„Lulas Politik muss wohlwollend überwacht werden“

Der frühere brasilianische Präsident Lula da Silva freut sich am 30. Oktober in Sao Paulo, dass er im nächsten Jahr erneut Brasiliens Staatsoberhaupt wird. Bei der Stichwahl hat er knapp gegen Amtsinhaber Jair Bolsonaro gewonnen.
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Der frühere brasilianische Präsident Lula da Silva freut sich am 30. Oktober in Sao Paulo, dass er im nächsten Jahr erneut Brasiliens Staatsoberhaupt wird. Bei der Stichwahl hatte er mehr Stimmen als Amtsinhaber Jair Bolsonaro bekommen.
Brasilien
Nach den Wahlen in Brasilien sortiert sich dort die Zivilgesellschaft neu. Präsident Jair Bolsonaro hat viel kaputt gemacht, unter seinem Nachfolger Lula da Silva können Weichen neu gestellt werden – auch in der deutsch-brasilianischen Entwicklungszusammenarbeit.

Luiz Ramalho stammt aus Rio de Janeiro und ist seit mehr als 40 Jahren in der deutschen staatlichen und nichtstaatlichen Entwicklungszusammenarbeit tätig, unter anderem in Westafrika, Mexiko, der Region Südpazifik sowie Brasilien. Seit 2019 arbeitet er als entwicklungspolitischer Berater.
Herr Ramalho, sind Sie erleichtert, dass Lula da Silva die Wahlen in Brasilien gewonnen hat?
Ich bin sehr erleichtert, denn ich habe eine sehr persönliche Haltung zu dieser Wahl. Ich bin in den 1970er Jahren vor der Militärregierung in Brasilien nach Deutschland geflohen. Viele Freunde von mir wurden damals gefoltert und getötet. Bolsonaro hat die Militärdiktatur verteidigt und sich als Fan von Folter dargestellt. Er hat mal gesagt, der Fehler damals sei gewesen, dass die Militärs zu viel gefoltert und zu wenig getötet hätten. Insofern war das für mich eine sehr persönliche Geschichte.

Wie groß ist der Schaden, den Bolsonaro für die Arbeit für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz in Brasilien hinterlässt?
Bolsonaro hat gleich zu Beginn seiner Amtszeit gesagt, er sei nicht gewählt worden, um aufzubauen, sondern um abzubauen. Und er hat gesagt: „Während meiner Regierungszeit wird es keinen Sozialaktivismus geben.“ An diese beiden Aussagen hat er sich gehalten. Bolsonaro hat alle gesetzlich verankerten Möglichkeiten der Zivilgesellschaft, sich politisch und gesellschaftlich zu beteiligen – etwa in den sogenannten Partizipationsräten –, gleich in den ersten Monaten abgeschafft. Zudem hat er sämtliche staatliche Kontrollorgane etwa zum Umwelt- und Waldschutz oder zum Schutz von Indigenen rigoros abgebaut. Er hat wie bereits sein Vorgänger Michel Temer Arbeitnehmerrechte geschwächt. Zu seinem „Aufbauwerk“ hingegen gehört die Lockerung der Waffengesetzgebung. Insgesamt hat sich die Atmosphäre in Brasilien stark verändert; die gesellschaftliche Stimmung ist vergiftet. Das ist ein schweres Erbe für Lula, der ja nur ganz knapp gewonnen hat. 

Was muss Lula tun, um die Gesellschaft zu entgiften?
Lula kann gut verhandeln und versöhnen, das kommt ihm jetzt zugute. Er muss auf die wichtigen gesellschaftlichen Gruppen zugehen, um sie für seine Politik zu gewinnen. Das Gute ist, dass in Brasilien politische und gesellschaftliche Kräfte oft sehr anpassungsfähig sind. Nehmen Sie zum Beispiel die evangelikalen Kirchen, die an der Vergiftung und der zunehmenden Intoleranz großen Anteil haben. Doch schon jetzt haben einige Kirchenführer gesagt, sie würden auf Lula zugehen und mit ihm beten. Zudem muss Lula schnell etwas gegen die Armut und soziale Härten im Land tun. Das ist nicht einfach, weil Bolsonaro in großem Stil öffentliche Mittel verteilt hat – das ist ein Grund dafür, dass die Wahl am Ende so knapp ausgefallen ist. Noch zwei Tage vor der Wahl hat er einen „Weihnachtsbonus“ an 30 Millionen Menschen mit niedrigem Einkommen verteilt. Das sind letztlich alles ungedeckte Schecks, und Lula muss nun sehen, woher er das Geld nimmt. Ganz dringend ist zudem, dass Lula etwas gegen die Abholzung am Amazonas tut. Die ägyptische Regierung hat ihn zur Klimakonferenz COP 27 eingeladen und er hat zugesagt. Das heißt, Brasilien ist dort mit zwei Delegationen vertreten: einer ganz kleinen der noch amtierenden Regierung und der von Lula.

