Schlüsselregion im „Großen Spiel“

AP Photo/Mohammad Asif Khan
Nach der Rückeroberung Afghanistans halten mehrere Talibankämpfer im September in der Panjshir-Provinz im Nordosten Wache.
Afghanistan
Afghanistan spielt im Kalkül verschiedenster Großmächte schon seit Jahrhunderten eine strategische Rolle – nicht umsonst gilt das Land als „Friedhof der Imperien“. Jetzt sucht China dort eine Vormachtstellung. 

Am 15. August haben die Taliban Kabul nach zwei Jahrzehnten zurückerobert und drei Wochen später auch Pandschir, die letzte afghanische Provinz, in der sich Kräfte des Widerstands hielten. Ihr Sieg war spätestens unvermeidlich, seit US-Präsident Barack Obama 2011 den Truppenabzug aus Afghanistan angekündigt hatte. Die Art und Weise, wie Kabul fiel, bedeutet jedoch eine tektonische Verschiebung in der Weltpolitik und hat eine Wende im geopolitischen Spiel um Afghanistan eingeläutet.

Das Land gilt seit langem als „Friedhof der Imperien“, da fremde Mächte nicht in der Lage scheinen, das Stammesreich wirklich zu kontrollieren. Man kann es aber auch als eine Art Domäne ansehen, die von einer imperialistischen Macht an die nächste weitergegeben wurde. Alle wollten dabei von der geostrategischen Lage als Scharnier zwischen Ost und West, Nord und Süd profitieren. Das begann mit dem Perserreich vor über zwei Jahrtausenden. Seit dem Aufkommen des Islams im 7. Jahrhundert regierten verschiedene islamische Reiche das Gebiet, bis dann im 18. Jahrhundert paschtunische Fürsten der Durrani das erste afghanische Reich bildeten.

Die Briten als Kolonialmacht in Britisch-Indien waren nie daran interessiert, auch Afghanistan zu erobern, sondern wollten es nur als Puffer gegen die russische Expansion nach Süden erhalten. Das russisch-britische Gerangel im heutigen Afghanistan und Zentralasien wird als das „Große Spiel“ bezeichnet. Der britisch-afghanische Vertrag von 1919 führte zur Proklamation des ersten souveränen Staates Afghanistan, der bis 1978 als Königreich regiert wurde.

Nach 1945: Die USA übernahm die Vormachtstellung

Nach dem Zweiten Weltkrieg übernahmen die USA von Großbritannien die Rolle der Vormacht im „Großen Spiel“. Das machte Afghanistan zu einem kritischen Ort im Kalten Krieg, als von der Sowjetunion unterstützte Kommunisten in Kabul mit einem Staatsstreich 1978 die Macht übernahmen. Im selben Jahr stürzte die von den USA unterstützte persische Revolution von Ayatollah Ruhollah Khomeini den Schah Mohammad Reza. Der Aufstieg einer antiwestlichen schiitisch-islamistischen Theokratie im Nachbarland Iran beschleunigte eine dem Kalten Krieg ähnliche Polarisierung der muslimischen Welt in Schiiten und Sunniten.

Saudi-Arabien, der langjährige Verbündete der USA, reagierte mit der Finanzierung sunnitischer Dschihadistengruppen vom Nahen Osten bis nach Südasien. Zu den prominentesten Schlachtfeldern des saudisch-iranischen Konflikts gehörte Afghanistan. Der Sohn einer in Riad ansässigen Unternehmerfamilie verkörperte den von Saudi-Arabien finanzierten Dschihad dort wie kein Zweiter: Osama bin Laden, der 1988 al-Qaida gründete. Er gehörte zu den Mudschaheddin, die in Afghanistan die sowjetischen „Ungläubigen“ besiegen sollten. 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 und dem Sturz der von ihr gestützten Regierung in Kabul kämpften mehrere dschihadistische Fraktionen um die Kontrolle über Afghanistan. 1996 eroberten die 1994 gegründeten Taliban die Macht und riefen in Kabul ein islamisches Emirat aus. Das Land blieb politisch instabil, was andere Staaten ausnutzten. So wurde Afghanistan zu einem Zentrum dschihadistischer Gruppen. Saudi-Arabien wünschte es sich als Brutstätte für sunnitische Milizen für den Stellvertreterkrieg mit dem Iran. 

