In Tigray ist der Frieden in Gefahr

TIKSA NEGERI/REUTERS
Hunderttausende Menschen wurden während des Krieges in Tigray aus ihren Dörfern vertrieben. Wie diese beiden Frauen warten viele noch in Lagern auf ihre Rückkehr nach Hause.
Äthiopien
Seit neun Monaten schweigen im Norden Äthiopiens die Waffen. Doch die Lage in der Region Tigray ist nicht stabil, der von den Konfliktparteien vereinbarte Übergang stockt – auch weil sich die internationale Gemeinschaft zu wenig dafür interessiert.

Nach zwei Jahren verheerenden Bürgerkriegs in Tigray mit Hunderttausenden Todesopfern unterzeichneten die Konfliktparteien im November 2022 im südafrikanischen Pretoria ein Waffenstillstandsabkommen. Hauptziel der Vereinbarung zwischen der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) und der äthiopischen Regierung ist ein dauerhaftes Ende der Gewalt und eine Demobilisierung der tigrayischen Truppen, der Tigray Defense Forces (TDF). Nach einer Übergangsphase sollen Wahlen für ein neues Regionalparlament und für eine Vertretung der Region in äthiopischen Bundeseinrichtungen abgehalten werden. 

Für Tigray gilt nun wieder die äthiopische Verfassung, doch darüber hinaus hat die Zentralregierung keine der von der TPLF formulierten politischen Forderungen akzeptiert. Nachdem eine humanitäre Blockade Millionen Tigrayer an den Rand des Hungertods gebracht hat und es den TDF-Kämpfern zunehmend an Munition und militärischem Material gemangelt hat, vermittelt die Übereinkunft aus Pretoria den Eindruck, die TPLF habe kapituliert.

Schwieriger Start für die Übergangsverwaltung

Zur Gestaltung der Übergangsphase sollen sich die Konfliktparteien laut Abkommen über die Bildung einer „inklusiven Übergangsverwaltung der Region Tigray (TIRA)“ verständigen. Das hat sich bislang als ziemlich schwierig erwiesen, nicht zuletzt da die humanitäre Not in der Region, die allgemeine Unsicherheit und Fragen der Regierungsführung nach dem Ende der Kämpfe weiterhin viel Aufmerksamkeit erfordern. Auch müssen sich die beteiligten Interessenvertreter in Tigray erst noch über Struktur, Aufgaben und Machtfülle der TIRA einig werden.

In den monatelangen Beratungen brachten die Oppositionsparteien ihren Frust über den ihrer Ansicht nach unzureichenden Austausch und die unangemessene Eile zum Ausdruck und boykottierten die Gespräche zeitweilig. Schließlich schlug ein von der TPLF ernanntes Komitee ein Modell inklusiver Repräsentation in der TIRA vor: Demnach sollten 30 Prozent der Sitze an die TPLF gehen, 15 Prozent an andere politische Parteien, 25 Prozent an die TDF und 30 Prozent an die Zivilgesellschaft. Unter anderem weil sich drei Oppositionsparteien zurückzogen, erhielt die TPLF am Ende eine Mehrheit von 16 der insgesamt 27 Sitze in der TIRA. 

Im Abkommen von Pretoria geht es nur um die Verwaltung auf der höchsten Ebene. Außer Acht blieb die Schaffung politischer Strukturen auf den Ebenen darunter, die die Interessen der Bevölkerung auf lokaler und regionaler Ebene berücksichtigen könnten, sowie eines Gegengewichts zur Macht der Exekutive, etwa in Gestalt einer parlamentarischen Versammlung für die Region oder lokaler Räte.

Addis Abeba mischt informell mit

Die Zentralregierung in Addis Abeba war in die öffentlichen Debatten zur Ausgestaltung der TIRA nicht aktiv eingebunden. Aber Beobachter gehen davon aus, dass sie ihre Anliegen vertraulich nach Mekelle, der Hauptstadt von Tigray, übermittelt hat. Es kam insofern überraschend, dass Premierminister Abiy Ahmed den Vorstoß der TPLF ablehnte, Debretsion Gebremichael, den früheren Präsidenten von Tigray, an die Spitze der Übergangsverwaltung zu setzen. Diese Absage aus Addis Abeba verstärkte das Misstrauen in Tigray und vertiefte die Gräben zwischen Hardlinern und Reformern in der TPLF. Im Zentralkomitee der TPLF wurde dann in einer umstrittenen Wahl Getachew Reda, den die jüngere Generation aufgestellt hatte, mit nur einer Stimme Vorsprung vor dem Kandidaten des Exekutivkomitees der TPLF, Fisseha Haftetsion, zum Kandidaten gekürt. Addis Abeba akzeptierte das Votum und ernannte Getachew Reda zum Präsidenten der TIRA.

