Dass Südafrika in einer schweren Krise steckt, ist kein Geheimnis. Der regierende Afrikanische Nationalkongress (ANC) ist längst nicht mehr das, was er 1994 zu Beginn der südafrikanischen Demokratie war: die Partei der Freiheit und Nelson Mandelas. Von Anfang an war es schwer, in einem Land extremer rassistischer Ungleichheit, großer Armut und Arbeitslosigkeit unter der schwarzen Bevölkerung und einer Geschichte verweigerter Bildungschancen eine funktionierende Demokratie aufzubauen. Und doch hatte Präsident Nelson Mandela mit seinem Versöhnungsgedanken und mit seiner Zuversicht einen gewissen Optimismus verbreitet. Unter seinem Nachfolger Thabo Mbeki wuchs allmählich auch die Wirtschaft langsam, auch wenn nicht alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen davon profitierten. Jacob Zuma versprach in seinem Wahlkampf dann eine Politik für die Armen und Benachteiligten – als Präsident aber brach er seine Wahlversprechen und verwandelte seine Regierung in eine Kleptokratie.
Zuma war freundschaftlich mit der aus Indien eingewanderten Familie Gupta verbunden, die ihn sowohl politisch als auch finanziell unterstützte. Im Gegenzug besetzte er nach und nach wichtige Machtpositionen mit Vertretern dieses Familienverbands, die ihm nahestanden, vor allem Führungspositionen großer staatlicher Betriebe wie Elektrizitätswerke, Eisenbahnen, Häfen, Straßenbau oder Fluglinien. So ermöglichte er der Familie Gupta das, was Fachleute „state capture“ nennen: die „Gefangennahme“ staatlicher Politik durch privatwirtschaftliche Interessen. Denn die Guptas sorgten dafür, dass bei sämtlichen Ausschreibungen von staatlichen Großaufträgen ihre Unternehmen den Zuschlag bekamen. Wäre es nach Zuma gegangen, hätte sich Südafrika langfristig zum Erwerb russischer Atomreaktoren zu astronomischen Preisen verpflichtet, um die hausgemachte Energiekrise in den Griff zu bekommen. Als er Anfang 2018 aus dem Amt katapultiert wurde, war die Regierung bankrott und internationale Ratingagenturen stuften Südafrika als Zielland internationaler Investitionen ab.
Präsident Ramaphosa blieb hinter den Reformerwartungen zurück
Cyril Ramaphosa wurde im Februar 2018 vor allem deshalb Präsident, weil er versprach, Südafrika zu „reformieren“. Lassen wir einmal beiseite, dass er als mehrjähriger Stellvertreter Zumas selbst kompromittiert ist. Sein knapper Sieg als ANC-Präsident über Zumas Kandidatin und ehemalige Ehefrau Nkosazana Dlamini Zuma wurde außerhalb des ANC weithin gefeiert. Seine Popularität war groß genug, um dem ANC bei den Wahlen 2019 zu einer Mehrheit von 58 Prozent zu verhelfen – deutlich mehr als erwartet. Obwohl er einige Erfolge verzeichnen konnte, blieb Ramaphosa aber weit hinter den Reformerwartungen zurück. Dazu kommt, dass seine Präsidentschaft noch immer mit der wirtschaftlichen und sozialen Krise ringt, die sich durch die Covid-19-Pandemie weiter verschärft hat.
Obwohl sich im Augenblick kein mächtiger Rivale abzeichnet, der Ramaphosa seine Wiederwahl als ANC-Führer streitig machen könnte, führt der Präsident doch eine in verschiedene Flügel gespaltene Partei, die er nur begrenzt kontrolliert. Viele im ANC, besonders die vom Zuma-nahen Flügel der sogenannten Radikalen Wirtschaftlichen Transformation (RET), stellen sich erbittert gegen Ramaphosas wirtschaftsfreundliche Reformen. Und selbst viele seiner Anhänger sind in dubiose Geschäfte verwickelt, die Staatsgelder in private Taschen lenken. So musste der ansonsten sehr erfolgreiche Gesundheitsminister zurücktreten, als bekannt wurde, dass er Mitgliedern seiner Familie staatliche Ausschreibungen für Covid-Schutzausrüstung zugeschanzt hatte.
Nach wie vor finden sich zudem in Schlüsselpositionen staatlicher Unternehmen ANC-Vertreter ohne angemessene Qualifikationen oder auch solche, für die Loyalität zum ANC wichtiger ist als Loyalität zum Gemeinwesen. So gut wie alle großen staatlichen Unternehmen, allen voran der Stromversorger Eskom, sind heute bankrott. Sie wurden unter der Präsidentschaft Jacob Zumas ausgeplündert und sind heute auf regelmäßige staatliche Hilfen angewiesen, um überhaupt weiter zu arbeiten.
