Bei Sonnenaufgang steigt Pedro Torres auf sein Kartoffelfeld in den peruanischen Zentralanden in rund 3400 Metern Höhe. Der hochgewachsene Bauer prüft die Knollen, die unter der Erde wachsen. Was er feststellt, macht ihm Sorge: große Feuchtigkeit. „Zuerst hat der Regen auf sich warten lassen, und jetzt hört es gar nicht mehr auf zu regnen.“ Die feuchte Erde zieht Schädlinge an. Die von einem Pilz verursachte Kartoffelfäule hat weltweit ganze Ernten vernichtet und Irland Mitte des 19. Jahrhunderts in die Hungersnot getrieben. Heute hat Pedro Torres Angst, dass sie auch seine Kartoffeln befallen könnte.
Er baut auf 1,5 Hektar sogenannte „papas mejoradas“ an, also gezüchtete Kartoffelsorten. Alle paar Jahre kauft er frisches Saatgut beim staatlichen Agrarinstitut INIA. Seine Ernte kann er auf dem Markt im acht Autostunden entfernten Lima verkaufen. „Früher hatten nur die Kartoffelbauern im Tiefland Probleme mit Schädlingen“, erzählt Pedro Torres. Doch wegen der gestiegenen Temperaturen nisten sich heute Käfer, Pilze und Motten in Höhen ein, in die sie bislang nicht vordrangen. Deshalb haben kleine Hochlandproduzenten wie Pedro Torres nun mit Schädlingen zu tun, die sie früher nur vom Hörensagen kannten.
Die ersten Kartoffeln wurden vor 7000 Jahren auf fast 4000 Metern Höhe im peruanisch-bolivianischen Grenzgebiet um den Titicaca-See angebaut. In Peru ist die Kartoffel nicht irgendein Lebensmittel, sondern ein Nationalsymbol. Noch heute hüten Hochlandbauern an die 3000 Sorten wie einen Schatz. Auch Pedro Torres baut neben seinen Handelskartoffeln auf einem Viertel Hektar seine alten Sorten an. Liebevoll nennt er sie bei ihren Quechua-Namen: Falkenkopf, kleiner trüber Fluss, die mit der Farbe der Soldatenuniform, Löwin, Katzenpfote. In der bildhaften Sprache des Quechua werden die alten Knollen fast zu Familienmitgliedern. Jede Familie hütet ihre alten Sorten so wie deutsche Familien die Rezepte von Omas Weihnachtsplätzchen. Und so wie diese werden die alten Kartoffeln vor allem für den eigenen Gebrauch angebaut und manchmal auch verschenkt.
Die einfachste und schnellste Lösung – aber nicht die beste
Doch auch die alten Hochlandsorten leiden unter den veränderten Klimabedingungen. Das Wetter lässt sich schlechter vorhersehen. Entweder es regnet gar nicht, oder viel zu spät, oder es hagelt zu Unzeiten. „Manchmal sind es nur örtliche Phänomene, aber sie nehmen an Zahl und Intensität zu“, bestätigt Stef de Haan, ein niederländisch-peruanischer Forscher am Internationalen Kartoffelzentrum in Lima. Die Kartoffelbauern haben einen Weg gefunden, mit diesen Wetterschwankungen umzugehen. „Sie bauen ihre Sorten in größerer Höhe an und verteilen Anbau und Ernte auf mehr Monate im Jahr“, sagt de Haan. Doch da es inzwischen auch in großen Höhen mehr Schädlinge gibt, greifen die Bauern vermehrt zur Chemie, um sie zu bekämpfen. „Es ist für viele die einfachste und schnellste Lösung. So wie man in der Apotheke eine Tablette holt, anstatt einem Schmerz auf den Grund zu gehen“, erklärt de Haan.
