Filme machen als Drahtseilakt

Eric Lafforgue/art in All of Us/getty images

Im Iran finden auch anspruchsvolle Filme ein Publikum: Kino im Zentrum der Hauptstatdt Teheran Ende 2015.

Iranisches Kino
Der Iran hat nach Indien die zweitgrößte Kinoindustrie Asiens. Ambitionierte Regisseure müssen zahlreiche Tabus umschiffen und machen trotzdem mit wenig Mitteln immer wieder innovative Filme.

Ende der 1960er Jahre, Iran in Schwarz-Weiß: Der Bauer Masht Hassan besitzt die einzige Kuh seines ärmlichen Dorfes. Das Tier ist sein Ein und Alles, Quelle für Einkommen und Ansehen zugleich. Eines Tages, als Hassan auf Reisen ist, wird die Kuh tot aufgefunden. Um dem Bauern das Leid zu ersparen, beerdigen die Dörfler das Tier und behaupten, es sei davongelaufen. Hassan jedoch traut der Geschichte nicht. In seiner Verzweiflung beginnt er, sich selbst wie eine Kuh zu verhalten. Er muht, lebt im Stall, kaut auf Stroh und steigert sich zunehmend in den Wahnsinn. Die Dörfler bringen ihn in eine Nervenklinik, wo er am Ende stirbt. 

„Die Kuh“ (1969), ein Film des damals 28-jährigen Regisseurs Dariush Mehrjui, ist ein Meilenstein des iranischen Kinos. Das eindringliche Meisterwerk hat eine neue Ära eingeläutet: Der Film, der die Verarmung und Verzweiflung der iranischen Landbevölkerung auf die Leinwand brachte, wurde zum Prototyp des sozialkritischen Kinos im Iran. 

„Die Kuh“ hatte auch politische Wirkung: Der regierende Schah Reza Pahlavi mit seinem Hang zum Mondänen und Luxuriösen ließ den Film verbieten, zeichnete er doch jenes Land als rückständig, das der Schah und sein Vater von oben nach europäischem Vorbild modernisieren wollten. Doch „Die Kuh“ wurde aus dem Land geschmuggelt und gewann einen Preis auf dem Filmfest in Venedig von 1971. Zum ersten Mal wurde der iranische Film im Westen wahrgenommen. 

Jahre später, nach der Islamischen Revolution von 1979, outete sich kein anderer als Ajatollah Khomeini als Bewunderer von Mehrjuis Klassiker. Khomeini soll von dessen realistischer Darstellung des iranischen Landlebens so berührt gewesen sein, dass er das Kino in der neu gegründeten Islamischen Republik nicht verbieten ließ. Seine Revolution verstand Khomeini als religiös legitimierten Aufstand der unterdrückten Massen gegen die dekadente Extravaganz des Schahs — die soziale Botschaft des Films passte zu dieser Auffassung. 

Ein Faible für alles, was aus Europa stammte

Politik hin oder her: Mehrjuis’ Werk bereitete den Weg für eine neue Form von Film, den iranischen Neorealismus — das cineastische Darstellen der ungeschminkten Wirklichkeit, insbesondere jene der unteren Gesellschaftsschichten, oft zum Missfallen des herrschenden Establishments. Andere Filmemacher, die in den Jahren darauf diese „Nouvelle Vague“ des iranischen Films vorantrieben, bauten auf Mehrjuis’ Stil auf. 

Irans moderne Filmgeschichte beginnt Anfang des 20. Jahrhunderts am Hof der Kadscharendynastie, die bis 1925 das damals Persien genannte Land regierte. Sie hatte ein Faible für alles, was aus Europa stammte, und brachte die ersten Kameras ins Land. Frühe Kinoproduktionen in den 1930er Jahren wurden unterbrochen durch politische Turbulenzen und die Schockwellen des zweiten Weltkrieges. Gegen Ende der 1940er Jahre nahm das Kino im Iran erneut Fahrt auf. 

In den Produktionen der Fünfziger und Sechziger spiegelte sich das Streben nach Modernisierung. Konzepte wie Moderne oder Nationalstaat wurden aufgeworfen, diskutiert oder angefochten; erste gesellschaftskritische Filme entstanden. Gleichzeitig bildete sich ein weniger ernstes Unterhaltungskino mit Kabarett, Tanz und Gesang heraus, das den Geschmack eines wachsenden urbanen Mittelklassepublikums bediente. Die „Neue Welle“ mit ihrem Vorboten „Die Kuh“ war eine Reaktion auf dieses seichte Populärkino. 

