Großmacht-Denken ist von gestern

Leo Baumgartner/Australian Defence Force via Getty Images
Eines der australischen U-Boote, die unter dem AUKUS-Pakt durch nuklearbetriebene ersetzt werden sollen.
Sicherheitspolitik
Globale Bedrohungen wie Klimakrise und Corona-Pandemien lassen sich nicht mit Waffen bekämpfen. Der Verteidigungsbegriff muss grundlegend überdacht werden, fordert Paul Rogers. 

Nach zwei Jahrzehnten Krieg gegen den Terror mit vielen Fehlschlägen werden paramilitärische Gruppen jetzt aus der Ferne bekämpft, während die stärksten Armeen wieder traditionelle Bedrohungen aus anderen Staaten ins Zentrum rücken. Beide Ansätze gehen an den echten Gefahren vorbei, die sich aus Marginalisierung, Pandemien und der Klimaänderung ergeben. 

Das Umdenken muss damit beginnen, dass man die Fehler im Krieg gegen den Terror anerkennt. Der Krieg gegen die Taliban in Afghanistan wurde verloren, nachdem Tausende Menschen getötet und Millionen vertrieben worden waren. Wie er sind auch drei andere, in erster Linie von den USA und ihren Alliierten geführte Kriege gescheitert. Der Irak-Krieg seit 2003 schien ebenfalls anfangs erfolgreich zu sein, mündete aber in einen erbitterten Aufstand und einen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. 2011 zog das Pentagon dort die letzten großen Militäreinheiten ab. Im gleichen Jahr führte der französisch-britische Militäreinsatz in Libyen zu einem sechsmonatigen Krieg, der mit der Hinrichtung des Machthabers Muammar al-Gaddafi endete. Die Hoffnungen auf einen Übergang zu einem prowestlichen, öl- und gasreichen Staat haben sich aber nie erfüllt. Stattdessen ist Libyen nun ein unsicherer Staat und ein Zentrum für die Verbreitung von Waffen und paramilitärischen Gruppen in der Sahel-Sahara-Region bis nach Mosambik. 

Schließlich gab es zwischen 2014 und 2018 den erbitterten Krieg gegen den Islamischen Staat im Irak und in Syrien (ISIS). Die US-geführte Koalition setzte dabei fast ausschließlich Kampfflugzeuge und bewaffnete Drohnen ein. ISIS wurde dann von irakischen Bodentruppen sowie kurdischen und proiranischen Milizen aus dem Gebiet vertrieben und schien zunächst besiegt. Doch jüngste Erfahrungen sprechen für das Gegenteil: In Afghanistan hat der IS-Khorasan Fuß gefasst, und die afrikanischen Zweigorganisationen rekrutieren mühelos perspektivlose, ausgegrenzte junge Männer. Dies ist Teil eines generellen Aufschwungs von aufständischen Bewegungen, die sich äußerst schwer bekämpfen lassen, zumal die USA und auch Frankreich kaum mehr konventionelle Streitkräfte dafür einsetzen wollen.

Als hätte es all die gescheiterten Kriege nie gegeben

Es ist bemerkenswert, wie die militärisch-industriellen Komplexe überall inzwischen fast nahtlos zum traditionellen geopolitischen Staat-gegen-Staat-Ansatz der Zeit vor den Anschlägen in New York 2001 zurückgekehrt sind. Fast so, als hätte es all die gescheiterten Kriege nie gegeben. Nur wenige Tage nach dem Abzug aus Afghanistan wurde das Militärbündnis AUKUS zwischen Australien, den USA und Großbritannien verkündet. Es scheint, als müssten wir uns wieder auf Bedrohungen zwischen Staaten konzentrieren, und China ist dabei der neue Feind des Westens. Großbritannien baut Militärstützpunkte in Bahrain und im Oman auf, richtet ein Marine-Büro in Singapur ein und schickt Flugzeugträger durch das Südchinesische Meer nach Japan und in den Westpazifik.  

Autor

Paul Rogers

ist emeritierter Professor für Friedensstudien an der Bradford Universität. Zu seinen Büchern gehören „Irregular War: ISIS and the New Threat from the Margins“ (London 2017) und Losing Control: Global Security in the 21st Century (London, 4. Auflage 2021).
Es wird stillschweigend akzeptiert, dass der Kampf gegen Aufständische und Paramilitärs weitergeht, nun aber mit bewaffneten Drohnen, Kampfflugzeugen, Spezialeinheiten, privaten Sicherheitsfirmen und örtlichen Milizen. Solche Kriege werden öffentlich wenig beachtet und minimieren die Zahl der Opfer unter den westlichen Soldaten. Zugleich steht der Wettbewerb der Großmächte wieder im Mittelpunkt des Sicherheitsdenkens, es wird aufgerüstet und insbesondere in Bezug auf China hat sich bereits ein Wettrüsten entwickelt. 

Kriegsgefahr ist für Militärkonzerne sehr profitabel, aber das Problem ist komplizierter. Als US-Präsident Eisenhower bei seiner Abschiedsrede 1961 den Begriff des „militärisch-industriellen Komplexes“ populär machte, sorgte er sich über den Aufstieg mächtiger Militärfirmen, deren Lobbymacht sich in Folge des Zweiten Weltkriegs über den gesamten Staat erstreckt. Sechzig Jahre später sind diese Komplexe in allen Gesellschaften mit großen Streitkräften fest verankert und keineswegs auf die westlichen Staaten beschränkt.

