Den indigenen und bäuerlichen Dorfgemeinden in Mexiko, sagt Ana de Ita, „wurde in den vergangenen Jahrzehnten der Boden unter den Füßen weggezogen“. Sie ist Direktorin des kleinen unabhängigen Studienzentrums für den Wandel im Mexikanischen Landbau (Ceccam) mit Sitz in Mexiko-Stadt und hat die Entwicklung auf dem Land seit den 1990er Jahren mit zahlreichen Untersuchungen und Fallstudien kritisch verfolgt.
Um ihre Aussage einordnen zu können, muss man wissen, dass Dorfgemeinden und Agrarverfassung in Mexiko untrennbar und auf besondere Weise miteinander verbunden sind. 56 Prozent des mexikanischen Territoriums befinden sich im Kollektivbesitz – zumindest auf dem Papier. Denn die nach der mexikanischen Revolution (1910 bis 1917) verabschiedete Verfassung verfügte die Aufteilung des Großgrundbesitzes und die Zuteilung von Boden an vertriebene oder landlose Bauern innerhalb neu zu schaffender Agrareinheiten, der sogenannten Ejidos. Außerdem wurden die kollektiven Landrechte der indigenen Gemeinden bekräftigt. Nach offiziellen Angaben existieren heute etwa 29.500 Ejidos und gut 2500 indigene Agrargemeinden. Sie nutzen den überwiegenden Teil des Bodens kleinbäuerlich und gemeinsam. Oft handelt es sich dabei um ausgedehnte Waldflächen und Quellgebiete. Für den individuellen landwirtschaftlichen Anbau werden Parzellen zugeteilt. Selten überschreiten sie die Größe von fünf Hektar.
Für das Ejido-Land galten drei wichtige Schutzprinzipien: Es darf weder veräußert noch verpfändet noch auf andere übertragen werden. Neben den Ejidos gibt es auch privaten Landbesitz kleiner und mittelständischer Bauern. Bis 1992 unterstützte der Staat diese Agrarstruktur mit vielfältigen Interventionen und garantierte damit auch die Stabilität der Dorfgemeinden.
Öffnung für die multinationale Agrarindustrie
Im Jahr 1992 aber beschloss die damalige Regierung unter Präsident Carlos Salinas de Gortari eine Modernisierung der Landwirtschaft, erklärt Ana de Ita. Dahinter standen die Verhandlungen für das 1994 in Kraft getretene NAFTA-Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada, die damals in vollem Gange waren. Staatliche Kreditgeber für Ejidos und bäuerliche Organisationen sowie öffentliche Saatgutunternehmen, Vermarktungseinrichtungen, Dünger- und Futterunternehmen wurden innerhalb kürzester Zeit weitgehend abgeschafft oder privatisiert, ebenso mit Garantiepreisen arbeitende Aufkaufinstanzen, fachliche Beratung und die staatliche Landwirtschaftsversicherung. Gleichzeitig bekamen die Ejidos die Möglichkeit, ihr Land an andere als ihre Mitglieder zu verpachten, Allianzen mit einheimischen und ausländischen Unternehmen einzugehen und das Ejido-Land durch Beschluss der Mitgliederversammlung zu privatisieren und damit auch zu verkaufen. Der mexikanische Landwirtschaftssektor wurde innerhalb weniger Jahre vollständig für die multinationalen Agrarkonzerne geöffnet.
Gesetzesreformen im Jahr 2007 öffneten den ländlichen Raum dann auch in großem Stil für Bergbaukonzessionen. Eine breit angelegte Energiereform in den Jahren 2013 - 2014 ließ schließlich letzte Barrieren gegenüber dem Privatsektor in der Strom- und Ölproduktion fallen und setzte weitere politische und wirtschaftliche Prämissen: Die industrielle Ressourcenausbeutung im Bergbau, im Bereich der Gas- und Erdölförderung, der Stromproduktion und auch beim Transport der Energieträger bekam „im öffentlichen Interesse“ absoluten Vorrang vor der landwirtschaftlichen Nutzung der Böden.
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Kein Platz mehr auf dem Markt
Ana de Ita zieht eine ernüchternde Bilanz: „Für die meisten mittelständischen und kleinbäuerlichen Erzeuger war angesichts der Konkurrenz unter NAFTA kein Platz mehr auf dem Markt. Sie haben schlicht nicht überlebt. Viele kleinbäuerliche und indigene Dorfgemeinden haben sich auf die reine Selbstversorgung zurückgezogen.“ Hunderttausende Kleinbauern verdingen sich inzwischen unter prekären Bedingungen als temporäre Erntehelfer für die meist im Norden Mexikos angesiedelten Agrarkonzerne. Denn während Mexiko immer mehr Grundnahrungsmittel wie Reis, Bohnen, Weizen und sogar Mais importiert, floriert beispielsweise der Export der auf riesigen Plantagen angebauten Beerenfrüchte in die USA.