Pakistan setzte auf ein islamistisches Regime in Kabul

Am meisten investierte aber Pakistan in die Islamisierung Afghanistans. Pakistan war 1947 aus der Teilung von Britisch-Indien hervorgegangen und ist als einziger Nationalstaat auf islamischem religiösem Nationalismus gegründet. Indiens Unabhängigkeit kam zu einem Zeitpunkt, da das „Große Spiel“ und der beginnende Kalte Krieg zusammentrafen, und so wurde Pakistan als ideologischer Gegner des Kommunismus fest im westlichen Lager verankert – ein Gegengewicht gegen die Regierung Indiens mit damals sozialistischen Sympathien. Pakistan islamisierte sich schnell, auch als Abgrenzung zu Indien, das es immer als rein hinduistischen Staat betrachtete. Die Islamisierung war auch entscheidend, um die Herrschaft über sein multiethnisches Territorium aufrechtzuerhalten. 

Autor

Kunwar Khuldune Shahid 

ist Journalist in Pakistan und Mitglied eines Reporter-Netzwerks in Asien. Er schreibt für viele internationale Medien.
Nach dem Verlust des östlichen Landesteiles, der 1971 zu Bangladesch wurde, verstärkte sich die Paranoia unter den pakistanischen Eliten. Pakistan fürchtete nun eine indische Präsenz in Afghanistan, so dass Islamabad an zwei Fronten Indien gegenüberstünde. Zudem sah sich Pakistans Militär infolge der Geografie gegenüber Indien im Nachteil: Es hätte im Kriegsfall keinen Rückzugsraum. So setzte Islamabad darauf, dass ein islamistisches Regime in Kabul ihm Einfluss in der Region verschaffen würde. 

Auf der Grundlage der außerstaatlichen radikal-islamistischen Gruppen entstand in den 1980er Jahren dank des Geldes der USA und Saudi-Arabiens ein dschihadistischer Überbau. In den 1990er Jahren dirigierte Islamabad die islamistischen Milizen in der Region; die Taliban wurden von der pakistanischen Armee unterhalten und militärisch ausgebildet. Als die USA nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 in Afghanistan einmarschierten, fanden die Führung der afghanischen Taliban zusammen mit dschihadistischen Aufständischen wie dem Haqqani-Netzwerk Zuflucht in Pakistan.

Geostrategischer Sieg der Taliban

Obwohl Pakistan offiziell ein Verbündeter der USA war und von 2001 bis 2016 über 33 Milliarden US-Dollar für die Teilnahme am Krieg gegen den Terror erhielt, strebte Pakistan von Anfang an die Kontrolle über das Afghanistan nach dem Abzug der USA an. Der lautstarke Triumph in Islamabad seit August dieses Jahres hat gezeigt, dass dort der Sieg der Taliban als geostrategischer Sieg gefeiert wird. Indes ist das Land inzwischen China untertan. Der Wirtschaftskorridor China-Pakistan, in den China  rund 62 Milliarden US-Dollar investiert, ist für die 1,9 Billionen US-Dollar schwere Belt and Road Initiative (BRI) entscheidend. China möchte das Projekt nun weiter in die eigenen Hände nehmen.

Der Sieg der Taliban eröffnet China eine weitere praktikable Alternative, seine BRI weiter nach Süden auszudehnen – wenn die Dschihadistengruppe die chinesische Infrastruktur in Afghanistan besser schützen kann als die pakistanische Armee. Neben den fiskalischen Vorteilen einer Ausweitung der BRI würde Peking nach dem Rückzug der USA zum unangefochtenen Hegemon in der Region werden. Die Taliban, die dringend wirtschaftliche Unterstützung suchen, waren bereits im Gespräch mit China, bevor sie offiziell die Macht übernahmen. Seit westliche Länder ihre Hilfe für Afghanistan eingefroren haben, hat China Güter im Wert von 31 Millionen US-Dollar nach Kabul geschickt und seine Botschaft in der Stadt aufrechterhalten. 

Tatsächlich hat Afghanistan China viel zu bieten: Es besitzt große und wertvolle Bodenschätze. Und die Taliban tun bereits ihr Bestes, um Chinas Befürchtungen bezüglich einer Allianz mit einer Dschihadistengruppe zu zerstreuen. Talibanführer haben geschworen, Pekings Kampf gegen die Islamische Bewegung Ostturkestan (ETIM) zu unterstützen. Diese Miliz von Uiguren strebt einen separaten Staat in der chinesischen Provinz Xinjiang an, die an Pakistan und Afghanistan grenzt. 

