Auf dem Dach des Kulturzentrums der sudanesischen Stadt Omdurman stehen mehrere Stuhlreihen unter freiem Himmel. Auf der anderen Seite des Nils kann man in der Ferne die Hauptstadt Khartum erkennen. Die Stühle stehen vor einer großen Leinwand und einem Lautsprecher, hinter ihnen sind Umrisse von Palmen und Häusern zu sehen. Die Filmvorführung beginnt, immer wieder kommen Leute auf das Dach. Wie jeden Samstagabend präsentiert eine Gruppe von Cineasten hier Filme, heute den Klassiker „Thelma und Louise“ von Ridley Scott aus den 1990er Jahren.
„Früher war das undenkbar“, sagt Rahiem Shadad, einer der Zuschauer. „Unter den kizan konnte man solche Filme nicht zeigen.“ Das arabische Wort für Becher, koz (kizan im Plural), ist ein Spottname für die früher herrschende Elite und deren Anhänger. Er geht darauf zurück, dass der verstorbene, sehr einflussreiche Islamist Hassan Al-Turabi politische Islamisten als „Gefäße“ bezeichnete, die aus dem „Ozean des Islam“ schöpften. Zusammen mit seinen „kizan“ regierte Omar Al-Bashir fast dreißig Jahre den Sudan mit harter Hand. „In dieser Zeit wurden Schauspieler und Kunstschaffende misstrauisch beäugt und kontrolliert“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Ruba El Melik. Dann erlebte der Sudan eine friedliche Revolution. Sie begann im Dezember 2018 und gipfelte im April 2019 in einem Militärputsch. Al-Bashir wurde gestürzt und sein Regime durch einen Übergangsrat ersetzt, auf den sich das Militär und die zivile Opposition geeinigt hatten. Bald darauf folgten auch im kulturellen und künstlerischen Bereich mehr Freiheiten.
Doch der Wandel erwies sich als prekär. Die gemeinsame militärisch-zivile Staatsführung währte knapp zwei Jahre, dann riss der Anführer des bewaffneten Flügels, General Abdel Fattah Al-Burhan, die Kontrolle über die Regierung an sich. Am 25. Oktober 2021 stellten die neuen Machthaber Premierminister Abdalla Hamdok unter Hausarrest und ließen mehrere Minister verhaften. Sofort brachen Proteste aus, mindestens 40 Zivilisten starben. Hamdok ist heute wieder im Amt, aber viele Aktivisten sehen in ihm einen Verräter an der Volksrevolution, da er sich mit den Anführern des neuen Putsches verständigt hat.
Große Veränderungen im kulturellen Bereich
Doch was immer nun auf politischer Ebene geschieht – große Veränderungen im kulturellen Bereich bleiben eine Tatsache. 2020 kam der erste Spielfilm, der seit zwanzig Jahren im Sudan gedreht wurde, in die Kinos: „Du wirst mit zwanzig sterben“ nach der Kurzgeschichte „Schlafend am Fuße des Berges“ von Hammour Ziada. Der Film handelt von Muzamil, einem Jungen in einem Dorf im Zentralsudan, den eine Prophezeiung verfolgt: Im Alter von zwanzig Jahren werde er sterben.
„Sowas konnte man nicht unter den kizan zeigen“, meint der Regisseur Amjad Abu Alala. „Ich sage in dem Film viele Dinge durch Muzamil. So spreche ich über den sudanesischen Bürger und sein Verhältnis zu Behörden, Religion und Gesellschaft. Ich möchte, dass die Leute den Film vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen interpretieren.“
Autorin
Jenny Gustafsson
ist freie Journalistin und lebt in Beirut im Libanon. Der Beitrag ist zuerst auf www.mashallahnews.com erschienen.„Hut ab vor jedem, der unter dem vorherigen Regime Filme gemacht hat“, sagt Suzannah Mirghani, eine sudanesische Filmemacherin, die ebenfalls in Katar lebt. Wie Abu Alala hat auch sie einen Teil ihrer Kindheit im Sudan verbracht. Ihren Kurzfilm „Al-Sit“ von 2020 hat sie nach dem Sturz des Regimes Al-Bashir gedreht, nicht weit vom Schauplatz von „Du wirst mit zwanzig sterben“.
Ein Symbol für den neuen Sudan
Auch „Al-Sit“ ist ein Porträt der sudanesischen Landschaft, aufgenommen inmitten endloser Baumwollfelder. Die Hauptfigur ist ein junges Mädchen, Nafisa, ihre Großmutter heißt Al-Sit. Nafisa soll mit einem sudanesischen Geschäftsmann, der am Golf lebt, verheiratet werden. Während des gesamten Films spricht sie kein einziges Wort. „Das war eine bewusste Entscheidung. Schweigen ist ein cineastisches Stilmittel, etwas sehr laut zu sagen. Über Nafisas Leben bestimmen andere, über ihren Kopf hinweg“, sagt Mirghani. Der Kurzfilm ist nicht nur eine Geschichte über Freiheit und Unabhängigkeit, sondern auch ein Symbol für den neuen Sudan. Er steht für die Idee, dass die Herrschaft und die Entscheidungsfindung beim Volk liegen sollten.
