„Ein Gipfeltreffen gegen die Impf-Apartheid des Westens“

REUTERS/POOL New
Ein Freiwilliger in Havanna lässt sich während der Testphase des Impfstoffes Soberana2 mit dem kubanischen Vakzin impfen.
Kampf gegen die Pandemie
Die indische Aktivistin Varsha Gandikota-Nellutla von der Organisation „Progressive Internationale“ erklärt im Interview, wie Mexiko andere Länder in der Pandemie unterstützt, welche Impf-Partnerschaften Kuba mit Kenia eingeht und wie gelebte Solidarität in Zeiten von Corona aussieht.

Varsha Gandikota-Nellutla, 26 Jahre alt, ist Direktorin des Politikprogramms der nichtstaatlichen Organisation „Progressive Internationale“, die 2018 von linken Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt gegründet wurde. Gandikota-Nellutla lebt im indischen Hyderabad und hat das Gipfeltreffen koordiniert.
 Sie kritisieren, die reichen Industrienationen ließen in der Pandemiebekämpfung keine Solidarität mit den Ländern des globalen Südens erkennen. Deshalb haben Sie einen alternativen Impfgipfel organisiert, der vergangene Woche zu Ende gegangen ist. Was war so besonders daran?
Der größte Unterschied zwischen unserem Gipfel für Impf-Internationalismus und dem, was wir jüngst beim Zusammentreffen der G7 erlebt haben: Bei uns stand echte Solidarität im Zentrum. Das ist neu, denn bislang ist es doch so: 85 Prozent der Impfdosen weltweit wurden in einkommens-starken Ländern verimpft. Für den Rest der Welt bleibt nicht viel übrig. Die G7-Staaten begreifen die Welt nicht als ein Team, sondern sie machen getrennte Pläne für getrennte Welten: Eine Impfstrategie für die reichen Industrienationen und eine andere für den Rest. Für uns, den Rest, bleiben Impfspenden – wenn wir Glück haben. 

Besser gespendeter Impfstoff als gar keiner, oder?
Klar, aber milde Gaben in Form von Impfstoff sind problematisch, denn sie schwächen die Souveränität der Länder des globalen Südens in puncto Gesundheitsschutz. Der Wohltätigkeitsansatz des Westens vertieft den Kreislauf der Abhängigkeiten. Die reichen Länder haben keinerlei Strategie, wie es gelingen kann, das Zentrum der Impfproduktion aus dem Westen weg zu verlagern und dafür zu sorgen, dass überall in der Welt Impfstoffe produziert und verteilt werden. Wir wollen nicht darauf warten, dass uns von den G7 großzügigerweise Impfstoffe geschenkt werden. Also haben wir es selbst in die Hand genommen. Denn wir wollen selbstständig sein, auch mit Blick auf künftige Pandemien. Deshalb war unser Gipfel eine Reaktion auf die herrschende Impf-Apartheid.  

Wer hat an Ihrem digitalen Gipfel teilgenommen?
Neben Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt waren Regierungsvertreter aus den Ländern des globalen Südens dabei, deren Stimme oft untergeht, sowie medizinisches Personal und Impfstoffhersteller. Es war ein breites Bündnis: Die nationalen Regierungen von Argentinien, Mexiko, Bolivien, Kuba und Venezuela nahmen teil, ebenso wie die regionalen Regierungen aus dem kenianischen Kisumu und dem indischen Kerala. Wir haben erste Schritte unternommen hin zur Schaffung einer neuen, internationalen Gesundheitsordnung, die nicht auf Wohltätigkeit beruht, sondern auf Solidarität. 

Kuba und Mexiko wollen Impftechnologien teilen

Solidarität klingt gut, aber sind auch konkrete Ergebnisse erzielt worden?
Es gab Zusagen für eine Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Impftechnologie, für solidarische Preise für Covid19-Impfungen, für den gemeinsamen Aufbau von Mechanismen zur Überprüfung und Zulassung von Impfstoffen sowie für die Bündelung von Produktionskapazitäten, um die Herstellung von Impfstoffen und medizinischem Equipment zu beschleunigen. 

