„Ich widme mich den alltäglichen Kämpfen von muslimischen Frauen im Westen“

Jörg Kandziora
Leila Aboulela (zweite von links) im Gespräch mit anderen Autorinnen und Autoren auf dem African Book Festival im August in Berlin.
Literatur
Während des 5. African Book Festivals war die mit internationalen Literaturpreisen ausgezeichnete Autorin Leila Aboulela zu Gast in Berlin. Dort erläuterte sie ihre Motivation zum Schreiben und die Wahl ihrer Themen.

Leila Aboulela hat in Khartum und London Ökonomie und Politikwissenschaften studiert und lebt heute in Aberdeen.

Was hat Sie veranlasst, Schriftstellerin zu werden?
Lesen hat mich schon immer begeistert. Der Impuls zum Schreiben wuchs mit dem Wunsch, die Kultur, aus der ich komme, sichtbar zu machen. Ich wurde in Kairo geboren und wuchs in Khartum auf. Dort besuchte ich die internationale amerikanische Schule und anschließend eine katholische Mädchenschule. An der internationalen Schule kamen nicht viele Kinder aus dem Sudan, aber an der konfessionellen Privatschule gab es etliche muslimische Schülerinnen aus der Stadt. Trotzdem spielte der Islam dort keine große Rolle. Unterrichtet wurde auf Englisch; in den Schulbibliotheken fand ich das Tagebuch der Anne Frank und viele bekannte US-amerikanische Jugendbücher. Darin ging es um Weihnachten oder um einen Großvater, dessen Name in der Bibel stand. Bezugspunkte zu meinem Leben, meinem Alltag gab es keine – so erkannte ich damals bereits kulturelle Unterschiede.

Wann begannen Sie zu schreiben?
Anfang der 1990er Jahre heiratete ich und zog mit meinem Mann nach Schottland, wo er einen Job in der Ölindustrie annahm. Ich lehrte Statistik, das ich studiert hatte. Der Kulturschock, den ich damals erlebte, löste in mir den Impuls zum Schreiben aus. Die Menschen in Schottland wussten fast nichts über den Sudan und den Islam, beides prägte aber meine Identität. Allerdings waren sie aufgeschlossen. Ermutigt haben mich schottische Autoren, die ich kennenlernte und die sich selbst als Marginalisierte wahrnahmen, weil sie nicht zur Elite in London zählten. Ich nutzte ebenfalls solch eine Nische, denn es gab keine Literatur aus der Perspektive gläubiger Muslima und über Religion im weiteren Sinn. Motivierend waren auch Writers Workshops mit anderen Migrantinnen aus islamischen Gesellschaften. Gleichzeitig verbreiteten die Medien in Großbritannien während des Golfkriegs Anfang der 1990er Jahre viele Vorurteile über Muslime. Das ärgerte mich, dagegen wollte ich anschreiben. Anstatt Leserbriefe zu verfassen, wurden es Geschichten, Belletristik. 

Leila Aboulela: Anderswo, daheim. Lenos Verlag 2022, 238 Seiten, 25 Euro

Was haben Sie damals selbst gelesen?
Ich habe schottische Literatur gelesen, aber auch Bücher von Doris Lessing, die aus Simbabwe/Rhodesien kam, und von Buchi Emecheta aus Nigeria. Diese Frauen waren auch Migrantinnen. Zudem las ich indische Belletristik und sudanesische Schriftsteller, die auf Englisch oder Arabisch schrieben. Ich selbst denke über eine Geschichte, den Klang der Worte erst auf Arabisch nach und schreibe dann auf Englisch, denn damit bin ich aufgewachsen. Auch auf eine treffende Rückübersetzung ins Arabische lege ich großen Wert. 