Nach der Revolution bemühten sich die Gründer der Islamischen Republik, eine Filmindustrie zu schaffen, die mit den konservativen Grundwerten ihres Systems vereinbar war. Am neu gegründeten staatlichen Filminstitut in Teheran wurden jährlich mehrere Tausend Filmschaffende ausgebildet. Sie genossen weitgehende künstlerische Freiheit, jedoch nur, solange sie die roten Linien nicht überschritten. Tabu sind bis heute vor allem die Darstellung von Sex, Alkoholgenuss und exzessiver Gewalt. Bei Frauen gilt auch auf der Leinwand die Kopftuchpflicht. Zudem darf die Legitimität der Islamischen Republik nicht infrage gestellt werden.

Durch die Blume und mit persischer Erzählkunst

Es entwickelte sich zum einen ein systemkonformes Kino, das die Revolution verherrlicht oder Themen wie den Widerstand gegen Amerika oder den „Märtyrerkrieg“ gegen den Irak (1980–1988) aufgreift. Zum anderen führen die Vorgaben der Zensurbehörde zu erschwerten Arbeitsbedingungen für freier denkende Künstler, aber auch zu einer gesteigerten Kreativität im persischen Arthouse-Kino. Bekannte Regisseure wie Abbas Kiarostami oder Mohsen Makhmalbaf wurden zu Meistern der subtilen Bilder und Metaphern.

Autor

Marian Brehmer

ist freier Journalist und Autor mit dem Schwerpunkt islamische Kultur von der Türkei bis Indien. Er lebt in Istanbul.
Der Film wird so in der Islamischen Republik zum Abbild der Gesellschaft, welcher er entstammt. Nicht nur spiegelt sich im Umgang mit Sinnbildern die Leidenschaft der Iraner für Poesie. Es spiegelt sich darin auch die kulturelle Eigenart der Iraner, Dinge indirekt erkennen zu lassen, statt sie direkt auszudrücken. Vieles wird durch die Blume gesagt, das Innere nur selten nach außen gekehrt. 

Außerdem können iranische Regisseure auf die langen Traditionen der persischen Erzählkünste aufbauen. Zwischen Zensur und dem Versuch, die Grenzen des Erlaubten stets ein bisschen weiter zu dehnen, entstand seit den 1990er Jahren so etwas wie ein eigenes persisches Genre, das heute auf den Bühnen internationaler Filmfestivals gefeiert wird. Spätestens mit der Goldenen Palme für Kiarostamis Film „Der Geschmack der Kirsche“ beim Festival von Cannes im Jahr 1997 brachte es der iranische Film zu internationalem Ruhm. 

Der meditative Filmstil von Kiarostami und die ästhetisch hochwertigen Werke seiner Kollegen trugen dazu bei, das Bild des Irans als fundamentalistischem Gottesstaat bei uns zu konterkarieren. Bis heute ist der Iran — der überwältigenden Marktdominanz von Hollywood zum Trotz — eines der wenigen Länder, die mit Arthouse-Filmen konstant internationale Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Seine Filmindustrie ist nach Indien die größte Asiens.

Im kulturellen Leben des Irans spielt das Kino eine hervorgehobene Rolle. Die Feuilletons bekannter Zeitungen widmen den neuesten Filmtrends weite Teile ihrer Berichterstattung. Auszeichnungen für iranische Produktionen im Ausland — auch und oft sogar gerade jene, die sozialkritisch sind — werden stark beachtet und bestätigen den iranischen Nationalstolz. Solche Preise wirken zumindest punktuell dem Eindruck entgegen, im Westen missverstanden oder wie im Falle der US-Sanktionen und der Kriegsrhetorik von Donald Trump unverhohlen bedroht zu werden. 

Der erste Oscar für einen iranischen Film

Eine Zäsur in der internationalen Wahrnehmung des Irans war die Verleihung des Oscars an das Drama „Eine Trennung“ von Asghar Farhadi im Jahr 2011. Der Film ist während der Präsidentschaft des polarisierenden Mahmud Ahmadinedschad entstanden. Die öffentliche Reaktion auf diesen ersten Oscar für einen iranischen Film war im Iran euphorisch. 