Getachew Reda leitet die Übergangsverwaltung für Tigray, die nach Ende der Kämpfe eingerichtet wurde. Er gehört zu den Jüngeren in der Führungsriege der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF).

Getachew Reda, Jahrgang 1974, verkörpert die neue Generation von TPLF-Führern. An dem 17 Jahre währenden Kampf der TPLF von 1974 bis 1991, bevor sie in Äthiopien die Macht übernahm, war er nicht beteiligt. Reda verfügt über einen US-amerikanischen Abschluss als Rechtswissenschaftler, drückt sich gewählt aus und ist in sozialen Medien aktiv. All das bringt ihm Sympathien bei der gut ausgebildeten jüngeren Generation in Tigray.

Die Wahl von Getachew Reda weist auf einen Bruch innerhalb der TPLF hin, der sich auf die TIRA und die Übergangsphase auswirkt. Zugleich wächst in der Opposition in Tigray und in der Öffentlichkeit die Kritik an der anscheinend beschränkten Autorität der TIRA, die gesamte Region zu verwalten und die Lebensgrundlage ihrer Bürger neu aufzubauen, wie es das Abkommen von Pretoria vorsieht. West-Tigray wird nach wie vor vom benachbarten Regionalstaat Amhara kontrolliert und verwaltet, der Berichten zufolge weiterhin Zehntausende Tigrayer aus ihren Häusern vertreibt. Zugleich attackiert die eritreische Armee Zivilisten im Norden von Tigray und blockiert sowohl humanitäre Hilfe als auch Beobachter der Afrikanischen Union.

Die Regierung trägt nicht zum Frieden bei

Die Verantwortung für viele Mängel der TIRA, die ihr viel Kritik eingebracht haben, liegt jedoch bei der Regierung in Addis Abeba. Obwohl sie Vertragspartei des Friedensabkommens von Pretoria ist, scheint sie nicht in der Lage zu sein, kohärent zur Umsetzung des Abkommens beizutragen. Zwar scheint die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration der TDF-Kämpfer gut zu funktionieren, ebenso die Absprachen zwischen den militärischen Führungen der Konfliktparteien. In anderen Sicherheitsfragen wie der nach der militärischen Kontrolle Tigrays durch die äthiopische Armee erscheinen die Bemühungen aber bestenfalls wenig ambitioniert, im schlimmsten Fall sogar kontraproduktiv.

Autor

Kjetil Tronvoll

ist Professor für Menschenrechte an der Universität Oslo und Vorstandsmitglied des International Law and Policy Institute (ILPI).

Viele Tigrayer verstehen nicht, dass die Zentralregierung offenbar kein Interesse daran hat, das Leben und Wohlergehen äthiopischer Bürger in Tigray vor Gewalt und Belästigung aus dem In- und Ausland zu schützen. Die anhaltende Präsenz eritreischer Truppen im Norden von Tigray und von Amhara-Milizen im Westen sind Paradebeispiele. Die Zentralregierung und die äthiopische Armee unterstützen zwar die technische Seite der Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von TDF-Kämpfern, die die militärischen Fähigkeiten Tigrays stark schwächen. Zugleich wirkt die politische und die militärische Führung in Addis Abeba unentschlossen und gespalten, wenn es um politisch heiklere Themen geht – etwa darum, die Führungen in Eritrea und Amhara dazu zu bewegen, die Kontrolle von Tigray an Addis Abeba abzugeben.