Russland taugt als Bedrohung nicht wirklich

Überall finden sich in ihrem Zentrum drei Elemente: die Streitkräfte selbst, die Rüstungskonzerne und Beamte in den Regierungen. Sie sind eng miteinander verbunden und tauschen ständig Personal und Informationen aus. Hinzu kommen Denkfabriken, von denen viele Geld von Militärfirmen erhalten, und Universitätsinstitute, die ebenfalls Forschungsgeld brauchen. Die grundlegende gemeinsame Aufgabe ist die Verteidigung des Staates, und so müssen all diese Gruppen besonderes Augenmerk auf potenzielle Bedrohungen legen, was ihnen auch hilft, mehr Geld zu beschaffen. In den 1990er Jahren war das für viele westliche Militärkomplexe nicht leicht, denn ihr Hauptfeind, die Sowjetunion, hatte sich aufgelöst. Die Terroranschläge von 9/11 und die folgenden Kriege haben da geholfen, aber sie sind nun vorbei. Russland lässt sich zwar als Bedrohung präsentieren, aber das klingt hohl, denn sein Bruttoinlandsprodukt ist kleiner als das von Frankreich oder Italien. 

Zum Glück für die westlichen Militärkomplexe gibt es nun die neue Bedrohung aus China. Das freut nicht nur diese, sondern auch ihre chinesischen Gegenspieler. Die Regierung in Peking hat mit vielen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, die Bevölkerung gewöhnt sich an Mittelklasse-Komfort – da helfen den chinesischen Militärkonzernen die Versuche des Westens, China zurückzudrängen. 

Der Blick auf Sicherheit muss sich weiten

Doch das Wesen von globaler Sicherheit wandelt sich. Wir haben heute mit riesigen globalen Anforderungen zu tun, denen sich mit militärischen Mitteln schlicht nicht beikommen lässt. Ein Virus lässt sich nicht mit Atombomben vernichten, und alle Flugzeugträger der Welt verhindern nicht von Klimaänderungen bedingten Zusammenbruch. Diese Gefahr und die Erfahrung der Pandemie zeigen, dass das Verteidigungsdenken radikal geändert werden muss. Der Blick auf Sicherheit muss sich weiten und auf die gemeinsamen Bedrohungen der Menschheit richten. 

Das Netzwerk „Rethinking Security”, dem Organisationen, Akademiker und Aktivisten aus Großbritannien angehören, versteht Sicherheit so: Es gilt, die Grundbedürfnisse der Menschen zu erfüllen, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zu schützen, Probleme wie Ungleichheit und Klimawandel zu bekämpfen, Geschlechtergleichheit und Integration zu fördern, Rassismus zu bekämpfen sowie Frieden und internationale Zusammenarbeit zu unterstützen. Das ist ein langer Weg. Doch der Ansatz ist ein fundamental anderer als bisher. Solange es an durchdachter politischer Führung mangelt und in Militärkreisen festgefahrenes Denken herrscht, wird der nötige Wandel kaum von einer Regierung ausgehen – es sei denn, die Zivilgesellschaft übt anhaltenden politischen Druck aus. Aktivisten, die sich für die Umwelt, für internationale Entwicklung und gegen Waffenhandel einsetzen, spielen dabei wichtige Rollen. Es braucht aber dringend auch radikalere Gruppen, die von innovativer Forschung in Denkfabriken und akademischen Zentren gestützt werden, um den Weg zu neuem Denken zu ebnen. Der Ausgangspunkt muss sein, dass das derzeitige Sicherheitsdenken völlig unpassend ist für eine Welt, in der die wichtigsten Bedrohungen uns alle gemeinsam treffen. Man muss sogar sagen: In einer zunehmend fragilen Welt wird der Krieg obsolet. 

Aus dem Englischen von Melanie Kräuter.

Permalink

Paul Rogers schreibt u.a. über die Liste der gescheiterten Kriege der USA und seiener Alliierten richtig: „ stattdessen ist Libyen nun ein unsicherer Staat und ein Zentrum für die Verbreitung von Waffen und paramilitärischen Gruppen der Sahel-Region bis Mosambik“…Keine Atombombe vernichtet den Virus und kein Flugzeugträger hält den Klimawandel auf. „Solange in Militärkreisen festgefahrenes Denken herrscht, wird der nötige Wandel kaum von einer Regierung ausgehen“.
Wenn, wie Rogers schreibt, „der Krieg obsolet wird“, versiegt allerdings auch die Quelle innovativer Industrieprodukte der Digitalisierung ( KI), die ja oft als Abfallprodukte ( PC..etc) aus der Militärproduktion entstanden sind. Wer wird dann dafür zuständig sein, in einer Welt ‚ohne Großmacht Denken‘ : ‚der Krieg ist der Vater aller Dinge‘(Heraklit)*

*
„Der Krieg ist der Vater aller Dinge und der König aller. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien.“ (Quelle: https://beruhmte-zitate.de/zitate/132561-heraklit-der-krieg-ist-aller-dinge-vater/)

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erschienen in Ausgabe 12 / 2021: Das Spiel der großen Mächte
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