Und so einfach wie man in Peru an Aspirin oder Ibuprofen kommt, so einfach kommt man auch an Agrargifte. Sie fehlen in keinem Dorf und keiner Kleinstadt und haben Namen wie „Der gute Sämann“ oder „Die Agroapotheke“ (Farmagro). Im Laden werden sie schon mal mit dem Bild eines Mannes in Ritterrüstung, der mit einem Schwert auf einen Käfer losgeht, angepriesen. Große wie kleine Geschäfte bieten Kunstdünger und weiße Plastikfläschchen feil, auf deren Etiketten „Bazuka“, „Destructor“ oder „Campeon Killer“ steht. Agrargifte gibt es problemlos überall, wo in Peru Landwirtschaft betrieben wird. Und wenn noch ein Bauer widerständig ist, dann bekommt er Besuch von einem sogenannten Berater, der auf Kommissionsbasis für die Hersteller und Händler arbeitet. „Leider gibt es sehr viel mehr solche als Berater getarnten Agrochemie-Vertreter als echte Berater, die von einer staatlichen Stelle oder einer nichtstaatlichen Organisation geschickt werden“, sagt de Haan.
Autorin
Der unsachgemäße Umgang mit den Chemikalien führt in den Anden immer wieder zu Tragödien. Am 4. August 2018 trafen sich die Kinder, Enkel, Geschwister, Nachbarn und Freunde zum Begräbnis von Victor Santos in ihrem Heimatdorf San Jose de Ushua. Beim anschließenden traditionellen Leichenschmaus wurden Hühnersuppe mit gequollenem Mais und ein Fleischeintopf gereicht. Schon brachen erste Gäste mit Bauchkrämpfen und Zitteranfällen zusammen und hatten Schaum vorm Mund. Das nächste Krankenhaus war Stunden entfernt. Neun Gäste zwischen 13 und 75 Jahren überlebten die Trauerfeier nicht. Die Autopsie ergab eine Vergiftung mit Organophosphaten, einer Gruppe beliebter Insektenvertilgungsmittel. Das Gift hatte der Hausherr direkt neben den Lebensmitteln aufbewahrt, es war wohl aus Versehen in den Leichenschmaus geraten.
Selbst die verbotenen Mittel kann man immer noch kaufen
Die Tragödie von San Jose de Ushua ist kein Einzelfall. Immer wieder kommt es zu Unfällen durch unsachgemäße Behandlung von Agrargiften. Die Bauern und ihre Familien tragen damit das höchste Risiko beim Gebrauch von Pestiziden. Obwohl die Schädlingsbekämpfungsmittel in Peru nach ihrer Gefährlichkeit mit verschiedenen Farben gekennzeichnet sind und die Mittel der giftigsten „roten“ Kategorie verboten sind, kann man diese immer noch kaufen – sei es, weil die Hersteller die bereits ausgegebene Ware nach einem Verbot nicht zurückrufen, sei es, weil sie weiterhin auf dem Schwarzmarkt erhältlich ist. Die giftigsten Mittel sind zudem am billigsten – und oft ist der Preis für die Bauern ausschlaggebend.
Als der frisch gebackene Agraringenieur Luis Gomero vor vierzig Jahren auf den elterlichen Bauernhof in die Anden zurückging, war er voller Illusionen, dass eine moderne Landwirtschaft mit Kunstdünger und Schädlingsbekämpfungsmitteln die Lösung für die peruanischen Bauern sei. Doch sehr bald merkte er, dass die Intensivlandwirtschaft, die er an der Universität gelernt hatte, nicht für die kleinteiligen, zerklüfteten Andenfelder taugte. Zudem fehlten Straßen, um die Ernte auf den Markt zu bringen. „Allein die Agrarchemie war in den Anden genauso verfügbar wie in der Plantagenwirtschaft an der Küste“, sagt Gomero und nennt damit einen Grund, warum bis heute Hochland-Kleinbauern übermäßig viele Agrargifte verspritzen. Luis Gomero ging einen anderen Weg. Der junge Agraringenieur begann, sein Universitätswissen zu hinterfragen. Heute ist Gomero 63 Jahre alt, Ökobauer und einer der Pioniere der biologischen Landwirtschaft in Peru.