Ein noch stärkerer Hinweis darauf, dass die Zentralregierung mit Blick auf den Übergang in Tigray gespalten ist, ist die Entscheidung der Nationalen Wahlkommission von Äthiopien, die TPLF nicht wieder als politische Partei zuzulassen. Diesen Status hatte die Kommission der TPLF im Januar 2021 wegen „Beteiligung an gewalttätigen Akten der Revolte“ aberkannt. Die Kommission verbot TPLF-Führern zudem, sich an parteibezogenen Aktivitäten zu beteiligen, und beschlagnahmte alle Vermögenswerte der Partei. Hingegen heißt es im Abkommen von Pretoria ausdrücklich, die Regierung solle die TPLF von der Liste „terroristischer Organisationen“ nehmen und ihr das verfassungsgemäße Recht auf Beteiligung am politischen Geschehen zurückgeben. 

Die TPLF gilt noch als terroristische Organisation

Viele hat es überrascht, dass die Wahlkommission stur daran festhielt, die TPLF nicht wieder als Partei zuzulassen, und die Regierung sich dem nicht entgegengestellt hat. Die TPLF hat die Entscheidung und die Begründung der Wahlkommission angefochten. Sie argumentiert, dass das Abkommen von Pretoria und andere Entscheidungen zentralstaatlicher Institutionen die Klauseln des Wahlrechts aufheben.

Die in Äthiopien regierende Wohlstandspartei (Prosperity Party) ist mit Blick auf einige Schlüsselthemen zutiefst gespalten; regionale Zweige der Partei stellen auf Bundesebene getroffene Entscheidungen infrage. Premierminister Abiy Ahmed scheint Schwierigkeiten zu haben, den einstigen Verbündeten Amhara für den Friedensprozess in Tigray zu gewinnen. Statt einen sofortigen Rückzug aus West-Tigray zu fordern, fährt die Regierung die Strategie, amharische Truppen und Milizen schrittweise zu entwaffnen und zu reintegrieren. Wenn es auf diese Weise gelingt, so glauben viele, die Kontrolle über die militärischen Kräfte der Amhara zu gewinnen, dann werde die darauffolgende Verlagerung der administrativen Kontrolle von West-Tigray nach Mekelle den Bürgerkrieg nicht neu entfachen. Ob es so kommt, bleibt abzuwarten.

Eine gespaltene Wohlstandspartei, erhöhte regionale Spannungen zwischen Amhara und Oromia, anhaltende Attacken der Oromia-Befreiungsarmee, eine Reihe weiterer ethnischer Konflikte im Land: All das bindet Ressourcen und die Aufmerksamkeit der Zentralregierung und lenkt davon ab, den Übergang in Tigray zu gestalten. 

Zwei Kriegsopfer warten in einem Gesundheitszentrum in Tigrays Hauptstadt Mekelle auf ihre Physiotherapie.

Hinzu kommt, dass auch so manche Aktivität der internationalen Gemeinschaft eher hinderlich ist. Diese internationale Gemeinschaft – von den Vereinten Nationen über die Afrikanische bis hin zur Europäischen Union sowie den Vereinigten Staaten und weiteren bilateralen Partnern – hat alles in allem versagt, den Ausbruch eines absehbaren Krieges zu verhindern. Sie hat wenig dazu beigetragen, das enorme Leid und die Gräueltaten abzuwenden, denen das Volk der Tigray im Krieg ausgesetzt war. Nach der Unterzeichnung der Vereinbarung von Pretoria hat die internationale Gemeinschaft allenfalls zögerlich reagiert, die Hungersnot in Tigray abzuwenden. Sie hat auch nicht die anhaltende Destabilisierung der Übergangsphase durch Eritrea missbilligt.

Die Geber wollen ihre Beziehungen zu Äthiopien normalisieren

Es ist offensichtlich, dass die wesentlichen Geberländer ihre Beziehungen zu Äthiopien normalisieren und wieder Entwicklungshilfe leisten wollen. Sie pochen zwar auf die „Verantwortlichkeit für Gräueltaten“, doch es passiert kaum etwas, um entsprechende transparente und wirksame Mechanismen zu schaffen.

Es ist also mindestens paradox, wenn nicht sogar heuchlerisch, dass die US-amerikanische Entwicklungsagentur USAID und das UN-Welternährungsprogramm WFP im April gemeinsam die dringend benötigte humanitäre Hilfe für Tigray und das übrige Äthiopien ausgesetzt haben, nachdem korrupte Individuen in Militär und Verwaltung auf lokaler und regionaler Ebene und auf Bundesebene Hilfslieferungen abgezweigt haben. (Die Europäische Union hat kein Hilfsprogramm eigens für Tigray.) Mehr als sechs Millionen Tigrayer kollektiv für kriminelle Vergehen einiger weniger Personen zu bestrafen, wirkt scheinheilig angesichts der Tatsache, dass die Geber ranghohe äthiopische und eritreische Führer in Politik und Militär trotz Grausamkeiten gegen Zivilisten in Tigray straflos davonkommen lassen.

