Weil die Krisen der Welt nicht weniger werden, sondern mehr, appellieren die Hilfsorganisationen Welthungerhilfe und terre des hommes in ihrem „Kompass 2023“ an die Bundesregierung, drohende Kürzungen im Haushalt 2024 noch abzuwenden. In ihrem 30. Bericht zur Wirklichkeit der deutschen Entwicklungspolitik legen sie den Schwerpunkt darauf, dass die Ampelkoalition den politischen Willen aufbringen solle, die Etats für das Auswärtige Amt (AA) und das Entwicklungsministerium (BMZ) nicht zu senken. Sie warnen, es wäre ein verheerendes Signal, wenn der UN-Gipfel zu den Nachhaltigkeitszielen (SDGs) im September in New York Rückschritte in der Umsetzung konstatieren würde und zugleich Deutschland, der zweitgrößte Geber der Welt, für die nächsten Jahre die Ausgaben für den globalen Süden zurückstutzte.
Die Bundesregierung habe auf die Krisen infolge des Ukrainekriegs und der Corona-Pandemie gut reagiert, hieß es bei der Vorstellung des „Kompass 2023“ in Berlin. Die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit (ODA) wurden zuletzt auf ein Rekordhoch von 33,3 Milliarden Euro gesteigert. Nun aber treten Finanzminister und Bundeskanzler auf die Bremse: Dem BMZ droht im nächsten Bundeshaushalt ein Rückgang des Etats von 12,2 Milliarden Euro 2023 auf 10,7 Milliarden 2024 und dem AA, dem Hauptfinanzierer von humanitärer Hilfe in der Bundesregierung, eine Kürzung von 7,5 auf 5,2 Mrd. Euro. Laut der mittelfristigen Finanzplanung soll auch in den folgenden Jahren der Rotstift angesetzt werden.
Schöne Ziele ohne Plan, sie umzusetzen
Eine verlässliche Planung der Entwicklungszusammenarbeit sehen terre des hommes und Welthungerhilfe gerade da in Gefahr, wo Kontinuität besonders gebraucht werde – etwa beim Übergang von Nothilfe zu Aufbauprojekten oder für Programme in den am wenigsten entwickelten Ländern (LDCs). Gerade dort müsse die Unterstützung wachsen, mindestens auf das erneut verfehlte Ziel von ODA-Mitteln in Höhe von 0,2 Prozent des Bruttonationaleinkommens, betonte Joshua Hofert, Vorstandssprecher von terre des hommes. Mathias Mogge, Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe, ergänzte, die Zahl der Gewaltkonflikte habe sich seit 2010 mehr als verdoppelt, Wetterextreme hätten zugenommen, und die Zahl der akut unterernährten Menschen sei 2022 zum vierten Mal in Folge gestiegen.
Kritisch merkt der Jahresbericht an, dass die Ampelkoalition zwar viele gute Ziele verkünde. Häufig komme sie über Willensbekundungen aber nicht hinaus. So sei erfreulich, dass zuvor unzureichend berücksichtigte Politikfelder wie die Förderung von sozialen Sicherungssystemen und Klimaresilienz nun ebenso im Fokus stehen wie gerechte Lieferketten und eine feministische Entwicklungspolitik. Eine entschlossene Politik zur Umsetzung sei indes weniger erkennbar.
Der „Kompass 2023“ fordert mehr Einsatz für Menschenrechtsprinzipien, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie zur Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen. Wo sich Zielkonflikte ergäben, weil Entwicklungsländer beispielsweise auch wichtige Wirtschaftspartner seien, müssten diese ausgetragen werden. „Menschenrechte dürfen wirtschaftlichen Interessen nicht untergeordnet werden“, mahnte Hofert. In autoritär regierten Ländern müssten für bedrohte Aktivisten und Opfer von Einschüchterung, Inhaftierung und Vertreibung Schutzmechanismen und Hilfsangebote aufgebaut werden. Menschenrechtliche Standards und Prinzipien sollten als Querschnittthema durchgängig bei Planung und Umsetzung von Entwicklungsprogrammen berücksichtigt werden.
Sorgfaltspflicht auch in Agrar-Lieferketten
Bei den Richtlinien für menschenrechtliche Sorgfaltspflichten in globalen Wertschöpfungsketten, die auf EU- und UN-Ebene beraten werden, solle die Bundesregierung sich dafür einsetzen, dass in Agrarlieferketten das Recht auf Nahrung und die Ernährungssicherheit stärker berücksichtigt werden. Unternehmen des globalen Südens und vor allem kleinere Agrarbetriebe bräuchten außerdem Unterstützung, um den neuen Anforderungen gerecht zu werden.
Zum neuen BMZ-Schwerpunkt, soziale Sicherungssysteme in Partnerländern zu stärken, merkt der Kompass an, Deutschland sollte als Beitrag zum G7-Ziel, bis 2025 zusätzlich eine Milliarde Menschen in solche Systeme einzubinden, ein Gesamtkonzept vorlegen. Zur feministischen Entwicklungspolitik ergeht die Mahnung, nicht mit Standardrezepten auf schnelle Erfolge abzuzielen, sondern "kontextsensibel" vorzugehen. Sonst drohe schlimmstenfalls eine Abwehrhaltung mit schädlichen Folgen für Frauen, Mädchen und sexuelle Minderheiten.
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