Es ist kurz nach drei Uhr nachmittags am 15. Februar in der Bergregion des Bundesstaates Rio de Janeiro. Über der historischen Großstadt Petrópolis ziehen sich Regenwolken zusammen. Eine Szenerie wie zu Beginn eines in Brasilien üblichen Spätsommersturms, der heftig, schnell und erfrischend über die Lande zieht. Doch diesmal kommt es anders.
An einem einzigen Tag regnet es doppelt so viel wie für den ganzen Monat üblich. Innerhalb weniger Stunden registrieren die Behörden 250 Erdrutsche, die Häuser, Schulen und Gesundheitsstationen mit sich reißen. Zwei Tage später liegt die Zahl der Todesopfer bei 238. Die ganze Stadt mit ihren 300.000 Einwohnern ist in Trauer; Tausende ihrer Bewohner haben ihre Häuser verloren.
Tagelang suchen Rettungsteams nach Vermissten und versuchen, Verschüttete zu bergen. Nationale Nachrichtensender berichten in dramatischer Weise: über den Vater, der seine gesamte Familie verlor; über die Frau, die zusehen musste, wie das, wofür ihre Familie ein Leben lang gearbeitet hatte, unter Trümmern begraben wurde; über das Kind, das von einem Augenblick zum anderen zur Waise wurde; über den jungen Mann, der alles verloren hat – nicht zuletzt Erinnerungsfotos und persönliche Dokumente.
Ein Bild völliger Zerstörung
„So etwas habe ich noch nie gesehen. Die Flüsse traten über die Ufer, und als die Wassermassen zurückgingen, hingen Autos in den Bäumen. Es war ein Bild völliger Zerstörung“, sagt die Physiotherapeutin Rosana de Oliveira, die vor acht Jahren aus São Paulo nach Petrópolis kam und hier eine Praxis eröffnete. „In kürzester Zeit war die Gemeinde mobilisiert. Schon nach wenigen Stunden erhielten wir tonnenweise Sachspenden, Familien öffneten ihre Häuser, um obdachlos gewordene Menschen aufzunehmen. Hunderte Menschen strömten auf die Straßen und halfen den Rettungskräften mit bloßen Händen, Trümmer aus dem Weg zu räumen.“
Auch sie selbst machte mit: Nächtelang sortierte sie Kleiderspenden, die aus allen Winkeln des Landes eintrafen, brachte mit ihrem Auto Essenskörbe zu denen, die alles verloren hatten, organisierte Unterkünfte für Kinder, die von ihren Familien getrennt wurden, und sammelte Dutzende versprengte Haustiere ein. „Es gab so viel zu tun, und wir hatten keine Ahnung, ob wir es richtig machten. Wir wussten nur, dass wir das Ganze irgendwie bewältigen mussten, unsere Stadt wieder aufbauen und neue Lösungen finden.“
Die Regierung schickte Dutzende Bagger, Kipplaster und anderes Gerät in die Region, andere Bundesstaaten schickten spezialisierte Suchteams. Schnellbauten wurden errichtet für Menschen, die in Hanglage wohnten und deshalb besonders gefährdet waren. Im ganzen Land gab es Solidaritätsaktionen für Petrópolis – es war wie eine nationale Kampagne, aber nicht von der Regierung entfacht, sondern von der Bevölkerung.
Die Opfer nicht wie passiv Erduldende behandeln
Autorin
Sarah Fernandes
ist Journalistin und Geografin in Brasilien. Sie berichtet über Menschenrechte und entwicklungspolitische Themen in Lateinamerika und Asien.Die Überlebenden hatten keine andere Wahl, sie mussten irgendwie weitermachen, trotz aller persönlichen und kollektiven Tragödien. Es mussten neue Wege gefunden werden, das Leben zu organisieren und Ziele zu setzen. Ihr Leben aber war fortan von der Katastrophe gezeichnet. So etwa das des 42-jährigen Elektrikers Hélito Fernandes Fraguas, der in Petrópolis geboren wurde und sein ganzes Leben hier verbracht hat. Für ihn ist es nicht die erste Katastrophe, die er direkt miterlebt: Als er 15 war, verlor seine Familie ihr Haus und ihren kompletten Besitz wegen eines Sturms.
