Eigentlich müssten zwei neue Berichte aus den Vereinten Nationen für traurige Schlagzeilen sorgen. Im ersten stellen die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO und das Welternährungsprogramm WFP fest, dass die Zahl der Menschen, die sich nicht ausreichend ernähren können, seit vier Jahren wächst. Gut eine Viertel Milliarde sind danach mindestens von „akutem Hunger“ betroffen, das ist die dritte von fünf Phasen der Ernährungsunsicherheit: Sie können ihren Mindestbedarf an Nahrung nur notdürftig decken, indem sie etwa wichtigen Besitz verkaufen, über ein Zehntel ist unterernährt. Unter extremer Nahrungsmittelknappheit, bei der das Risiko von Hungertoten wächst (Phase vier), leiden 35 Millionen in 39 Ländern, und fast 380.000 Menschen in 7 Ländern erleben eine regelrechte Hungersnot mit über dreißig Prozent akut Unterernährten und Hungertoten.
Die erschreckende Nachricht des zweiten Berichts: Die UN-Organisationen erwarten, dass die Lage in den 18 am stärksten betroffenen Regionen, die 22 Länder erfassen, im Laufe des Jahres noch schlimmer wird. Dringend werde dort mehr Nothilfe gebraucht, bevor Menschen ihre Lebensgrundlagen ganz verloren haben und in großer Zahl Hungers sterben.
Kriege sind ein Hauptgrund, aber nicht der einzige
Warum schreckt das die Öffentlichkeit so wenig auf? Zum Teil vielleicht, weil manche Befunde nicht überraschen. Dass die schlimmsten Hungerkrisen auf Kriege und Gewaltkonflikte zurückgehen, ist seit langem bekannt, die FAO und das WFP bestätigen es nun: Sie sind heute der Hauptgrund des Hungers in den neun der zehn am meisten betroffenen Staaten (in Pakistan war es eine Flutkatastrophe) und in einem Großteil der Hotspots wie dem Sahel. Kriege beizulegen ist die beste Hungerhilfe – nur leider notorisch schwierig in einer Zeit, in der mittlere und große Mächte, darunter westliche, im Süden wieder Konflikte untereinander austragen.
Doch dass die Zahl der von Ernährungskrisen Betroffenen zugenommen hat, liegt in erster Linie an Wirtschaftskrisen, besonders an globalen ökonomischen Folgen der Covid-Pandemie und des Ukraine-Krieges wie zeitweise sehr hohen Nahrungsmittelpreisen. Arme Länder können das nicht aus dem Staatshaushalt abpuffern, zumal Zinserhöhungen im Norden ihre Schuldenlast dramatisch erhöhen. Als dritten Grund von Hunger machen die UN Wetterextreme aus. Die seien bisher aber nur in wenigen Fällen der Hauptgrund, wobei natürlich oft mehrere Ursachen zusammenwirken.
Reiche Länder tragen zu Hunger noch bei
Das alles sind Indizien einer deprimierenden Zeitenwende: Nach Fortschritten im Kampf gegen den Hunger weltweit bis mindestens 2010 erleben wir nun Rückschritte in vier Jahren nacheinander. Dazu tragen Trends in der Weltwirtschaft sowie die Erderhitzung erheblich bei – also auch die Politik der reichen Länder. Das UN-Nachhaltigkeitsziel, Hunger bis 2030 völlig zu beseitigen, rückt so in kaum erreichbare Ferne.
Wenn es Vorrang hätte, müssten die Prioritäten der westlichen Staaten anders aussehen als jetzt. Sie müssten schnell Geld für Nothilfe auf den Tisch legen und sich ernsthaft für eine verlässliche multilaterale Finanzierung der humanitären Hilfe einsetzen. Sie müssten mit den G20 eine faire Lösung für Schuldenkrisen im Süden finden, die der Wirtschaft betroffener Länder auf die Beine hilft – auch wenn es mit Verlusten für Investoren einhergeht. Schritte zur Stabilisierung der Agrarmärkte, zum Beispiel Einschränkungen der Spekulation dort, würden helfen. Und natürlich müssten sie alles tun, die Erderhitzung zu begrenzen, und den Süden bei der Anpassung daran großzügig unterstützen.
Nichts davon erhält ausreichend Priorität. Statt über Alarmrufe wegen der Zunahme des Hungers erregen wir uns lieber über Details für eine Wende im Heizungskeller. Da könnten die UN auch mit der düsteren Prognose Recht behalten, die internationale Hilfe für Hungernde werde weiter sinken. Sind wirklich statt sachlicher Berichte erst wieder Bilder von Kindern mit von Hunger aufgetriebenen Bäuchen nötig, um das zu verhindern?
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