Etwas mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in Städten, allerdings gibt es von Kontinent zu Kontinent deutliche Unterschiede. Das geht aus der aktuellen Statistik zur weltweiten Verstädterung hervor, die die Vereinten Nationen jedes Jahr veröffentlichen. In Lateinamerika, sagt die Statistik, ist die Urbanisierung neben Nordamerika am weitesten fortgeschritten mit 78 Prozent Stadtbewohnern, Afrika bildet das Schlusslicht mit 40 Prozent und Asien liegt mit 46 Prozent dazwischen. Aber was bedeutet das für den Rest der Menschheit? Leben alle anderen, immerhin dreieinhalb Milliarden Menschen, in Dörfern? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Denn der Begriff „Dorf“ taucht weder in UN-Statistiken noch in nationalen Volkszählungen auf. Für die Statistik sind die Menschen außerhalb der Stadt seit langem eine Restkategorie. Sie sind die Bewohner des „ländlichen Raums“.
Und doch, wenn vom ländlichen Raum die Rede ist, hat jeder sofort Bilder vom Dorf im Kopf, nicht nur bei uns, sondern auch in den Ländern des globalen Südens: kleinere, überschaubare meist landwirtschaftlich geprägte Siedlungen, in denen die Einwohner mehr persönliche Kontakte untereinander pflegen als in großen Städten. So haben schon die ersten Stadtsoziologen vor hundert Jahren die dörfliche Lebensform als Gegensatz zur städtischen Lebensform definiert. Doch seither sind in den Industrieländern die krassen Unterschiede zwischen Stadt und Dorf in den Möglichkeiten zur Lebensgestaltung weitgehend verschwunden. Vielleicht noch wichtiger: In Ländern wie Deutschland oder der Schweiz ist heute in den wenigsten Dörfern die Landwirtschaft die Haupterwerbsquelle.
Auch im globalen Süden haben die Dörfer sich verändert. Ja, es gibt sie noch, abgelegene Gemeinden die nur zu Fuß zu erreichen sind und in denen bäuerliche Selbstversorgung und Tauschhandel dominieren. Am Rand der Sahelzone, am Abhang des Ostafrikanischen Grabens in Malawi oder auch in Gebirgslagen in Nepal und Indien. Das sind häufig Dörfer, in denen im Fall einer Missernte fast alle gleichermaßen Hunger leiden – Ethnologen haben das vor Jahrzehnten „geteilte Armut“ (shared poverty) genannt. Doch die meisten Dörfer sind heute in unterschiedlichem Maße in die nationale Wirtschaft ihres Landes und in den Weltmarkt eingebunden. Das gilt für die Produktion von Reis, Mais und anderen Grundnahrungsmitteln, aber auch für Kleinbauern, die Weltmarktfrüchte wie Palmöl, Kakao oder Tee anbauen.
In solchen Dörfern sind die Einkommensunterschiede und damit die soziale Kluft zwischen den einzelnen Haushalten um ein Vielfaches größer als in Dörfern, in denen immer noch Subsistenzproduktion einen Teil der Überlebenssicherung ausmacht. Da gibt es reiche und arme Bauern; da gibt es besonders innovative Bäuerinnen und Bauern, die neue Anbaufrüchte wie Sonnenblumen oder Macadamianüsse eingeführt oder die eine Biogasanlage gebaut haben.
Das Leben in der Stadt bietet mehr Möglichkeiten
Grundsätzlich aber ist im Unterschied zur Situation in Ländern wie den Niederlanden oder Deutschland in den Dörfern des globalen Südens die Landwirtschaft immer noch der dominierende Wirtschaftszweig und Beschäftigung außerhalb der Landwirtschaft die Ausnahme. Das ist ein Grund dafür, dass in vielen Fällen das Leben in der Stadt der nachwachsenden Generation mehr Möglichkeiten bietet – und wenn auch nur mit Jobs im informellen Sektor und in einem angemieteten Zimmer in einer informellen Siedlung am Stadtrand. In vielen Ländern sind im Zuge von Programmen der ländlichen Entwicklung Straßen, Märkte, Schulen und Gesundheitsstationen im ländlichen Raum entstanden, und trotzdem finden sich die besseren Schulen und die bessere Gesundheitsversorgung immer noch in den Städten.