Wie stark hat die Amtszeit von Bolsonaro die staatliche und die nichtstaatliche Entwicklungszusammenarbeit von Deutschland und Brasilien beeinträchtigt?
Die Bundesregierung hat die Zusammenarbeit mit der Regierung Bolsonaro zurückgefahren, ohne einen echten Bruch zu riskieren. So hat sie etwa den gemeinsam mit Norwegen aufgelegten Amazonasfonds zum Schutz des Waldes nach Bolsonaros Amtsantritt eingefroren. Sie hat sich neue Partner gesucht – weg von föderalen Institutionen wie dem Umweltministerium, hin zu Institutionen auf der Ebene der brasilianischen Bundesstaaten. Für die brasilianischen NGOs war die Präsenz kirchlicher und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen aus Deutschland besonders wichtig. Das hat ihnen das Überleben gesichert. Diese Unterstützung wird auch nach dem Amtsantritt von Lula wertvoll bleiben, weil die Aufgaben so groß sind. 

Welche Themen sollten in der bilateralen Entwicklungszusammenarbeit jetzt ganz oben stehen?
Das Wichtigste ist, den Amazonasfonds wiederzubeleben. Brasilianische NGOs fordern, die Vergabe von Finanzmitteln aus diesem Fonds demokratischer zu gestalten. So könnten mit dem Geld etwa von Indigenen selbstverwaltete Fonds gespeist werden. Vordringlich in der Zusammenarbeit ist alles, was die Regierungsführung in Brasilien im Bereich Umweltschutz stärkt. Mittelfristig werden aber auch Themen mit Konfliktpotenzial stärker in den Vordergrund rücken. Eines ist das Handelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den Mercosur-Staaten. Brasilianische NGOs sagen, das Abkommen darf, wenn überhaupt, nur in Kraft treten, wenn es sanktionsbewehrte Umwelt- und Menschenrechtsklauseln enthält. Lula wiederum hat gesagt, das Mercosur-Abkommen dürfe Brasilien und die anderen lateinamerikanischen Länder nicht in die traditionelle Rolle von Rohstofflieferanten drängen, während die EU-Mitglieder umgekehrt Industrieprodukte liefern. 

Wie bereiten sich zivilgesellschaftliche Organisationen in Brasilien und Deutschland auf die Amtszeit von Lula vor?
In der entwicklungspolitischen Zivilgesellschaft beider Länder überwiegt natürlich Erleichterung angesichts des Wahlsiegs von Lula. Zugleich ist nicht vergessen, dass Lula und seine Partei in ihren ersten beiden Amtszeiten von 2003 bis 2011 teilweise Prioritäten hatten, die mit den Positionen der NGOs nicht vereinbar waren. Ein Beispiel sind große Staudammprojekte am Amazonas wie das von Belo Monte, die zur Vertreibung von indigenen Gruppen geführt haben. Insofern muss die künftige Politik von Lula gewissermaßen wohlwollend überwacht werden. Ganz wichtig ist zudem, dass zivilgesellschaftliche Organisationen wieder stabile Finanzgrundlagen bekommen. Viele NGOs hatten es geschafft, unabhängig von der Förderung aus dem Ausland zu werden, indem sie staatliche Mittel für ihre Arbeit eingeworben haben. Das ist unter Bolsonaro alles gekappt worden. 

Fließt ausreichend zivilgesellschaftliche Expertise in die staatliche Zusammenarbeit von Deutschland und Brasilien ein?
Klare Antwort: Die Zivilgesellschaft wird nicht genug beteiligt. Es gibt vor bilateralen Regierungsverhandlungen mit Brasilien ein etwas ritualisiertes Treffen auf Einladung des Entwicklungsministeriums mit deutschen nichtstaatlichen Organisationen und Stiftungen, darüber hinaus werden die NGOs aber nicht eingebunden. Warum lässt die Bundesregierung öffentliche Programme der Entwicklungszusammenarbeit nicht von brasilianischen NGOs durchführen anstatt ausschließlich von brasilianischen Regierungsstellen oder Consultingfirmen? Das gab es bereits Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahren in Gestalt der sogenannten Demonstrationsprojekte im großen Tropenwaldprogramm der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Das waren Projekte, die brasilianische nichtstaatliche Organisationen und Initiativen mit staatlichen Mitteln komplett in Eigenregie durchgeführt haben. Die waren außerordentlich erfolgreich.

Das kann die Bundesregierung aber nicht allein entscheiden…
Nein, aber die Regierung Lula wäre sicherlich bereit dazu. Der Regierungswechsel bietet also die Möglichkeit, zivilgesellschaftliche Organisationen stärker in die Planung, Durchführung, das Monitoring und die Evaluierung der bilateralen Zusammenarbeit einzubinden. Ein weiteres Instrument wären die schon erwähnten selbstverwalteten Fonds, die es indigenen Gruppen oder den Quilombolas, also der Gemeinschaft der Afro-Brasilianer, ermöglichen würden, sich selbst zu regieren. Das fehlt in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, und ich hoffe, dass die Bundesregierung innovativ genug ist, das in Erwägung zu ziehen. Bereits im kommenden März sollen die nächsten Regierungskonsultationen mit Brasilien stattfinden. Das ist eine Chance, die Entwicklungszusammenarbeit auf ganz neue Füße zu stellen.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.
 

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erschienen in Ausgabe 12 / 2022: Schlaue Maschinen
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