Die Regenfälle von 2022 und ihre Folgen waren allerdings noch heftiger. Sobald er von den Erdrutschen hörte, schloss er sich den Rettungsteams an. „Die Wohnviertel in meiner Nachbarschaft waren völlig zerstört.“ Als er als Freiwilliger bei der Bergung half, stürzte ein Tunnel zusammen, so dass sich mit einem Mal ein riesiger Krater auftat. „Ich fiel vier Meter tief, und dabei wurde mein rechtes Bein von einem Felsen zerschmettert. Ich hatte viele Brüche, musste drei Mal operiert werden und kann mein Bein noch immer nicht beugen“, sagt er. „Ich bin bis heute in Behandlung und habe große Schmerzen.“ Seine Wunden sind tief und sie sind nicht nur körperlich. Fraguas konnte über Monate nicht arbeiten. Er musste wegen der Erdrutschgefahr aus seinem Haus ziehen und hat ein zweites Haus verloren, das er vermietet hatte, um sein Einkommen aufzubessern. Regnerische Tage machen ihm Angst.
„Für Petrópolis zu arbeiten ist jetzt meine Mission“
Trotz alldem hat das, was ihn massiv hätte traumatisieren können, seinem Leben auch eine neue Bedeutung gegeben: Fraguas ist heute Vizepräsident der Bewohnervereinigung seines Stadtviertels Quissama. Als solcher kämpft er verstärkt dafür, dass die Regierung Schutzmaßnahmen in Gang bringt, um weiteren Katastrophen entgegenzuwirken. „Als ich den Unfall hatte, wurde mir klar, wie viele Menschen mir nahe sind. Meine Familie, meine Freunde und meine Nachbarn beteten für meine Gesundheit, jeder in seiner Religion. Sie blieben die ganze Zeit an meiner Seite und ich merkte, wie viele Menschen es gibt, die mich mögen. Das gab mir Kraft und machte mich resilient.“ Heute arbeitet Fraguas daran, dass Petrópolis eine bessere Stadt wird, für seine Tochter und die anderen Kinder. „Für Petrópolis zu arbeiten ist jetzt meine Mission.“
Eben das gehört zu den Geheimnissen der Resilienz, betont die Psychologin Cecilia Rezende. Auch wenn Katastrophenopfer ihre Verluste nicht überwinden, können sie aus der Situation lernen, ihr Leben neu organisieren und ihre Ziele mit mehr Umsicht verfolgen. „Eine solche Katastrophe lässt sich nicht überwinden. Aber die Menschen machen sie zu einem Teil ihres Lebens. Wir können damit wachsen. Wir müssen für die Tragödie einen Platz in uns selbst schaffen, und dem Leben, das darauf aufbaut, Bedeutung geben.“ Resilienz, so die Psychologin, sei „die Fähigkeit, sich an schwierige Lebenssituationen anzupassen – wie ein Gummiband, das sich dehnen und wieder zusammenziehen kann.“
Fraguas und Tausende andere Katastrophenopfer von Petrópolis stehen vor dieser Herausforderung. Sie arbeiten daran, von der Regierung Ausgleichszahlungen zu erwirken, und fordern darüber hinaus, dass die Regierung die Hänge so befestigt, dass es nicht noch einmal zu derartigen Erdrutschen kommen kann. Und sie arbeiten gemeinsam daran, ihre Erinnerungen wieder erstehen zu lassen und ihrem Leben eine neue Bedeutung zu geben. „Das Leben hier ist gut. Ich kann gar nicht aufzählen, was hier alles gut ist. Es ist zwar sehr schwer, nach so einem kollektiven Trauma weiterzuleben. Aber das Leben hat auch so viele gute Seiten“, sagt Fraguas. Heute sei er ruhiger, geduldiger und höre anderen mehr zu. „Ich sage immer: Als ich fiel, starb ich – und wurde als besserer Mensch wiedergeboren.“
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