Jedes Dorf ist anders, jedes Dorf hat seinen eigenen Charakter und seine eigene Geschichte. Für diejenigen, die dort geboren sind, ist es viel mehr als nur eine von vielen Siedlungen im ländlichen Raum. Das Dorf ist und bleibt ein emotionaler Anker, selbst für die, die schon lange nicht mehr dort leben. Wer in den Städten Westafrikas Einheimische nach ihrem Heimatort fragt, der wird nie die Antwort Kumasi, Lagos oder Lomé hören. Mpam oder Nakwanduri werden die Gesprächspartner antworten oder den Namen eines anderen abgelegenen Dorfes irgendwo in der Savanne nennen, selbst wenn sie bereits in der dritten Generation in der Stadt leben. Viele kennen ihr Heimatdorf nur von seltenen Besuchen anlässlich von Hochzeiten oder Beerdigungen. Das gilt für Menschen aller sozialer Schichten. Das Dorf steht für die Verbundenheit mit der gemeinsamen Geschichte derer, die dort zusammen gelebt haben und noch leben.
Auch in Asien: In den 1970er Jahren begann die Regierung von Malaysia große Flächen an Land zu erschließen, um dort Ölpalmen und Kautschuk anzubauen. Primärwald wurde gerodet, neue, am Reißbrett geplante Siedlungen wurden angelegt, jede Neusiedlerfamilie bekam ein Haus, es gab eine Grundschule, eine Gesundheitsstation und eine Moschee. Aber wenn die Bewohner über ihre neue Siedlung sprachen, benutzten sie nie den Begriff „Kampung“, das malaiische Wort für Dorf. Dieser Begriff blieb dem Herkunftsort vorbehalten, der eigentlichen Heimat.
Der Ort für Krisensituationen
Das Dorf ist der Ort, an den die Toten zurückkehren. Es ist aber auch der Ort, an den jeder, der dazugehört, in einer Krisensituation zurückkehren kann. Wanderarbeiter in China, die einen Arbeitsunfall in einer der Weltmarktfabriken im Perlflussdelta erlitten haben, fahren zurück in ihr Heimatdorf in einer der Inlandprovinzen, um sich auszukurieren. Als im letzten Jahr in Indien die Regierung wegen der Corona-Pandemie einen vollständigen Lockdown verhängte, als Fabriken geschlossen wurden und die Eisenbahnen stillstanden, begaben sich Millionen Wanderarbeiter aus den Industriegebieten rund um Chennai im Süden des Landes auf tagelange Fußmärsche in ihre Heimatdörfer im Norden. Dort fanden sie ein Dach über dem Kopf, wurden mit dem Nötigsten versorgt und konnten erst einmal bleiben.
Jedes Dorf ist anders, und natürlich spielt auch der Standort eine Rolle für die Lebensbedingungen. Dörfer in der Nähe von Metropolen – im periurbanen Raum, wie Planer sagen – entwickeln sich anders als isolierte Gemeinden. Die Bewohner haben dort die Möglichkeit, die Stadtbevölkerung mit Gemüse, Eiern und Geflügel zu versorgen. Sie haben zudem mehr Wahlmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt, können in die Kernstadt der Metropole pendeln. Das wird schon an äußeren Merkmalen wie den Baumaterialien der Häuser, der Grundstücksgröße und der Anordnung der Häuser deutlich. Lange glaubten Beobachter, in den Barriadas von Lima, den Armensiedlungen am Rande der peruanischen Hauptstadt, würde die indigene Baukultur aus den Anden nachgeahmt. Aber sie waren von Anfang an eine hybride Siedlungsform, in der zwar noch das vor allem auf gegenseitige Hilfe beruhende Sozialsystem der Herkunftsgebiete der Zuwanderer fortlebte, die mit ihrer dichten Bebauung aber zugleich dem Bedarf des eher städtischen Lebens entsprachen. Eine ganz ähnliche an die Stadt angepasste dörfliche Baukultur ist in den informellen Siedlungen in Ostafrika zu finden, etwa in den Randgebieten von Daressalam in Tansania oder in Nairobi und Kisumu in Kenia.