Viele Dorfbewohner suchen nun Arbeit in den Städten. Die Männer als Maurer und Bauarbeiter, die Frauen nehmen häufig schlecht bezahlte Tätigkeiten im städtischen Dienstleistungssektor an. Für den millionenfachen Exodus aus den Dörfern diente lange Zeit die Migration in die USA als ein Ventil – bis das Nachbarland die Grenze immer mehr dicht machte.
Im Zuge des boomenden Bergbaus verpachteten Dorfgemeinden ihr Land auch an überwiegend aus den USA und Kanada stammende Unternehmen. Auch hier ist das Resultat bitter: Insbesondere der Tagebau hat weithin sichtbare Verwüstungen angerichtet und Böden zerstört. Das verpachtete Land ist für den Landbau nicht mehr nutzbar, die Hoffnungen auf nennenswerte Beschäftigung im Bergbausektor haben sich aber nicht erfüllt. Stattdessen haben Versprechen der Unternehmen oft soziale Konflikte innerhalb von Gemeinden hervorgerufen. So versprechen Großunternehmen, unter anderem Bergbaukonzerne, oft den Bau von Schulen, Krankenhäusern oder Sportplätzen in Gemeinden. Dann ist angesichts des Bedarfs häufig ein Teil der Gemeindemitglieder bereit, den Unternehmen entgegenzukommen, andere lehnen das ab.
Das organisierte Verbrechen füllt die Leerstellen
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Trotz der widrigen Umstände bleibt immer noch ein gutes Fünftel der mexikanischen Bevölkerung in den Dorfgemeinden. Dabei spielen die „remesas“, die Rücküberweisungen der Migranten an zurückgebliebene Familienmitglieder, eine herausragende Rolle. 11,5 Millionen Mexikaner leben und arbeiten legal oder auch ohne gültige Papiere in den USA. Entgegen aller Prognosen und selbst in Zeiten der Pandemie haben ihre Rücküberweisungen mit jährlich zweistelligen Zuwachsraten seit 2015 einen Rekord nach dem anderen übertroffen. Für 2021 wird der Wert der remesas mit knapp 50 Milliarden Dollar voraussichtlich vier Prozent des mexikanischen Inlandsproduktes entsprechen.
Der Präsident will den ländlichen Raum wiederbeleben
Die amtierende mexikanische Regierung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador ist bei den Wahlen 2018 mit der Ansage angetreten, den langen Zyklus neoliberaler Wirtschaftspolitik zu beenden. López Obrador hat diese Politik noch jüngst als „Albtraum“ bezeichnet. Zu seinen Versprechen gehört die Wiederbelebung des ländlichen Raums. Tatsächlich hat die Regierung eine Reihe von Programmen aufgelegt, darunter das viel diskutierte Vorzeigeprojekt „Sembrando Vida“ (Leben säen). Es verbindet das Pflanzen von Obstbäumen und Nutzhölzern mit monatlichen Subventionen für Kleinbauern und peilt damit gleichzeitig die Aufforstung von gut einer Million Hektar Land an.
Ana de Ita sieht die Erfolgsaussichten der verschiedenen Programme gleichwohl skeptisch: „Sie zielen alle auf Individuen, nicht Gemeinden, und haben vielfach den Charakter klassischen Armutsfürsorge von den Vorgängerregierungen beibehalten. Für die Regierung und López Obrador gibt es kein gemeinschaftliches soziales Subjekt. Bei einer ganzheitlichen Politik müssten Ejidos, indigene Gemeinden und die verbliebenen bäuerlichen Organisationen gestärkt werden.“ Sembrando Vida, so kritisiert sie, erreiche mal zwei, mal zehn Mitglieder einer kleinbäuerlichen Gemeinde. „Die Auswahlkriterien sind intransparent. In dieser Form haben die neuen Programme politischen Klientelcharakter.“
Schulen und Straßen für ein würdiges Leben
In Bezug auf Großprojekte wie dem touristischen „Maya-Zug“ auf der Halbinsel Yucatán oder den Ausbau der Infrastruktur rund um die Bahnstrecke des Korridors zwischen Pazifik- und Atlantikküste teilt sie die Befürchtungen, dass sie am Ende mehr Zerstörung als Entwicklung für die anliegenden Dorfgemeinden bringen. Für sie müssten andere Dinge im Vordergrund stehen: „Funktionierende Schulen, ein intaktes Gesundheitswesen mit vom Staat bezahlten Kliniken und Krankenhäusern, instand gehaltene Straßen und Wasserversorgung, öffentliche Dienstleistungen, die ein würdiges Leben auf dem Land erlauben.“
Mit Worten äußert sich die Regierung oft ganz ähnlich. Doch abgesehen von wenigen Vorzeigeprojekten und -programmen hat sie in Zeiten der Pandemie bei den öffentlichen Ausgaben bisher eine Austeritätspolitik verfolgt, die mancher neoliberalen Regierung durchaus würdig ist. Für das Leben auf dem Dorf sind das keine guten Aussichten.
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