Frühere Kämpfer sind heute Versöhner

Christina Förch-Saab
„Das ist unsere Art von Sozialarbeit“: Ziad Saab, der Mann der Autorin, berichtet Schülerinnen und Schülern aus seinem Leben als Kommandant im Bürgerkrieg. 
Vergangenheitsbewältigung
Im Libanon sind heute die Kriegsführer von einst an der Macht; die Gesellschaft hat ihre blutige Vergangenheit nie verarbeitet. Einige ehemalige Kämpfer wollen das ändern. Der Ehemann unserer Autorin ist einer von ihnen.

Der Libanon, seine Hauptstadt Beirut, das war für mich im Jahr 2000 Aufbruch, Abenteuer, das Eintauchen in eine andere Kultur und Region. Doch was mich seit 21 Jahren als Journalistin und Bürgerin dieses Landes jeden Tag erwartet, ist eine Überdosis an Aufregung, Krisen und an Emotionen, die zwischen himmelhochjauchzend und absoluter Verzweiflung schwanken.

Vor zwei Jahren, als ich für „welt-sichten“ über die Massenproteste im Libanon berichtete, war die Stimmung auf dem Höhepunkt. Denn mehr als eine Million Libanesinnen und Libanesen hofften endlich auf eine Wende in der Geschichte ihres Landes: auf einen richtigen Staat, der sich um seine Bürgerinnen und Bürger sorgt, anstatt dass sich die Machthaber die Taschen vollstopfen. Sie hofften auf einen andauernden Frieden nach den vielen Episoden der Gewalt und Konflikte. Und sie hofften auf einen wahren, nationalen Versöhnungsprozess 30 Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs. Den hat es nämlich bis heute nicht gegeben.

Doch jetzt, im Jahr 2021, ist die Stimmung am Tiefpunkt. Seit Anfang des Sommers gibt es maximal drei Stunden Strom am Tag, das Internet funktioniert oft nur schlecht. In den Bergdörfern, wo die Menschen auf Landwirtschaft angewiesen sind, wird das Wasser knapp, weil die strombetriebenen Pumpen nicht funktionieren. Verzweifelt rennen chronisch Kranke von einer Apotheke zur anderen, um dringend benötigte Medikamente zu kaufen: Wegen des drohenden Staatsbankrotts gibt die Zentralbank kein Geld für Importeure frei und so werden Medikamente knapp. Medizin und Treibstoff werden außerdem in das Nachbarland Syrien geschmuggelt, weil der Verkauf dieser Güter auf dem Schwarzmarkt dort lukrativer ist als im Libanon. 

Ehemalige Kriegsführer sind heute an der Macht

Seit eineinhalb Jahren kommen die Libanesen nicht an ihre Ersparnisse, durch die Inflation ist das libanesische Pfund fast wertlos geworden. Mein Mann hat wie Tausende andere Libanesen seine Rente verloren. Inzwischen lebt die Hälfte der Libanesen unterhalb der nationalen Armutsgrenze. Wie konnte es zu diesem Totalabsturz kommen? 

Als der 15-jährige Bürgerkrieg 1990 offiziell zu Ende ging, einigten sich die ehemaligen Kriegsführer darauf, vom Schlachtfeld in die Politik zu wechseln. Sie besetzen bis heute viele wichtige politischen Ämter. Der jetzige Präsident Michel Aoun beispielsweise war im Krieg für einige der verlustreichsten Kämpfe verantwortlich. Parlamentssprecher Nabih Berri war Milizenführer der schiitischen Amal-Partei, die im Bürgerkrieg beispielsweise gegen die Palästinenser in den Flüchtlingslagern gekämpft hat. Seit Kriegsende regieren diese ehemaligen Kriegsführer das Land mit ausbeuterischen Methoden. Die politische Elite teilt die Pfründe unter sich auf und gibt einen Bruchteil davon ihren Gefolgsgruppen, je nach politischer und religiöser Zugehörigkeit. Damit sichern sie sich Einfluss und Macht. Gestützt wird dieses System auch von der einzigen Miliz, die nach Kriegsende nicht entwaffnet wurde: der schiitischen Hisbollah. Deren Schlagkraft ist stärker als die der libanesischen Armee.  