Beide Werke waren auf internationalen Filmfestivals zu sehen und haben eine Reihe von Preisen gewonnen. Mit „Du wirst mit zwanzig sterben“ hat sich der Sudan im vergangenen Jahr zum ersten Mal überhaupt um einen Oscar beworben. Der Film kann jetzt auf Netflix angeschaut werden.
Im Sudan jedoch ist keine der beiden Kinoproduktionen vor breiterem Publikum gezeigt worden. Unterdrückung und Zensur sind nicht die einzigen Schwierigkeiten, mit denen sudanesische Filmemacher konfrontiert sind. Es mangelt auch an Infrastruktur, Institutionen und Unterstützung kulturellen Schaffens.
Es ist schwer, überhaupt im Sudan zu arbeiten“, sagt der Fotograf und Filmemacher Khalid Awad, der sowohl an „Al-Sit“ als auch an „Du wirst mit zwanzig sterben“ mitgearbeitet hat. Sein Studio ist im ersten Stock eines kleinen Gebäudes in Khartum, unweit einer der Hauptverkehrsstraßen der Stadt. Drinnen befinden sich Kameras und Lichttechnik – alles aus dem Ausland in den Sudan geschafft, denn Ausrüstung bekommt man hier kaum. Eine Klimaanlage oder einen Ventilator gibt es nicht, denn beide würden mit Strom betrieben, der in Khartum täglich ausfällt. So ist die Arbeit in Innenräumen während großer Hitze unmöglich. „Wir bringen stets Generatoren zu den Dreharbeiten mit. Aber irgendwas ist immer. Hat man Strom, fehlt es an Gas oder an Benzin für das Auto“, sagt Awad.
In den 1960er und 1970er Jahren war der Film im Sudan groß
Etwas noch Grundlegenderes für jede Filmindustrie fehlt ebenfalls: Kinos. Im Sudan gab es einst über sechzig Filmtheater, und die Vorführungen waren regelmäßig ausverkauft. Anfang der 1980er Jahre gab es 16 Kinos in Khartum, einer Stadt mit damals rund 500.000 Einwohnern. „Es gab eine Zeit, in der mehr Kinokarten als Karten für Fußballspiele verkauft wurden“, sagt der Filmemacher Suleiman Ibrahim.
Er gehört zur ersten Generation von Cineasten im Sudan, die in Städten wie Kairo, Moskau und Berlin Film studiert hatten. Sie wuchsen in einem Khartum auf, das von den globalen Hippie- und Dekolonisierungsbewegungen der 1960er und 1970er Jahre geprägt war – und von einer Atmosphäre der unbegrenzten Möglichkeiten. „Zu dieser Zeit war der Film groß. In den Kinos konnte man indische, amerikanische und ägyptische Produktionen sehen. Manchmal brachten sie brandaktuelle Filme aus Japan oder Italien“, sagt Ibrahim Shaddad, ein weiterer Filmemacher der ersten Stunde. Beide Männer sitzen in einem schattigen Außenbereich von Ibrahims Haus an einer kleinen Straße in einem der ältesten Viertel von Omdurman.
Zwei jüngere Filmemacher sind auch da: Mahira Salim mit ihrem vier Monate alten Sohn auf dem Schoß und Suhaib Gasmelbari. Dessen Film „Sprechen über Bäume“ (Talking About Trees) porträtiert Ibrahim Shaddad und zwei weitere Filmemacher. Der Arbeitstitel dafür habe „Die Wartebank“ (The Waiting Bench) gelautet, erzählen sie. „So ist es, wenn man im Sudan Filme macht. Bist du reich? Hast du Verbindungen zum Geheimdienst? Wenn nicht, musst du entweder das Land verlassen oder dich hinsetzen und warten“, sagt Shaddad.
Die ersten sudanesischen Filme wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts gedreht, als das Land noch unter britisch-ägyptischer Herrschaft stand, sowie nach der Unabhängigkeit 1956. Die frühen Produktionen waren mehr oder weniger Propaganda für die Regierung zu Themen wie Folklore, Sport oder Tourismus. Die Ausnahme sind die Filme der verstorbenen Legende Gadalla Gubara, der 1955 den ersten afrikanischen Spielfilm in Farbe produziert hat. Als Ibrahim Shaddad, Suleiman Ibrahim und andere junge Filmemacher von ihrem Filmstudium im Ausland zurückkehrten, traten sie in Gubaras Fußstapfen. Sie drehten konzeptionelle und künstlerische Filme wie „Ein Kamel“ (A Camel), eine traumähnliche Produktion über ein Kamel, das eine riesige Sesammühle in Gang hält, und „Die Station“ (The Station). Dieser Film handelt von einer Familie, die auf dem Weg ins Krankenhaus an einem riesigen Busbahnhof festsitzt.
