglich aus der Schule abholen, verköstigen und beaufsichtigen. Bei Alleinerziehenden übernehmen fast immer die Großmütter die Betreuung, öfter aber auch Familien, in denen beide Elternteile voll berufstätig sind. Großväter werden traditionell weniger in die Pflicht genommen, aber auch das kommt vor, dass sie sich regelmäßig um ihre Enkel kümmern.
Enkel betreuen hält laut Studien fit
Das kann durchaus erfreuliche Wirkung entfalten. Studien haben gezeigt, dass vom Zusammenleben sowohl Enkel als auch Großeltern oft profitieren: letztere blieben so länger fit und hätten die Gelegenheit, familiäre Traditionen weiterzugeben; Enkel entwickelten so innige Beziehungen zu ihren Omas und Opas und ein Gefühl der Geborgenheit und Zugehörigkeit. Die Tatsache, dass sie sich um Enkel kümmern, könne sich sogar günstig auf die Gesundheit der Älteren auswirken und ihre Lebenserwartung verlängern, so eine Studie aus dem Jahr 2017, die in der Zeitschrift „Evolution and Human Behaviour“ veröffentlicht wurde. Aber das sei nur dann der Fall, wenn die Großeltern nicht überfordert würden und die Freiheit hätten, ja oder nein zu sagen, sagt die Kinderpsychologin und Kolumnistin Laura Ruiz Mitjana. Gerade das ist aber nicht selbstverständlich in Mexiko.
Denn durch die katholisch geprägte Gesellschaft zieht sich ein traditionelles Familienbild – bis hoch in die Politik. Präsident Andrés Manuel López Obrador kürzte gleich zu Beginn seiner Amtszeit 2018 die staatlichen Zuschüsse für Kinderkrippen mit der Begründung, die Kleinen seien bei den Großeltern doch viel besser versorgt, und diese würden ja nun von seiner Regierung eine Rente als Entschädigung bekommen. Sein damaliger Finanzminister Carlos Urzúa argumentierte mit einem bemerkenswerten Zirkelschluss: Von den 3,5 Millionen Kindern unter fünf Jahren in Mexiko würden 55 Prozent von ihren Großeltern beaufsichtigt, 29 Prozent von anderen Personen und nur 16 Prozent gingen in eine der 10.000 Krippen. Daher wäre es doch sinnvoller, man gäbe das Geld, das der Staat bislang in die Krippen steckte, direkt den Großeltern.
Gesagt getan: Nun haben alte Menschen ab 67 Jahren in Mexiko Anspruch auf eine staatliche Mindestrente von umgerechnet 150 Euro monatlich. Damit sind die Kosten für Grundnahrungsmittel und Hygiene notdürftig abdeckt. Ob die Seniorinnen und Senioren Enkel zu betreuen haben oder nicht, spielt dabei allerdings keine Rolle. Die Grundrente differenziert auch nicht nach sozialem Status. Die Opposition hält sie daher für ein sozialpolitisch fragwürdiges Instrument, das mehr in die Kategorie wahltaktischer Populismus falle.
Kurze Zeit nach den Kürzungen der Zuschüsse für professionelle Kinderbetreuung kam die Pandemie. Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten schlossen für eineinhalb Jahre; manche privaten Einrichtungen öffneten danach nicht wieder. Mehr als eine Million Kinder und Jugendliche gaben die Schule auf – entweder weil sie mangels Technologie nicht am Fernunterricht teilnehmen konnten oder weil sich die Eltern von Mittelschichtskindern die Privatschulen nicht mehr leisten konnten. Besonders betroffen waren die Kleinsten. 13 Prozent der unter Sechsjährigen wurden von Bildungseinrichtungen abgemeldet. Waren keine Großeltern für die Betreuung zur Hand, mussten die Kinder ihre Eltern zur Arbeit begleiten. Während der Pandemie nahm die Zahl von Kindern, die Marktstände oder Autowaschanlagen mit betreuten, stark zu.
Das patriarchalische Weltbild des linken Staatschefs
Feministinnen gingen gegen die staatlichen Kürzungen auf die Barrikaden. Sie kritisierten scharf das patriarchalische Weltbild des Staatschefs, der sich selbst als Linker versteht. Seine Politik passe nicht in die Moderne; er blockiere den Einstieg der Frauen ins Erwerbsleben, warfen sie ihm vor. Abgesehen davon könne man von Großeltern nicht dieselben pädagogischen Kenntnisse erwarten wie von professionellen Erzieherinnen und Erziehern. López Obrador entgegnete seinen Kritikerinnen, sie seien von der konservativen Opposition gekauft. Der Protest verhallte schließlich.