Kämpfer für den Frieden

Die libanesische Organisation Fighters for Peace (Kämpfer für den Frieden) ist Teil der Zivilgesellschaft, die – wie vor zwei Jahren – immer wieder gegen die Elite und ihre Politik protestiert. Zwischen 2012 und 2014 haben fünf ehemalige Kämpfer des libanesischen Bürgerkriegs die Fighters for Peace gegründet, einer davon ist mein Mann Ziad Saab. 2012 gab es schwere Konflikte zwischen zwei religiösen Gruppen in den Armenvierteln der nordlibanesischen Stadt Tripoli und die ehemaligen Kämpfer befürchteten einen neuen Bürgerkrieg. In einem offenen Brief wandten sie sich an die junge Generation von Straßenkämpfern und appellierten an sie, sich von der Gewalt abzukehren und nicht die gleichen Fehler wie sie selbst zu begehen. Zu Zeiten des Bürgerkriegs war mein Mann Kommandant der kommunistischen Miliz. „Der Krieg hat nicht zu der Revolution geführt, die wir uns erhofft hatten, und Gewalt war der falsche Weg. Am Ende haben sich unsere Träume von einer gerechteren Gesellschaft nicht erfüllt.“ 

Die ehemaligen Kämpfer von Fighters for Peace – manche von ihnen einst Feinde – einigten sich auf einen gemeinsamen Nenner: Gewalt ist niemals die Lösung und führt nur zu mehr Gewalt. Sie werden bis heute nicht müde, diese Botschaft immer wieder in der Öffentlichkeit zu betonen, gerade auch in den Armenvierteln, wo die größte Krise des Landes seit Kriegsende so viele Menschen zur Verzweiflung bringt. Denn einige dort überlegen sich vielleicht, gewaltsam die regierende Elite zu entmachten. 

Gewalt im Vorfeld verhindern: Christina Förch-Saab spricht bei einem ­interaktiven Spiel zu Radikalisierung und Extremismus mit jungen Frauen und Männern.

Autorin

Christina Förch Saab

ist Mitbegründerin von Fighters for Peace, einer libanesischen Organisation ehemaliger Kämpfer, Journalistin und Dokumentarfilmerin. Sie lebt seit dem Jahr 2000 in Beirut.
Heute haben die Fighters for Peace mehr als 50 Mitglieder, die vor allem junge Leute ansprechen. In Schulen, an Universitäten und in Jugendzentren erzählen die früheren Kämpfer aus ihrem Leben im Krieg. Meistens gehen zwei ehemalige Gegner gemeinsam zu solchen Gesprächen, damit die jungen Menschen unterschiedliche Sichtweisen des Kriegsgeschehens hören und kritisch nachfragen können. Die meisten Jugendlichen reagieren positiv auf die Zeitzeugengespräche, denn von ihren eigenen Familien erfahren sie oft wenig über den Krieg, und Familienerinnerungen bieten eben nur eine beschränkte Perspektive. „Das ist unsere Art von Sozialarbeit“, meint Ziad Saab. Man könnte es auch Sühne nennen. Denn die ehemaligen Kämpfer kostet es jedes Mal Überwindung, sich vor ein Publikum zu stellen, über ihre vergangenen Taten aus den Zeiten des Bürgerkriegs zu sprechen und einzugestehen, dass ihre Entscheidung falsch war, sich im Krieg einzubringen und anderen Menschen großes Leid zugefügt zu haben. Manchmal stellen die Jugendlichen während der Dialogveranstaltungen mit den ehemaligen Kämpfern auch ganz direkt die Frage, ob sie jemanden getötet haben und wie sich das anfühlte. Das bringt auch bei den Fighters for Peace schwere Erinnerungen hervor und eigene Wunden brechen immer wieder auf. 

Die eigene Biografie selbstkritisch hinterfragen

Voraussetzung für diesen offenen Umgang mit der Vergangenheit ist die Bereitschaft, das eigene Tun kritisch zu hinterfragen und Fehler einzugestehen. Mithilfe von sogenannter Biografiearbeit habe ich unsere Mitglieder von Fighters for Peace dabei begleitet, sich an Vergangenes zu erinnern und Erlebtes untereinander zu teilen. Mit den kreativen, spielerischen Methoden der Biografiearbeit hinterfragen die ehemaligen Kämpfer ihre eigene Biografie selbstkritisch und finden heraus, was sie zu bestimmten Lebensentscheidungen veranlasst hat. In einem Würfelspiel erinnern sich die Männer an den politischen Zeitgeist der 70er und 80er Jahre, der ihre Lebensentscheidungen beeinflusst hat. Beim „Speed-Dating“ teilen sie mit dem Gegenüber Erinnerungen zu verschiedene Lebensphasen. Und beim Malen des Lebensflusses finden sie heraus, was positiv in ihrem Leben verlief und was schwierig war. Freiwillig wären diese Männer nicht zu einer klassischen Therapie gegangen. Durch die Biografiearbeit haben die ehemaligen Feinde festgestellt, dass ihre Lebenserfahrungen gar nicht so unterschiedlich sind und dass sie mehr Gemeinsamkeiten haben als Trennendes. Das hat die Gruppe gestärkt. 