Mit seiner Organisation Aktionsnetzwerk Alternative Landwirtschaft (Red de Acción en Agricultura Alternativa) macht er seit Jahren auf die Gefahren des Gebrauchs von Agrargiften aufmerksam und propagiert einen ökologischen Landbau. Dennoch habe sich allein zwischen 2010 und 2016 die Einfuhr von Schädlingsbekämpfungsmitteln nach Peru verdoppelt, sagt Luis Gomero. Ein Grund dafür ist die Ausweitung der Plantagenlandwirtschaft an der peruanischen Pazifikküste in Gestalt neuer Bewässerungsprojekte. Doch die Agrarunternehmen, die die Avocados und Mangos, den Spargel und die Paprika produzieren, die es später auch in deutschen Supermärkten zu kaufen gibt, gebrauchen die Insektizide und anderen Agrargifte sehr vorsichtig und sparsam. Die Kontrollen in den Abnahmeländern sind streng und schon mehr als einmal wurden Container mit Früchten und Gemüse wieder nach Peru zurückgeschickt.
Peru lässt seine Bevölkerung ungehindert Pestizide essen
Für die peruanischen Konsumenten dagegen kontrolliert niemand, ob die Grenzwerte eingehalten werden. Eine Diplomarbeit aus dem Jahr 2019 hat die Pestizidrückstände auf Gemüsefeldern im Chillon-Tal vor den Toren der Hauptstadt Lima untersucht. Das Ergebnis ist erschreckend: 40 Prozent des untersuchten Gemüses wies zu hohe Rückstände auf. Eine Stichprobenuntersuchung der Verbrauchervereinigung Aspec auf Märkten in Lima ist zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen. Peru, das sich im Ausland so gerne mit seinen Bioprodukten und dem gesunden Super Food brüstet, lässt seine eigene Bevölkerung ungehindert Pestizide essen.
Bisher hat das den meisten Peruanern wenig ausgemacht. Die großen offenen Lebensmittelmärkte werden so gut wie nicht auf Pestizidrückstände kontrolliert. Dem Gemüse selbst sieht man es nicht an, ob es belastet ist. Und selbst auf den immer beliebteren sogenannten Biomärkten ist nicht sicher, ob wirklich alles bio ist.
Für die Bauern ist die Anwendung biologisch hergestellter Schädlingsbekämpfungsmittel und biologischen Düngers aufwendiger, und die Ergebnisse sind nicht sofort sichtbar. Dies macht die Umstellung auf den ökologischen Landbau mühsam. Dazu kommt, dass der Ökolandbau arbeitsintensiv ist – und Arbeitskräfte für die Feldarbeit sind rar. Infolge des Drucks hin zu intensiverer Produktion geben Bauern zudem die Brachezeiten und den Fruchtwechsel auf. „Beides bildet aber das Rückgrat eines gesunden Landbaus“, meint Kartoffelspezialist Stef de Haan.
Biogemüse auch für ärmere Bevölkerungsschichten
Auch wenn die Umstellung Zeit braucht: Sowohl de Haan als auch Luis Gomero sehen Zeichen dafür, dass die Zukunft der Ökolandwirtschaft gehört. Die Wissenschaft bringt neue Erkenntnisse über verträgliche Anbaumethoden, und hohe Preise für Kunstdünger auf Basis von Erdöl würden eine ökologische Landwirtschaft auch auf dem Markt konkurrenzfähig machen, so de Haan. Luis Gomero dagegen verkauft sein Biogemüse auf einem Biomarkt im Norden Limas, wo eher ärmere Schichten leben, die bislang nicht mehr Geld für Bioprodukte ausgeben wollten. Dies habe sich durch die Corona-Pandemie geändert, sagt Luis Gomero: „Corona hat eine neue Nachfrage nach gesunden Lebensmitteln geschaffen.“
Wichtig sei, dass traditionelles und modernes Wissen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern sich ergänzen, sagt Stef de Haan. So wie bei Pedro Torres: Er baut auf dem Hochland gezüchtete Kartoffeln ebenso an wie die alten Sorten seines Großvaters. Beides hat seinen Platz. Für seine alten Kartoffelsorten will er kein Gift verwenden. Nächste Woche wird er ein biologisch hergestelltes Schädlingsbekämpfungsmittel anwenden. „Noch vertraue ich dieser Methode nicht, aber ich werde sie ausprobieren.“
Neuen Kommentar hinzufügen