Doch auch Dörfer außerhalb des periurbanen Raums sind mit dem städtischen Leben und Wirtschaften verbunden. Die Abwanderung von den Dörfern in die Stadt hat zwar überall im globalen Süden in den vergangenen Jahrzehnten rapide zugenommen. Aber Urbanisierung in Lateinamerika, Asien und Afrika verläuft anders als während der industriellen Revolution in Europa, Nordamerika und Japan. Lange glaubten Politiker, Entwicklungsplaner und sogar Migrationsforscher, wer sich entscheide, aus seinem Heimatdorf abzuwandern, würde dem ländlichen Raum für immer den Rücken kehren und spätestens nach einer Generation vollständig zum Städter werden. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: In Ländern des globalen Südens bleibt die Mehrzahl der Migranten auch nach der Abwanderung in die Stadt über zahlreiche wirtschaftliche und soziale Bindungen Teil des ländlichen Haushaltes.
Umzug in die Stadt, um das Überleben der Familie auf dem Dorf zu sichern
Für große Teile Afrikas südlich der Sahara, aber auch für den gesamten indischen Subkontinent gilt: Dorfbewohner, die in die Stadt gehen, sind in den meisten Fällen in zwei oder sogar mehreren Haushalten zu Hause; die Migrationsforschung spricht von bi-lokalen oder multi-lokalen Haushalten. Der klassische Fall sind reziproke ökonomische Beziehungen zwischen dem ländlichen und dem städtischen Teil des Haushalts – etwa so: Ein Dorfbewohner aus Nordghana entscheidet sich, in die Hauptstadt Accra umzuziehen. Dort findet er eine Beschäftigung in einer Autowerkstatt im informellen Sektor. Er verdient Bargeld, von dem er einen Teil bei seinem nächsten Besuch der Familie im Dorf mitbringt. Dieses Geld kommt im Dorf zu einem Zeitpunkt an, zu dem nach langer Trockenzeit Vorräte und Bargeld knapp geworden sind, aber dringend Saatgut und Düngemittel gekauft werden müssen. Später im Jahr, nach der Ernte, nimmt das städtische Haushaltsmitglied, der Automechaniker, Säcke voll Erdnüsse und Jamwurzeln mit nach Accra. Migrationsforscher haben dieses Vorgehen so beschrieben: Der ländliche Haushalt delegiert ein Mitglied an den städtischen Arbeitsmarkt, um Risiken zu minimieren und das Überleben der Familie zu sichern.
In einigen Fällen kehren die Migranten in regelmäßigen Abständen ins Heimatdorf zurück, um während der Arbeitsspitzen im ländlichen Produktionszyklus mitzuhelfen. Das ist zum Beispiel für Venezuela, für Migranten aus den Reisanbaugebieten Indonesiens und für Wanderarbeiter in China beschrieben worden. Trotzdem fällt dann für den Rest des Jahres die Feldarbeit auf die im Dorf zurückgebliebenen Frauen und Kinder zurück. Zudem dominieren heute Geldflüsse von der Stadt ins Dorf; echte Reziprozität, also ein gleichwertiger Austausch von Geld und Waren zwischen Dorf und Stadt, wird immer seltener. Dennoch bleibt die bi-lokale Lebensführung oft über mehrere Generationen erhalten, denn neben den ökonomischen Bindungen spielt auch die Aufteilung von Aufgaben in der Kindererziehung oder der Betreuung von Alten und Kranken im Gefüge eines Mehrstandorthaushalts eine wichtige Rolle.