Indem die internationale Gemeinschaft die humanitäre Hilfe für Tigray ausgesetzt hat, hat sie der Legitimität der TIRA einen Schlag versetzt. Sie hat ihr internationales Ansehen beschädigt und der gegen Tigray gerichteten Rhetorik, die einige Kräfte in Äthiopien und Eritrea noch immer verbreiten, Auftrieb verliehen. Besorgniserregend ist nicht nur das immense humanitäre Leid in Tigray, sondern auch, dass auf diese Weise das Vertrauen der Tigrayer in die Fähigkeiten der TIRA untergraben wird, den Übergang zu gestalten. USAID und das WFP hätten genauso gut gemeinsam mit den äthiopischen Behörden auf regionaler und zentralstaatlicher Ebene der Veruntreuung von Hilfslieferungen nachgehen können, ohne die Hilfe komplett zu stoppen.

Der Zusammenhalt in Tigray wird schwächer

Da der Übergang in Tigray offensichtlich stockt, scheinen auch der Zusammenhalt der Tigrayer und ihre Unterstützung der TDF-Kämpfer während des Ansturms der Äthiopier, der Amhara und der Eritreer zu schwinden. Mit einer gespaltenen äthiopischen Regierungspartei und einer unentschlossenen internationalen Gemeinschaft gleicht das Bemühen der Übergangsverwaltung für Tigray um einen stabilen Übergang einer Herkulesaufgabe. 

Die äthiopische Kirche bittet um Entschuldigung

Die äthiopisch-orthodoxe Tewahedo-Kirche hat sich für ihre passive Rolle während des Bürgerkriegs in der Tigray-Provinz bei der lokalen Kirche und ...

Angesichts zunehmender Gewalt in den Regionen Amhara und Oromia haben die Zentralregierung und ihr Militär mit dringlicheren Problemen zu kämpfen, als den politischen Übergang im scheinbar befriedeten Tigray sicherzustellen. Internationale Medien haben den beendeten Krieg in Tigray und den Übergang in eine Nachkriegszeit auf ihrer Tagesordnung zurückgestellt und richten ihre Aufmerksamkeit stattdessen auf den sich selbst zerstörenden Sudan, der viel bessere Schlagzeilen liefert. Ohne größeres Interesse der Medien hat die internationale Diplomatie wenig Anreiz, sich für den umkämpften Übergang in Tigray einzusetzen.

Der Übergang wird sich also weiter voranschleppen, während die TIRA versucht, durch die zerstrittenen Lager in Tigray und an Gegenkräften auf zentralstaatlicher Ebene vorbeizunavigieren. Bleibt zu hoffen, dass in Tigray der Bürgerkrieg nicht erneut ausbricht.

Aus dem Englischen von Christine Lauer.

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Die in Pretoria getroffene Vereinbarung sollte den Frieden und den Wiederaufbau Tigrays sichern, doch in der Realität wird dieser Prozess von zahlreichen Herausforderungen behindert. Während die Waffen derzeit schweigen, bleibt die Region politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich instabil. Der Übergang stockt aufgrund von ungelösten Machtfragen, mangelnder Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft und fortbestehender Gewalt, etwa durch eritreische Truppen und Amhara-Milizen.

Die Uneinigkeit zwischen den Konfliktparteien und die fehlende klare Führungsstruktur innerhalb der Übergangsverwaltung verstärken das Misstrauen der Bevölkerung in eine nachhaltige Lösung. Zusätzlich untergraben die zögerliche Umsetzung der Abkommen und die eingeschränkte humanitäre Hilfe die Legitimität der Übergangsverwaltung. Ohne ein entschiedenes Handeln der äthiopischen Regierung und eine stärkere Rolle der internationalen Gemeinschaft besteht die Gefahr, dass der fragile Frieden in Tigray wieder in Gewalt umschlägt.

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