„Eine Trennung“ handelt von einer Ehe, die an unterschiedlichen Lebensplanungen zu scheitern droht: Während die Englischlehrerin Simin mit ihrer Tochter ins Ausland ziehen möchte, will ihr Ehemann Nader in Teheran bei seinem kranken Vater bleiben. Der Film beginnt mit einer Szene, in welcher der Zuschauer auf dem Stuhl des Scheidungsrichters zu sitzen scheint und den Aussagen der beiden Eheleute zuhört. Die Storyline des Films wird zunehmend verstrickter. Eine Kette von sich überschlagenden Ereignissen und neuen Protagonisten macht den Streifen äußerst komplex. Die Ausweglosigkeit der Situationen, in die sich die Protagonisten bringen, wird dadurch unterstrichen, dass die Szenen fast alle in geschlossenen Räumen spielen.

Farhadi, der als Theaterregisseur zum Kino gefunden hat, überzeugt in „Eine Trennung“ mit intelligenten Dialogen, multiperspektivischem Erzählen, einer wendigen Kameraführung und symbolkräftigen Szenen. Als Chronist seiner Gesellschaft greift Farhadi deren Bruchlinien auf: die Kluft zwischen den Generationen, das Spannungsverhältnis von Tradition und Moderne, die Entfremdung zwischen der konservativen Unterschicht und einer besser gestellten Mittelschicht. Wie Farhadi einmal sagte, kommt er an den Zensoren der Regierung vorbei, weil er alle Charaktere so zeige, wie sie sind – jedoch ohne sie und ihre Handlungen zu bewerten. Dass ein Arthouse-Film wie „Eine Trennung“ im Jahr seines Erscheinens der kommerziell zweiterfolgreichste Film in den iranischen Kinos war, sagt einiges über den Kinogeschmack der Iraner und ihr Bewusstsein für die sozialen Probleme des Landes aus.

Systemkritische Filme, im Ausland preisgekrönt

Die iranische Führung vollführt indes einen Balanceakt zwischen Förderung und Gängelung. Ein Filmprojekt mag anfangs subventioniert werden, unterliegt jedoch letzten Endes dem Urteil des Kulturministeriums. Stehen Szenen im Konflikt mit den offiziellen Linien, kommt die Schere zum Einsatz. Das führt nicht selten zu einem monatelangen Tauziehen zwischen den Behörden und dem Regisseur. Oft ist das Verhalten der Zensoren für die Filmemacher schwer vorhersehbar und hängt vom jeweiligen politischen Zeitgeschehen ab. Manche Kreative haben wegen dieser Ungewissheit das Land verlassen, andere lassen sich weiterhin auf die Anforderungen ein. 

Der bekannte Regisseur Dschafar Panahi etwa begab sich mit seinen Filmen, anders als sein kreativer Ziehvater Abbas Kiarostami, in dezidiert politische Gewässer. Damit eckte er an. Aufgrund seines Aktivismus während der Protestwelle der Grünen Bewegung von 2009 wurde Panahi zunächst zu einem Jahr Haft verurteilt und dann mit einem Filmverbot belegt. Dies hinderte ihn aber nicht daran, weiterhin unauffällig Filme zu produzieren und nach Europa schmuggeln zu lassen. Für seinen Film „Taxi Teheran“ (2015) bekam er den Hauptpreis der Berlinale. Der Gewinner des diesjährigen Goldenen Bären, Regisseur Mohammad Rasoulof, wurde erst im März wegen „Propaganda gegen das System“ zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. 

Derweil stand das 37. Fajr-Filmfestival, das wichtigste Kulturevent und ein internationales Aushängeschild der Islamischen Republik, in diesem Jahr unter schwierigen Vorzeichen. Seit 1982 findet das Fajr jährlich zum Jahrestag der Islamischen Revolution statt. Nachdem die iranischen Revolutionsgarden Anfang Januar versehentlich eine ukrainische Passagiermaschine abschossen und 176 Todesopfer verursachten und das zunächst vertuscht wurde, boykottierten zahlreiche Regisseure das Festival. Unter wachsendem öffentlichem Druck sahen sich die Veranstalter vom Kulturministerium gezwungen, die Eröffnungsfeier des Festivals abzusagen. 

Fest steht: Allen Widrigkeiten zum Trotz floriert das iranische Kino. Es ist innovativ wie kaum ein anderes, muss es sich doch allein schon wegen der Einschränkungen immer wieder neu erfinden. Dabei bleibt es ein präzises Spiegelbild der gesellschaftlichen Verhältnisse, ein Sprachrohr der Ungehörten und eine Antenne für unter der Oberfläche schwelende gesellschaftliche und politische Konflikte. 

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erschienen in Ausgabe 6 / 2020: Kino im Süden
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