Denkmuster wie im Kalten Krieg

Wolfgang Ammer
Staatengemeinschaft
Am 9. und 10. Dezember lädt US-Präsident Joe Biden zu einem virtuellen "Gipfel der Demokratien" ein. Doch ein Club der Demokratien wird die Welt kaum demokratischer machen, meint Matthew Stephen. Stattdessen droht er die Staatengemeinschaft zu spalten und einen neuen Kalten Krieg mit China heraufzubeschwören.

US-Präsident Joe Biden hält am 9. und 10. Dezember einen internationalen „Gipfel für Demokratie“ ab. Wegen der Pandemie wird er online stattfinden; Vertreter von Regierungen, multilateralen Organisationen, der Zivilgesellschaft und des Privatsektors sollen teilnehmen. 

Biden zeigt als Nachfolger des unberechenbaren Präsidenten Donald Trump, der die demokratischen Institutionen der USA wie kaum ein anderer untergraben hat, großes Interesse daran, diese Institutionen zu Hause zu stärken und neue demokratische Verbündete im Ausland zu suchen. Laut einer Erklärung des US-Außenministeriums soll Bidens Gipfel „eine Agenda für demokratische Erneuerung aufstellen und die größten Bedrohungen, denen sich Demokratien heute gegenübersehen, durch gemeinsames Handeln angehen“. 

Die Ankündigungen bleiben vage. Aber der Gipfel dürfte sich auf neue internationale Selbstverpflichtungen für drei Bereiche konzentrieren: Korruption bekämpfen, Autoritarismus entgegentreten und die Menschenrechte fördern. Wenn das gelingt, soll es den Weg für einen Präsenzgipfel im nächsten Jahr ebnen. 

Neue ideologische Kluft nach altem Muster

Obwohl die Ziele lobenswert klingen, ist Skepsis angebracht. Die Idee von einer Art „Konzert der Demokratien“ kursiert in den USA schon einige Zeit. Die Politikwissenschaftler John Ikenberry und Anne-Marie Slaughter haben sie 2006 mit einem Projekt propagiert, das unter der Schirmherrschaft des Council on Foreign Relations entwickelt wurde, der führenden außenpolitischen Denkfabrik des Establishments in den USA. Damals lautete die Idee, eine selbst ausgesuchte Gruppe der wichtigsten demokratischen Staaten als Alternative zum Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) zu schaffen. Dies, so dachte man, könnte die UN-Reform anspornen und einen alternativen Weg zur Legitimierung von US-Militärinterventionen im Ausland aufzeigen. Es wäre Teil einer neuen Weltordnung, in der liberale demokratische Staaten eine „Welt der Freiheit“ schaffen könnten, notfalls mit Gewalt.

Joe Bidens Version des Konzerts der Demokratien spiegelt eine traditionellere Kalte-Krieg-Mentalität wider; nur verläuft die ideologische Kluft nun zwischen Demokratie und Autokratie statt zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Bei einem Treffen der G7 im Juni 2021 machte Joe Biden seine Sichtweise klar: „Ich denke, wir befinden uns in einem Wettstreit – nicht mit China an sich, sondern mit Autokraten, autokratischen Regierungen auf der ganzen Welt. Es geht um die Frage, ob Demokratien erfolgreich im sich schnell verändernden 21. Jahrhundert mit ihnen konkurrieren können.“ 

Es ist leicht zu erkennen, wie gefährlich eine Rückkehr zum manichäischen Weltbild des Kalten Krieges wäre. Schon die Einladungsliste wirft Probleme auf: Sie wird die Staatengemeinschaft unweigerlich in eine tugendhafte demokratische Welt und eine heimtückische und bedrohliche autokratische spalten. Die Realität widerspricht einer solchen schlichten Einteilung in Gut und Böse.

Nur vorgeblich demokratisch

Indien ist vielleicht das beste Beispiel. Einerseits hätte sein Ausschluss von einem solchen Gipfel das Land, das oft als die größte Demokratie der Welt bezeichnet wird, vor den Kopf gestoßen und den Anspruch untergraben, Demokratien jenseits der westlichen Welt zu vertreten. Doch andererseits könnte die Teilnahme Indiens an einem solchen Gipfel dazu dienen, die Regierung von Narendra Modi zu legitimieren – eine Regierung, die Indiens demokratische Institutionen untergraben und einen atavistischen Hindu-Chauvinismus gefördert hat. Ihre Mitglieder fallen zudem regelmäßig mit hasserfüllter Rhetorik gegen indische Muslime auf. 

Und nicht nur Indien stellt einen vor ein solches Dilemma. Jedes Gipfeltreffen angeblicher Demokratien wird es mit einer Reihe von Staatsoberhäuptern vorgeblich demokratischer Staaten zu tun haben, deren Eintreten für die Demokratie bestenfalls fragwürdig ist. In den vergangenen Jahren ließ sich sogar debattieren, wie gefestigt die Demokratie in den USA ist. Der Gipfel birgt somit die doppelte Gefahr, dass Staatsoberhäupter, die die Demokratie untergraben, legitimiert und zugleich die aus dem Club ausgeschlossenen Staaten dämonisiert werden.