Viel zu viele schwarze Südafrikaner gehen Tag für Tag hungrig ins Bett
Autor
Roger Southall
ist emeritierter Professor der Soziologie an der Witwatersrand-Universität in Südafrika.Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit mit einer Rate von 35 Prozent höher als je zuvor. Und das ist nur die offizielle Zahl – der wirkliche Anteil liegt wahrscheinlich bei um die 45 Prozent. Südafrika zählt weiterhin zu den Ländern der Welt, in denen Armut und Reichtum am ungleichsten verteilt sind. Viel zu viele schwarze Südafrikaner gehen Tag für Tag hungrig ins Bett. Kein Wunder, dass einige fürchten und viele hoffen, weniger als 50 Prozent der Südafrikaner könnten bei der nächsten Wahl ihr Kreuz beim ANC machen und die Regierungspartei – wenn sie das Wahlergebnis akzeptiert – deshalb mit der Opposition zusammenarbeiten muss.
Wie kann Südafrika aus diesem Schlamassel entkommen? Was tun die Südafrikaner dafür? Sind sie verzweifelt? Entwickelt sich Südafrika zu einem weiteren Simbabwe? Dort dezimiert die Regierungspartei ihre Gegner, fälscht Wahlen, hat den Bergbau an sich gerissen und veräußert in Zusammenarbeit mit internationalen kriminellen Banden wertvolle Rohstoffe, während sie über eine ansonsten bankrotte Wirtschaft präsidiert.
Zwei grundlegende Unterschiede zwischen Südafrika und Simbabwe
Es gibt aber zwei grundlegende Unterschiede zwischen Südafrika und Simbabwe. Zum einen blieb der bewaffnete Arm des ANC auch während des Befreiungskampfs immer unter der Kontrolle der Partei, niemals wedelte der Schwanz mit dem Hund. Im simbabwischen Freiheitskampf dagegen fusionierte die Partei mit dem Militär, so dass Simbabwe heute von einer mächtigen polit-militärischen Machtelite beherrscht wird, die keinerlei Opposition toleriert.
Zum anderen war die Zivilgesellschaft in Simbabwe schon immer schwach, während sie in Südafrika beim Umsturz des Apartheid-Regimes eine tragende Rolle gespielt hat. Zwar ist sie heute schwächer als damals, aber sie ist noch immer lebendig und kann auf eine gut entwickelte Tradition zurückgreifen, die Bevölkerung zu mobilisieren. Der ANC mag den südafrikanischen Staat beherrschen, aber nicht die südafrikanische Gesellschaft.
Es gibt denn auch Zeichen in Südafrika, die hoffen lassen. Zunächst einmal wird Präsident Ramaphosa für seine Mutlosigkeit und Unentschiedenheit im Umgang mit seinen Gegnern innerhalb des ANC immer wieder kritisiert, ebenso für seine mangelnde Bereitschaft, die weit verbreitete Korruption innerhalb der Regierung anzugehen. Zudem hat es aber auch ernsthafte Fortschritte gegeben, die Nationale Behörde für Strafverfolgung (National Prosecutions Authority) zu ertüchtigen. Es ist zu erwarten, dass die Zahl der Strafverfahren infolge der Jahre von „state capture“ steigt. Präsident Zuma selbst wird vermutlich demnächst vor Gericht aussagen müssen – im Rahmen der lang verschobenen Verhandlung des Bestechungsskandals um einen prominenten Waffendeal im Jahr 1998.
Die Bürger ziehen ihre Regierung zunehmend zur Rechenschaft
Außerdem hat Ramaphosa seinem eigenen Minister für Bergbau und Energie erfolgreich die Stirn geboten: Der wollte das Monopol des staatlichen Energieversorgers Eskom erhalten, während Ramaphosa Unternehmen die Möglichkeit zur Energiegewinnung aus Erneuerbaren gibt. Das schafft Gelegenheiten für Investitionen und könnte dazu beitragen, die Zahl der immer wieder auftretenden Stromausfälle zu senken.
Vor allem stellen die südafrikanischen Bürger unter Beweis, dass sie ihre Regierung zunehmend zur Rechenschaft ziehen, damit ihr Land funktioniert. Bei den Regionalwahlen letzten Herbst verlor der ANC die Kontrolle über fast alle großen Städte – er musste entweder Koalitionen eingehen oder ganz abtreten. Zivilgesellschaftliche Bewegungen wie „Verteidigen wir unsere Demokratie“ (Defend our Democracy) verschmelzen mit einer Reihe von Projekten rund um die Themen soziale Gerechtigkeit, Korruptionsbekämpfung oder Umweltschutz. In vielen Städten des Landes arbeiten Bürger über wirtschaftliche und ethnische Gegensätze hinweg zusammen, um beispielsweise Straßenreparaturen oder eine bessere Wasserversorgung zu erreichen. In einigen Fällen weigern sie sich sogar, Steuern an korrupte örtliche Behörden zu entrichten. Die Medien berichten nach wie vor frei und es gibt eine beeindruckende Zahl investigativer Journalisten, die auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene Korruption und Ineffizienz der Regierung öffentlich anprangern.
Kann Südafrika also vermeiden, ein zweites Simbabwe zu werden? Ja, kann es, auch wenn dem Land harte Zeiten bevorstehen.
Aus dem Englischen von Barbara Erbe.
Neuen Kommentar hinzufügen