Bitte mal ganz konkret: Wie sieht Solidarität in puncto Impfstoffproduktion aus? 
Die Teilnehmer haben sich auf open licensing verständigt: Kuba und Mexiko entwickeln derzeit Vakzine und haben zugesichert, deren Rezeptur mit allen zu teilen. Der mexikanische Impfstoff Patria wird vermutlich Ende dieses Jahres die nötigen Zulassungen durchlaufen haben. Kuba hat fünf Impfstoffkandidaten, bei Zweien sind die klinischen Studien der Phase Drei erfolgreich abgeschlossen. Sie haben den von der WHO geforderten Standard erreicht, das kubanische Serum Abdala hat eine Wirksamkeit von 92 Prozent. Bislang haben die großen Pharmaunternehmen aus dem Westen ihre Technologie höchstens ein oder zwei anderen Unternehmen zur Verfügung gestellt. An eine übergreifende Zusammenarbeit war nicht im Traum zu denken, nicht einmal auf kommerzieller Basis. 

Und das wollen Kuba und Mexiko anders machen?
Genau. Sie haben zugesagt, mit jedem Land zusammenzuarbeiten, das in dieser Angelegenheit kooperieren will. Das ist enorm wichtig! Es haben sich bereits erste Allianzen gebildet: Der Gouverneur der kenianischen Region Kisumu hat kubanische Vertreter eingeladen, nach Kisumu zu kommen und dort Produktionsstätten für das kubanische Vakzin aufzubauen. Auch in finanzieller Hinsicht ist eine andere Haltung zu erkennen, als wir sie kennen: Kuba und Mexiko sehen Impfstoff als öffentliches Gut an. Sie haben versichert, ihnen gehe es nicht darum, astronomische Preise mit den Vakzinen zu verdienen. 

Argentinien sichert zu, andere Länder bei Überprüfungen zu unterstützen

Haben neben diesen beiden Ländern weitere Gipfelteilnehmer Zusagen getroffen? 
Ja, Argentinien hat große Kapazitäten, was die Herstellung von Impfstoffen betrifft. 190 private Hersteller und 40 öffentliche stehen bereit, um neben AstraZeneca und Sputnik, die beide erfolgreich in Argentinien produziert werden, weitere Impfstoffe herzustellen und zu exportieren, vorrangig nach Süd- und Mittelamerika. Und die Lokalregierung von Kerala (Indien) hat sich auf unserem Gipfel dazu verpflichtet, Entwicklungen im Bereich Forschung voranzutreiben und eine neue Impfabteilung am „Advanced Institute of Biology“ aufzubauen. Gemeinsame wissenschaftliche Forschungsteams haben übrigens auch Kuba und Kisumu beschlossen. 

Was hat es mit den „Regulierungskapazitäten“ auf sich? 
Viele kleine Länder wie Haiti oder Paraguay haben keine eigenen Kontrollbehörden und keine Kapazitäten, Vakzine zu überprüfen. Sie sind also darauf angewiesen, dass eine übergeordnete Behörde die notwendigen Zulassungsprüfungen übernimmt. Bei der WHO muss man hierauf lange warten, das zieht sich. Mexiko ist deshalb für Paraguay in die Bresche gesprungen und hat den indischen Impfkandidaten für Paraguay überprüft – wohlgemerkt, obwohl das indische Vakzin in Mexiko selbst gar nicht auf den Markt kommt. Auch Argentinien hat nun angeboten, das für Länder, die Hilfe benötigen – vor allem für afrikanische –, zu übernehmen. Das hat mich wirklich beeindruckt. 