Doch in den 1980er Jahren begann das Interesse am Kino zu schwinden. Als Omar Al-Bashir 1989 mit einem Militärcoup die Macht übernahm, bedeutete dies das endgültige Aus für Filmtheater – und für die meisten kulturellen Einrichtungen des Landes. „Der Staatsstreich kam in einer Zeit, in der eine kulturelle Renaissance im Lande begonnen hatte. Die Menschen waren dabei, neue künstlerische Ausdrucksformen zu erforschen, aber der Putsch hat all dem ein Ende gesetzt“, sagt El Melik.
Trostlose Denkmäler einer vergangenen Zeit
Es ist nun schon Jahre her, dass das letzte alte Kino seine Pforten geschlossen hat. Die meisten Gebäude sind entweder verlassen oder werden anders genutzt – trostlose Denkmäler einer vergangenen Zeit. Das Coliseum in Khartum ist heute ein Parkplatz, ein anderes Theater in der Hauptstadt ist von der Armee besetzt. In Omdurman ist von einem der beliebtesten Kinos der Stadt nur noch die Fassade übrig. Bei einem anderen Lichtspielhaus bröckeln die Wände, aber alle Stühle sind noch da.
Das Interesse am Film ist jedoch geblieben. Im Jahr 2020 fand die sechste Ausgabe des Sudan International Film Festival statt. Die Filme wurden über die Hauptstadt verteilt im Freien gezeigt. Marwa Zeins „Khartoum Offside“, ein Dokumentarfilm über eine Gruppe sudanesischer Fußballspielerinnen, eröffnete das Festival.
Einige Tage vorher hatte sich abends eine Gruppe von Menschen im Außenbereich eines beliebten Cafés im Amarat-Viertel von Khartum versammelt. Dort wurde der Film „AKasha“ von Hajooj Kuka vorgeführt. Er spielt inmitten des Bürgerkriegs im heutigen Südsudan und erzählt auf humorvolle Weise die Geschichte eines Soldaten und seiner Freundin. Viele im Publikum hatten bis dahin noch nie Gelegenheit gehabt, die Folgen der Kriegführung des sudanesischen Regimes zu sehen: Das Fernsehen und andere Medien berichten nicht frei über Kämpfe und Konflikte im Land.
Das Interesse an der Schauspielerei steigt
Die Hauptdarstellerin von „AKasha“, Ekram Marcus, stammt aus der Region Südkordofan und war noch nie in Khartum. Diese Rolle war ihre erste schauspielerische Erfahrung – genau wie für Mustafa Shehata die als Darsteller von Muzamil in „Du wirst mit zwanzig sterben“. Abu Alala castete 150 junge Menschen, bevor er am letzten Tag des Vorsprechens schließlich die richtige Person fand, um Muzamil zu verkörpern. „Im Sudan gibt es kaum Schauspieler, da wir seit so vielen Jahren keine Filmindustrie mehr haben. Aber jetzt beginnt sich das Blatt zu wenden. Die Leute sehen die Schauspielerei ganz allmählich als etwas, womit man vielleicht Karriere machen kann“, sagt er.
Suzannah Mirghani hat für ihren Film „Al-Sit“ sowohl die Rolle der Nafisa (gespielt von Mihad Murtada) als auch die des Mannes, den das Mädchen heiraten soll, mit Laiendarstellern besetzt. Auch sie glaubt, dass sich die Dinge ändern könnten. „Der Sudan, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnere, war anders. Niemand hatte die Vorstellung, dass die Schauspielerei oder das Kino eine berufliche Chance sein könnten. Aber jetzt gibt es ernsthafte Filmemacher. Sie sind eine kleine Gruppe, aber es gibt sie“, sagt sie.
Noch ist es zu früh, von einem Revival des sudanesischen Kinos zu sprechen. Suhaib Gasmelbari, der Regisseur von „Reden über Bäume“ und von der Al-Jazeera-Dokumentation „Sudans vergessene Filme“ (Sudan’s Forgotten Films) über zwei Männer, die das nationale Filmarchiv des Landes leiten, sieht noch keine wirkliche Bewegung oder Wiederbelebung. „Es gab ein paar neue Filme und sie wurden auf Festivals gezeigt. Das ist sehr gut. Aber wir bewegen uns immer noch einen Schritt hinter der Startlinie.“ Vielleicht ist es wie in der Schlussszene von „Du wirst mit zwanzig sterben“: Muzamil rennt, aber niemand weiß wohin.
Aus dem Englischen von Anja Ruf.
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