Autor

Matthew D. Stephen

vertritt die Professur für Internationale Politische Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg und ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Global Governance am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Eine Rückkehr zu einer Weltsicht, die die Welt bequem in demokratisch (gut) und autokratisch (schlecht) einteilt, würde anfällig machen für letztlich selbstzerstörerische Fehleinschätzungen. Die Annahme, Autokratie in anderen Ländern stelle eine existenzielle Herausforderung für demokratische Staaten dar, führt zu einer überzogenen und oft falschen Wahrnehmung ausländischer Bedrohungen. Solch eine Denkweise hat die USA in Desaster geführt wie in Vietnam während des Kalten Krieges und im Irak unter George W. Bush.

Es ist auch nicht klar, was ein Konzert der Demokratien erreichen soll. Menschenrechte, Korruptionsbekämpfung und demokratische Regierungsführung sind international nur schwer durchzusetzen und werden schon von bestehenden multilateralen Institutionen gut abgedeckt. Dies bestärkt den Verdacht, dass der eigentliche Zweck darin abesteht, eine Koalition für die Konfrontation mit China und Russland zu schmieden; demokratische Werte würden gegenüber geopolitischen Erwägungen nur die zweite Geige spielen. So gesehen fügt sich Bidens Werbung für einen Demokratiegipfel in ein größeres Muster amerikanischer Bündnisbildung gegen China. Dazu gehören auch die jüngsten Versuche, den Aufgabenbereich der Allianz von den fünf Nachrichtendiensten der USA, Großbritanniens, Kanadas, Australiens und Neuseelands („Five Eyes“) zu erweitern, sowie die jüngste Gründung des Sicherheitspakts AUKUS zwischen den USA, Großbritannien und Australien. Die unter der Regierung Obama eingeleitete Wendung nach Asien wird unter Biden fortgesetzt.

Verschärfung der Spannungen mit China und Russland

Die Rückkehr zur Mentalität des Kalten Krieges und die fragwürdige Aufteilung der Staatengemeinschaft in eine demokratische und eine nicht demokratische Welt wird die Spannungen mit China und Russland anheizen zu einem Zeitpunkt, an dem Vorsicht und Pragmatismus geboten sind. Denn die Zusammenarbeit mit diesen und anderen nicht demokratischen Ländern ist von entscheidender Bedeutung, um für viele globale Themen wirksame globale Vereinbarungen zu finden – von Umweltzerstörung über internationalen Handel und Finanzstabilität bis hin zur Verbreitung von Kernwaffen. Es dürfte wenig hilfreich sein, diese Probleme durch einen ideologischen Konflikt zu verschärfen, dessen Maßstäbe teilweise scheinheilig und unweigerlich selektiv sind.

Es ist natürlich nichts dagegen einzuwenden, für demokratische Werte einzustehen und mit multilateralen Schritten die Integrität von Wahlen zu gewährleisten. Der Gipfel mag einige Regierungen veranlassen, ihre demokratischen Institutionen zu überprüfen und zu stärken. Auch mag die Botschaft, dass sich die Demokratie weiterentwickeln und an neue Probleme anpassen muss, etwas Begeisterndes haben. Diese Probleme sind jedoch in erster Linie entweder selbst verschuldet oder eine Folge der ungebremsten wirtschaftlichen Globalisierung – nicht das Ergebnis autokratischer Einmischung. 

Demokratie zu erneuern erfordert, dass man die weitverbreiteten inneren Fehlentwicklungen angeht: soziale Ungleichheit und Unsicherheit, gesellschaftliche Polarisierung und Nationalismus. Sie alle sind kaum das Ergebnis eines Erstarkens von Autokratien. Wenn die USA nun wieder einmal den Titel „Führer der freien Welt“ beanspruchen, passt das nicht zur Bescheidenheit, die erforderlich wäre, um die eigenen, versagenden demokratischen Institutionen zu erneuern. Jetzt, da die Ergebnisse von zwanzig Jahren „Demokratieförderung“ in Afghanistan unübersehbar sind, ist diese Demut mehr denn je gefragt.

Aus dem Englischen von Anja Ruf.

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Nicht nur nach dem Debakel des Westens und den USA in Afghanistan ( Abzug 2021), sondern auch vor allem im Irak ( Ulrich Tilgner Krieg im Orient, das Scheitern des Westens: https://www.youtube.com/watch?v=n3SVj2zIj6A) nach 9 /11 ist der Anspruch, ‚der Führer der freien Welt“ obsolet geworden, ebenso wie „die selbstzerstörerischen Fehleinschätzungen“ einer Einteilung der Welt in demokratisch = gut und autokratisch = schlecht. Hier ist der Ansicht von Prof. M. Staphan klar zuzustimmen, daß ein „Club der Demokraten“ durch Spaltung der Staatengemeinschaft einen Krieg mit China geradezu heraufbeschwört ( AUKUS Sicherheitspaket). Mit grossen „demokratischen Reden ( Obama zum arabischen Frühling in Kairo) wurde schon öfters indirekt die Lunte für neue verheerende Kriege eingeleitet: Die Neutralisierungen von Sadam Hussein und von Muhammed Gadaffi durch die USA bzw. durch die NATO waren auch von viel Demokratie-Palaver begleitet. Beide Länder haben sich zu ziemlich unregierbaren Staaten entwickelt ( s. mit offenen Karten, Arte: https://www.arte.tv/de/videos/RC-014036/mit-offenen-karten/).

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erschienen in Ausgabe 12 / 2021: Das Spiel der großen Mächte
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