Ein Streitthema ist die Aufhebung des Patentschutzes. Indien, Südafrika und viele andere Länder fordern ein Aussetzen des internationalen Patentschutzes auf Impfstoffe gegen Covid-19. 
… aber Länder wie Kanada oder Großbritannien wollen keine Ausnahmegenehmigungen erteilen und den Patentschutz beibehalten. Dabei haben wir schlicht keine Zeit mehr zu verlieren: In Indien sterben 4000 Menschen – jeden Tag. Da können wir doch nicht monatelang abwarten! Wir haben die Kapazitäten, diese Pandemie zu beenden und Impfstoffe für alle zu entwickeln und zu verteilen. Dennoch ist kein Ende in Sicht, weil große Pharmakonzerne zusammen mit den Regierungen reicher Staaten im Weg stehen. Das ist nicht nur egoistisch, sondern auch idiotisch. Denn man kann die Grenzen nicht vor einem Virus schließen. Solange das Virus sich verbreitet, wird es mutieren und um die Welt wandern. Die Pandemie auch im globalen Süden zu beenden ist deshalb keine Frage der Wohltätigkeit, sondern des Überlebens! 

Bolivien wartet auf Impfstoff aus Kanada

Sie wollen eine globale Solidargemeinschaft, schließen aber große Staaten wie die USA von Ihrem Gipfel aus. Lässt sich so tatsächlich eine neue Weltordnung erreichen? 
Unser Gipfel war dezidiert eine Initiative von Ländern und Menschen des globalen Südens. Es ging und geht nicht zuletzt um Dekolonisierung. Aber es waren auch progressive Teilnehmer aus der westlichen Welt dabei, etwa Jeremy Corbyn, ehemaliger Parteivorsitzender der britischen Labour Party, der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis und die kanadische Abgeordnete Niki Ashton. Deren Teilnahme ist wichtig, weil sie die Anliegen der Menschen im globalen Süden in ihre Heimatländer tragen. Viele Menschen in Kanada wissen wohl gar nicht, dass der kanadische Impfhersteller Biolyse mit Bolivien kooperieren würde in puncto Impfstoff – die kanadische Regierung aber ihre Zustimmung verweigert. 

Wieso darf Biolyse nicht mit Bolivien kooperieren?
Die bolivianische Regierung hat mit dem kanadischen Pharmakonzern vereinbart, 15 Millionen Impfstoffdosen zu erwerben, die preislich bei 3 bis 4 US-Dollar pro Stück liegen. Das wäre ausreichend, um alle erwachsenen Bolivianer zu impfen. Aber das Patent liegt nicht bei Biolyse, sondern bei Johnson & Johnson. Biolyse braucht von der kanadischen Regierung eine Zwangslizenz, dass sie die Impfdosen produzieren und exportieren darf  – und die verweigert die Regierung Trudeau. Dabei müsste sie Covid19 nur als Notfall einstufen, dann würde ein Gesetz greifen, das sie dazu berechtigt, diese Lizenz auszustellen. Aber bis heute hat Kanada die Pandemie nicht als Katastrophenfall eingestuft. Und so warten die Bolivianer weiter. Das macht mich fassungslos. 

Wie geht es nun weiter, was sind die nächsten Schritte?
Folgetreffen sind in Planung. Wir wollen unsere Allianz vergrößern und beispielsweise auch mit der Afrikanischen Union (AU) zusammenarbeiten. 

Was war für Sie persönlich ein Highlight des viertägigen Gipfeltreffens?
Es war fast eine spirituelle Erfahrung, in einem virtuellen Raum zu sein mit so vielen Menschen, die länderübergreifend zusammenarbeiten wollen und hierfür auch konkrete Absprachen treffen. Von Aktivisten ist man das gewohnt, aber wir haben das nun auch auf politischer Ebene erlebt. In der großen Politik gilt meist: Profit geht vor Menschenleben. Auf unserem Gipfel war das Gegenteil zu erkennen, ein echtes Interesse am anderen, Vertrauen und der Wille zu Veränderung. Das ist der Beginn einer neuen Allianz. Und ich bin überzeugt: Diese Allianz ist kein vorübergehender Zusammenschluss, sie wird bestehen bleiben.

Das Gespräch führte Elisa Rheinheimer.

Die Organisation "Progressive Internationale" ist vor drei Jahren entstanden aus der Bewegung "Demokratie in Europa - DiEM25" sowie dem US-amerikanischen "Sanders Institute" des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders. Die NGO hat es sich zum Ziel gesetzt, progressive Kräfte rund um den Globus zu vereinen und gemeinsam Visionen für eine gerechtere Welt zu entwickeln.   

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