China hat schätzungsweise eine Million uigurische Muslime in Konzentrationslager gesperrt. Die Uiguren, die in Afghanistan Zuflucht gefunden haben, befürchten nun, dass die Taliban sie unter Pekings Druck nach China abschieben werden, wie es Pakistan bereits tut. Die Taliban müssen jetzt uigurische Muslime im Auge behalten, die China pauschal als islamistische Separatisten ansieht.

Revierkämpfe unter Dschihadisten

In Afghanistan brechen indes Revierkämpfe unter Dschihadisten aus, besonders mit dem „Islamischen Staat“ im Gebiet Khorasan (ISK). Diese Gruppe trägt den Schwerpunkt der Operationen des „Islamischen Staates“ (IS), nachdem dieser 2019 großenteils aus dem Irak und Syrien verjagt wurde. Die Rivalität zwischen dem ISK und den Taliban hatte sich schon vor dem Abzug der USA in dschihadistischen Anschlägen gezeigt. Seit der Machtübernahme der Taliban tritt der ISK als vorherrschende „regierungsfeindliche“ Dschihadistengruppe auf. Er hat grausame Bombenanschläge verübt wie auf den Flughafen Kabul am 29. August und im Oktober schiitische Moscheen in Kundus und Kandahar angegriffen. 

Der Aufstieg der Taliban hat auch dem über Stellvertreter ausgetragenen saudisch-iranischen Konflikt eine neue Dimension hinzugefügt. Der schiitische Iran hat keine Probleme, sich mit sunnitischen Dschihadisten zu verbünden, wenn das eigenen geopolitischen Zielen nutzt – das zeigt die Unterstützung für die Hamas in Gaza. Teheran hatte gehofft, dass die antiamerikanische Haltung der Taliban sie bewegen könnte, Teheran entgegenzukommen, zum Beispiel beim Zugang zum Wasser des Helmand-Flusses, der aus Afghanistan kommend flache Seen im trockenen Grenzgebiet zum südöstlichen Iran speist. Doch die Gleichgültigkeit der Taliban gegenüber Massakern an einheimischen Schiiten, den Hazara, und ihre Weigerung, sie in ihr Kabinett aufzunehmen, zeigt, dass sie derzeit auf die Vorherrschaft sunnitischer Islamisten setzen.

Ein Anschlag, zu dem sich der IS ­bekannt hat, hat im Oktober diese schiitische Moschee in Kundus ­zerstört. In Afghanistan zeichnen sich nach dem Sieg der Taliban Kämpfe unter Dschihadisten ab.

Inzwischen ist im sunnitischen Teil der muslimischen Welt die Führungsrolle Saudi-Arabiens nicht mehr unangefochten. Die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) suchen ihren Einfluss in Südasien durch Vermittlung von Friedensgesprächen zwischen Pakistan und Indien zu stärken; Katar steht der Talibanführung nahe und war Gastgeber ihrer Verhandlungen mit den USA. Als die USA 2020 in Doha das Abkommen mit den Taliban unterzeichneten, unternahmen die Golfstaaten in Erwartung des Siegs der Taliban rasch geopolitische Schachzüge: Die VAE formalisierten die Beziehungen zu Israel, die arabischen Staaten stellten die Beziehungen zu Katar wieder her und die Führer Saudi-Arabiens und des Irans trafen sich im August zu einem Gipfel in Bagdad. Die muslimischen Staaten stellen sich darauf ein, dass in der nicht länger bipolaren islamischen Welt ein neuer islamistischer Spieler in Kabul aufgestiegen ist.

Da noch keine der regionalen oder globalen Mächte die Taliban diplomatisch anerkennen will, kann Pakistan wohl Königsmacher in Afghanistan spielen. Das würde unweigerlich bedeuten, dass China seine geoökonomische Hegemonie auf Afghanistan ausdehnen würde. Die Achse China-Pakistan-Taliban bleibt jedoch anfällig für Angriffe von innen und außen – nicht zuletzt vonseiten anderer radikal-islamistischer Gruppierungen. Deren Erfolg braut sich seit über einem halben Jahrhundert in Afghanistan zusammen.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2021: Das Spiel der großen Mächte
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