Autor
Einhard Schmidt-Kallert
war bis zu seinem Ruhestand Professor und Leiter des Fachgebiets Raumplanung in Entwicklungsländern an der TU Dortmund. In den letzten Jahren hat er zeitweilig als Gastdozent in Tansania, den Philippinen und dem Nordirak gearbeitet.Trotzdem haben die Geldüberweisungen bi-lokaler Haushalte überall im globalen Süden ihre Spuren hinterlassen. Wer heute ein Dorf am Fuß des Kilimandscharo besucht, der sieht sowohl kleine traditionelle Lehmhäuser der Bauern als auch stattliche Häuser aus verputzten Zementsteinen mit Wellblechdach und modernen Sanitäranlagen – und weiß, welche Familie regelmäßig größere Geldüberweisungen aus der Stadt erhält. Nicht viel anders sieht es in den Reisanbaugebieten der gebirgigen Provinz Sichuan in China aus: Neben einstöckigen Häusern aus Lehmziegeln stehen viergeschossige Häuser der Wanderarbeiter mit gefliester Fassade, in denen die meiste Zeit des Jahres fast keine Bewohner anzutreffen sind. Früher war das dörfliche Sozialgefüge davon geprägt, welcher Bauer besser gewirtschaftet hatte, vielleicht auch, wer eher Innovationen aufgegriffen hat. Heute ist der entscheidende Unterschied, wer höhere oder regelmäßigere Überweisungen von der Familie in der Stadt erhält.
Dörfer verdienen ihre Chance
Bi-lokale Lebensführung als ein Weg auf der Suche nach Sicherheit wird uns noch lange begleiten. Doch um zukunftsfähig zu werden, brauchen Dörfer vor allem eine eigene ökonomische Basis. In vielen Ländern und Regionen des globalen Südens ist die zumeist kleinbäuerliche Landwirtschaft bei weitem nicht so produktiv, wie sie sein könnte. Doch selbst wenn ein – umwelt- und sozialverträglicher – Produktivitätsschub in der Landwirtschaft gelänge, würden nicht alle jungen Menschen dort auf Dauer ein Auskommen finden. Ländliche Industrialisierung ist daher ein Gebot der Stunde. In den vergangenen Jahren ist viel von der Stärkung von Wertschöpfungsketten die Rede. Und tatsächlich sollten landwirtschaftliche Rohprodukte im Dorf weiterverarbeitet werden, nicht in der nächsten Distriktstadt. Das wäre der richtige Weg.
Das lässt sich allerdings leichter fordern als verwirklichen. In Tansania etwa wird seit 20 Jahren in vielen Teilen des Landes dafür geworben, Sonnenblumen anzubauen, um Speiseöl herzustellen. Zahlreiche Bauern sind in den Anbau der neuartigen Ölfrucht eingestiegen, in vielen Dörfern haben mittelständische Investoren Ölpressen installiert. Eine Erfolgsgeschichte? Leider nur fast, denn die Ölpressen sind im Durchschnitt nur zu 25 Prozent ausgelastet, die Qualität stimmt oft nicht. Vielfach bleiben beim Auspressen der Sonnenblumenkerne Schwebstoffe im Öl, so dass es nicht exportiert werden kann. Das muss nicht für immer so bleiben und spricht nicht gegen dörfliche Industrialisierung. Aber das Beispiel zeigt, wo die Schwachstellen in den landwirtschaftlichen Wertschöpfungsketten liegen und welche Aufgaben noch angepackt werden müssen.
Denn Dörfer verdienen ihre Chance, gerade in Zeiten des Klimawandels. Schon heute wachsen die Megastädte Asiens langsamer als noch vor zehn Jahren. Metropolen von mehr als zehn Millionen Einwohnern werden in einem überschaubaren Zeitraum kaum die Umgestaltung zur Klimaneutralität schaffen: Zu viel Fläche ist inzwischen versiegelt, die Städte sind heute schon Hitzeinseln, und fast alle Einwohner verlieren jeden Tag unendlich viel Zeit auf Wegen zwischen Wohnung und Arbeitsort. Klein- und Mittelstädte lassen sich schon eher klimaneutral umbauen. Und erst recht die Dörfer im ländlichen Raum zwischen den Kleinstädten.
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