Welchen Einfluss nehmen Verlage auf kulturelle Zuschreibungen?
Verlage und Buchmarkt kategorisieren nach unterschiedlichen Zuschreibungen, beispielsweise Literatur von Einwanderern, von People of Color, von internationalen Schriftstellern. Das wirft die Frage auf, wer darüber entscheidet, wie wir Autorinnen und Autoren kategorisiert werden. Es gibt ja viele Unterschiede innerhalb einer Gruppe, etwa wie „verwestlicht“ jemand ist. Ausschlaggebend sollte deshalb sein, wie wir uns selbst sehen. Zwar verbesserte sich im Lauf der Zeit die Integration von Migranten in die britische Gesellschaft etwas, doch der Prozess ist langsam und oft auch nur oberflächlich auf Marketing bezogen. Er reflektiert nicht die Realitäten. 
Als Autorin richte ich mich an Literaturinteressierte aus der englischsprachigen Gesellschaft mit Sympathien für den Islam und – bezugnehmend auf islamische Traditionen – auch für Migrantinnen. Es geht mir darum, persönliche Erfahrungen zu teilen, auch hinsichtlich unserer Verantwortung als Eltern – etwa für die schulische Ausbildung unserer Kinder und deren Auswirkungen auf unsere Erziehungsvorstellungen. Wissen über religiöse Zusammenhänge verliert an Bedeutung, das betrifft auch christliche Kontexte.

Leila Aboulela: Minarett. Lenos Verlag 2020, 340 Seiten, 24,90 Euro

Welche Themen haben besonders große Bedeutung für Sie?
Weibliche Religiosität, Glaube und Subjektivität bilden einen Mittelpunkt. Ich widme mich den alltäglichen Kämpfen von Muslima im Westen und will ihr Streben nach Integration und Identitätsfragen lebendig werden lassen. Ihr Gefühl, nicht britisch genug zu sein und sich deshalb ständig beweisen zu müssen. Dabei leben Muslima keineswegs erst seit den 1950er, 1960er Jahren in Großbritannien. In meinem Roman „Bird Summons“ reisen die drei Protagonistinnen arabischer Herkunft zum Grab von Zainab Cobbold (Lady Evelyn Murray), einer britischen Adeligen, die zeitweise in Nordafrika aufwuchs, zum Islam konvertierte und 1933 nach Mekka pilgerte. Es geht aber auch um keltische Fabeln und Elemente der mystischen Sufi-Dichtung aus dem 12. Jahrhundert. Die drei Frauen – es sind ganz unterschiedliche Charaktere – entdecken während ihrer surrealen spirituellen Reise viel über sich selbst sowie zugeschriebene und angenommene Rollen. 
Die Welt hat sich verändert, und so sind auch meine spirituellen Themen von Roman zu Roman komplexer geworden. Es ist wichtig, immer wieder Neues zu erzählen oder bekannte Geschichten neu zu bearbeiten.

Warum widmen Sie sich der britischen Kolonialzeit im Sudan? 
Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert und habe dabei auch etliches über Ereignisse in der Kolonialzeit gelernt, die sich ganz in der Nähe meines Elternhauses am blauen Nil abgespielt haben. Damit bin ich aufgewachsen. Gleichzeitig inspirierte mich unsere Familiengeschichte. Meine Mutter kam aus Ägypten und mein Vater aus dem Sudan, seine Mutter aus England.
Für „River Spirit“ habe ich im Sudan-Archiv an der Universität Durham geforscht. Dieser historische Roman thematisiert die Sklaverei im Sudan, aber auch die Grausamkeiten der Mahdi-Bewegung gegen die ägyptische Herrschaft in den Sudan-Provinzen Ende des 19. Jahrhunderts. In den Dokumenten fand ich einige Fußnoten zu Frauen in der Mahdi-Bewegung und Aufzeichnungen über einen Streitfall wegen einer gekauften Sklavin. Weitere Erklärungen fehlten aber. Diese Leerstellen füllte ich mit meiner Vorstellungskraft. So verstößt eine Frau gegen alle Konventionen und warnt den Mahdi vor einem geplanten Angriff, von dem sie zufällig gehört hat. Dadurch verhindert sie seine Niederlage und verhilft ihm zum Sieg.
„River Spirit“ stellt die Sichtweisen unterschiedlicher Protagonisten vor, auch auf den Nil und wie sie sein Wasser wahrnehmen. So geht es um einen schottischen Maler, der es mit Farben auf Leinwand zu bannen versucht, und um eine Sklavin, die das Nilwasser singen hört.

Das Gespräch führte Rita Schäfer.

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