Viele Libanesen sagen, dass es alle zehn bis fünfzehn Jahre eine neue Krise oder Konflikt in ihrem Land gibt. Wie könnte dieser Teufelskreis der Gewalt durchbrochen werden? Mit ihren Zeitzeugengesprächen wollen die ehemaligen Kämpfer Extremismus, politisch motivierter Radikalisierung und Gewalt vorbeugen helfen. 

Aber das allein reicht nicht aus. „Ohne juristische Aufarbeitung werden wir weiterhin die Schmerzen der Vergangenheit spüren. Wir können jederzeit zu einer ähnlichen Situation zurückkehren wie im Bürgerkrieg“, meint Ziad Saab. Nach dem Ende des Kriegs gab es keine Kommissionen zur Wahrheitsfindung, keine Tribunale zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und keinen nationalen Versöhnungsprozess. „Wenn die Täter das Land regieren, wie kann es dann Gerechtigkeit geben?”, fragt sich Sabine Saliba, Leiterin der nichtstaatlichen Organisation Act for the Disappeared (Agieren für die Verschwundenen). Doch die politischen Machthaber wollen die Vergangenheit nicht aufarbeiten, denn dann würden sie selbst zur Rechenschaft gezogen werden. Bereits 1990 verabschiedete das libanesische Parlament ein Amnestiegesetz, das allen Kriegsteilnehmenden Straffreiheit garantierte. Das war besonders schlecht für die Opfer des Krieges, etwa Familienangehörige von Menschen, die verschleppt wurden und bis heute verschwunden sind. Denn die Täter wurden nie dazu befragt oder gar strafrechtlich verfolgt. „Wir bei Fighters for Peace sind gegen das Amnestiegesetz“, sagt Ziad Saab. „Selbst wenn es bedeutet, dass wir für unsere Taten zur Rechenschaft gezogen werden. Wir sind bereit dafür.“

Die Opfer wollen um Verzeihung gebeten werden

„Es gab wenig Anerkennung für die Opfer. Dabei hätte das vielen Familien in ihrer Trauer geholfen,“ meint Sabine Saliba. „Die meisten Familien werden nie die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen erhalten“, weiß die Leiterin der Opferorganisation. Sie ist davon überzeugt, dass der Dialog zwischen ehemaligen Kämpfern und Opfern helfen kann, weil er den Opfern etwas Anerkennung gibt: „Dass ehemalige Kämpfer über Frieden sprechen, erwarten Opfer nicht von früheren Tätern.“

Auch Ziad Saab ist von der Wichtigkeit des Zusammenkommens von Opfer- und Täterorganisationen überzeugt. „Wir haben gelernt, dass die meisten Opfer großzügiger sind, als wir uns vorstellen konnten. Sie wollen hören, dass du sie um Verzeihung bittest.“ Kurz hält er inne und fügt hinzu: „Wir müssen die Wahrheit sagen – in der Öffentlichkeit, nicht privat. Wir müssen uns öffentlich entschuldigen. Reicht das? Nein, es reicht nicht. Wird das die Toten zurückbringen ins Leben? Nein, natürlich nicht.“ Im Libanon werden seit dem Bürgerkrieg immer noch 17.400 Menschen vermisst. Daher reichen öffentliche Entschuldigungen nicht. Einige ehemalige Kämpfer von Fighters for Peace haben mit dem Internationalen Roten Kreuz und Opferorganisationen zusammengearbeitet, um vertrauliche Informationen weiterzugeben, beispielsweise über mögliche Massengräber. Vielleicht werden dank solcher Informationen irgendwann körperliche Überreste gefunden. 

Für nächstes Jahr plant Fighters for Peace ein Theaterstück zu den Themen Rechenschaftspflicht und transitionelle Justiz. Das trifft einen wunden Punkt, denn sowohl viele ehemalige Kämpfer als auch politische Entscheidungsträger wollen sich nicht der Vergangenheit und der Wahrheit stellen, sagt die Theatermacherin Farah Wardani. Sie wird die Recherchen zum Stück betreiben, das Skript verfassen und die ehemaligen Kämpfer in das Theaterstück einbinden. „Seit den 1960er und -70er Jahren ist diese Mafia der heutigen Machthaber hier sehr gut verwurzelt. Sie haben das Geld, die Macht. Aber wir haben das Wort, wir haben die Menschen auf unserer Seite, wir haben deren Empathie.“

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erschienen in Ausgabe 9 / 2021: Die langen Schatten der Gewalt
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