Mexiko ist zerrissen, nicht nur politisch. Da sind zum einen die wirtschaftlichen Anforderungen eines Schwellenlandes, in dem die Frauen in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte bei der Gleichstellung gemacht haben und zunehmend ins Wirtschaftsleben eingegliedert sind. Das steigende Bildungsniveau der Frauen hat zu einer niedrigeren Geburtenrate geführt. Die Fruchtbarkeitsquote ist laut dem Colegio de la Frontera Norte, einer staatlichen Hochschule, innerhalb einer Generation von sieben (im Jahr 1970) auf zwei Kinder (2020) pro Frau gesunken – und die Tendenz ist weiter fallend.
Zum anderen herrscht aber noch ein traditionelles Familienmodell, das den Frauen die Berufstätigkeit erschwert. Private Kinderbetreuungsangebote gibt es zwar – doch die meisten Mexikanerinnen können sie sich nicht leisten. Die Hälfte der mexikanischen Arbeitnehmer verdient umgerechnet zwischen 200 und 400 Euro im Monat, eine private Kinderkrippe ist kaum für weniger als umgerechnet 80 Euro zu haben. Die Öffnungszeiten sind oft nicht vereinbar mit den langen Arbeitstagen, die in Mexiko üblich sind. Erst im Januar 2023 wurde hier die Arbeitszeit von 48 Stunden die Woche auf 40 verringert. Hinzu kommt, dass die Betreuungsangebote kaum von Behörden überwacht werden. Immer wieder kommt es zu Unfällen oder sexuellem Missbrauch in staatlichen oder privaten Einrichtungen.
Großeltern haben wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung
Deshalb sind Großmütter noch immer diejenigen, die eine Schlüsselrolle bei der Kinderbetreuung spielen. Zahlen des mexikanischen Statistikinstituts Inegi zufolge sorgen sie sich um 55 Prozent der unter Sechsjährigen von berufstätigen Müttern. Die unbezahlte Haus- und Betreuungsarbeit entspricht demnach einem Viertel des mexikanischen Bruttoinlandsproduktes.
Die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID) hat die wirtschaftliche Bedeutung der Großeltern noch weiter erforscht und dabei Erstaunliches herausgefunden: Stirbt die Großmutter frühzeitig, verringert dies die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Tochter berufstätig ist, um über ein Viertel (27 Prozent). Blieb sie dennoch auf dem Arbeitsmarkt, verringerte sich ihr Einkommen um mehr als die Hälfte (53 Prozent). Für Söhne galt das nicht. Wo es staatliche oder erschwingliche private Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder gebe, sei dies weniger ausgeprägt, fand die Studie heraus. Wolle Mexiko dem entkommen, was Volkswirte als „middle-income-trap“ bezeichnen, also den strukturellen Problemen, die einen Entwicklungssprung vom Schwellen- zum Industrieland so schwierig machen, sollten Staat und Unternehmer gemeinsam den Seniorinnen und ihrer gesellschaftlichen Rolle mehr Aufmerksamkeit schenken, fordert die BID.
Doch das Problem ist nicht nur ein wirtschaftliches: Die Rentner spielten in den mexikanischen Familien mit ihrer Rolle als Ratgeber, Ausgleich und Bewahrer von Werten und Traditionen eine fundamentale Rolle für den familiären Zusammenhalt und die gesellschaftliche Stabilität. Diese wichtige Rolle werde aber von der Öffentlichkeit paradoxerweise überhaupt nicht wahrgenommen, geschweige denn wertgeschätzt, hat die Universidad del Valle de México festgestellt.
Zwischen familiärer Solidarität und Ausnutzen
Auch Sara Ortega steckt in dieser Zwickmühle. „Ich freue mich sehr über die Gesellschaft meines Enkels.“ Aber manchmal fühlt sie sich auch müde und überfordert. „Ich finde, meine Rolle ist, Emiliano zu verwöhnen. Ihn erziehen muss seine Mutter“, sagt die 63-Jährige. Doch das ist kaum möglich, wenn Emiliano seine Mama fast nur am Wochenende sieht. So verschwimmen die Rollen, kritisiert die feministische Journalistin Karen Robledo: „Die Großeltern erziehen die Enkel, während die Eltern von ihren Kindern als abwesende Figuren gesehen werden und je nach ihrem Verhalten als älteres Geschwister oder als zusätzlicher Erzieher wahrgenommen werden, nicht aber als primäre Bezugsperson.“
Enkelerziehung sei kein Gefallen, den die Älteren ihren Kindern schuldeten, findet Robledo. „Das ist eine schwierige Aufgabe, die man ernst nehmen muss, denn ein Kind braucht ein sicheres Umfeld, das ihm eine gesunde, altersgerechte Entwicklung ermöglicht.“ Das unentgeltlich von Großeltern zu verlangen, überfordere diese oft. Die Grenze zwischen familiärer Solidarität und Ausnutzen sei fließend, sagt sie. Dem pflichtet Psychologin Ruiz Mitjana bei: Großeltern sollten frei entscheiden können, ob, wann und wie oft sie sich um ihre Enkelkinder kümmern. „Sie haben sich bereits um ihre Kinder gekümmert, und jetzt ist es an der Zeit, dass sie ihren Lebensabend so genießen können, wie sie es möchten.“
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