Was beschäftigt Sie gerade?
Wir müssen uns neu organisieren, nachdem unsere Dachorganisation in Russland verboten wurde. Und wir müssen die vielen Aktiven unterstützen, die Russland verlassen mussten, weil sie dort nicht mehr sicher sind. Zum Glück beschäftigen einige Universitäten und Gedenkstätten in Deutschland, mit denen wir vernetzt sind, Memorial-Mitarbeiter oder gewähren ihnen Stipendien – das hilft sehr.
Wieso ist Ihnen Erinnerungskultur so wichtig?
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine setzt eine jahrhundertealte imperiale Haltung Moskaus fort, die weder im Osten noch im Westen jemals wirklich reflektiert worden ist. Im Holodomor, der von der Sowjetunion bewusst herbeigeführten Hungersnot der 1930er Jahre, starben in der Ukraine um die fünf Millionen Menschen – das hat bisher in der europäischen Erinnerung kaum eine Rolle gespielt. Die Unkenntnis der Deutschen in Bezug auf die Willkür sowjetischer Behörden in der Besatzungszeit in Ostdeutschland wird bei unserer Initiative „Posledny Adres“ bzw. „Die letzte Adresse“ deutlich: Wir bringen Gedenktafeln an die früheren Wohnhäuser von Menschen an, die durch sowjetische Behörden schuldlos verfolgt wurden und in der Haft starben. Wer diese Vergangenheit nicht kennt, ist weniger wachsam, das ist eine Gefahr für die Demokratie.
Wie sind Sie zu Memorial gekommen?
Ich habe in der Schule Russisch gelernt, bei einer engagierten Lehrerin, die die Sprache und die Kultur liebte, aber nicht den Sowjetkommunismus. Später habe ich Russisch studiert und 1987/88 ein Sprachpraktikum am Puschkin-Institut in Moskau gemacht. Es war die Zeit von Gorbatschow und Glasnost, neue Initiativen suchten nach Massengräbern und forderten Geheimdienstakten an, gleichzeitig wurden die letzten politischen Gefangenen entlassen. Ich bekam Kontakt zur Dissidentenszene und erlebte die Anfänge von Memorial. Das hat mich geprägt.
Wie ist Ihr Verhältnis zur russischen Community in Deutschland?
Wir kooperieren mit Demokrati-ja, einer Organisation junger Oppositioneller, und haben Kontakte zum Forum russischsprachiger Europäer in Deutschland, aber auch zu Organisationen von Russlanddeutschen. Zur sowjetnostalgischen Szene haben wir keine Kontakte, aber es gab bisher auch keine nennenswerten Anfeindungen.
Wann waren Sie zuletzt in Russland?
Das war 2019, vor Corona. Im November 2022 war ich aber auf einer Konferenz in Vilnius, Litauen, und im Juli davor in Tbilisi, Georgien, wo mittlerweile viele oppositionelle Russen leben. Aber auch sie benehmen sich im Hinblick auf die Kolonialgeschichte nicht immer sehr sensibel. Viele von ihnen grüßen in Geschäften immer erst mal in ihrer eigenen Sprache – so wie das noch viele Briten in Indien tun.
Das Gespräch führte Barbara Erbe.
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