Als Osttimor 2002 unabhängig wurde, war das mit großen Hoffnungen verbunden. „Ich wünsche mir ein besseres Timor-Leste, dafür habe ich damals gekämpft“, bringt heute die ehemalige FALINTIL-Guerillera Ina Varella Bradridge die Erwartungen vieler auf den Punkt. „Auch als die Portugiesen uns schwarz und dumm nannten und die Indonesier uns sagten, dass wir die Unabhängigkeit nicht erlangen würden.“
Doch der neue Staat war mit einem schweren Erbe belastet. Der Kleinstaat Timor-Leste, wie sich das Land inzwischen nennt, ist ein Relikt der europäischen Kolonialzeit. Über 400 Jahre erhob Portugal Anspruch auf ganz Timor. Mitte des 19. Jahrhunderts aber teilten Portugal und die Niederlande die Insel unter sich auf – die Niederlande bekamen den Westen, Portugal den Osten. Im Osten brach die Kolonialherrschaft nach 1974 zusammen, als die Nelkenrevolution in Portugal das alte Regime hinwegfegte. Erste Gehversuche politischer Parteien in Portugiesisch-Timor mündeten im August 1975 in einen kurzen Bürgerkrieg, aus der die FRETILIN, die Revolutionäre Front für die Unabhängigkeit von Osttimor, als Siegerin hervorging. Ende November rief sie einseitig die Unabhängigkeit aus und erhoffte sich Unterstützung von den Vereinten Nationen (UN).
Doch nach nur neun Tagen fiel der Nachbar Indonesien, zu dem Westtimor inzwischen gehörte, mit Billigung seiner westlichen Verbündeten in Osttimor ein und hielt das Land 24 Jahre lang völkerrechtswidrig besetzt. Mit verheerenden Folgen für die Bevölkerung. Die Armee traf auf entschiedenen Widerstand, den sie unerbittlich bekämpfte. Vertreibungen, willkürliche Verhaftungen, Folter und sexualisierte Gewalt bestimmten das Leben. Für Indonesien unter der Diktatur Suhartos war mit der Eingliederung als 27. Provinz in Indonesien die Dekolonisation Osttimors 1976 abgeschlossen. Wer das infrage stellte, galt als staatsfeindlicher Separatist.
Aber nicht die anfängliche Rhetorik des antiimperialistischen bewaffneten Befreiungskampfes der FRETILIN, sondern vor allem die internationale Zivilgesellschaft, die der Widerstand mit der Betonung der Menschenrechte für sich gewinnen konnte, brachte dem Land internationale Aufmerksamkeit und Unterstützung. Mitte der 1980er Jahre übernahm Osttimors „Vater der Nation“, Xanana Gusmão, die Führung über die FALINTIL, die Streitkräfte zur nationalen Befreiung Osttimors der FRETILIN. Unter ihm verlagerte sich der Schwerpunkt des Widerstands weg vom bewaffneten Kampf hin zu gewaltfreien Taktiken des zivilen Widerstandes und an die diplomatische Front. Der Widerstand wuchs zu einem breiteren Bündnis an und gewann die Unterstützung der katholischen Kirche und der jungen Generation. Gusmão trat aus der FRETILIN aus und unterstellte die FALINTIL dem parteiübergreifenden Nationalrat des Widerstandes.
Weltweite Bestürzung über das Massaker von Santa Cruz
Ein Wendepunkt in der internationalen Wahrnehmung des Konfliktes war das Massaker auf dem Friedhof von Santa Cruz in der Hauptstadt Dili. Am 12. November 1991 schoss das Militär ohne Vorwarnung in einen friedlichen Demonstrationszug und tötete über 270 Menschen. Die Bilder sorgten weltweit für Bestürzung. In zahlreichen Ländern gründeten sich Solidaritätsgruppen, die sich für eine Konfliktlösung einsetzten. Ihnen, Menschenrechtsorganisationen und kirchlichen Werken weltweit, ist es geschuldet, dass die Mauer aus Realpolitik und Ignoranz, mit der die Staatengemeinschaft dem Konflikt begegnete, überwunden wurde. 1996 erhielten der Bischof von Dili Carlos Filipe Ximenes Belo und der Sprecher der Unabhängigkeitsbewegung José Ramos-Horta den Friedensnobelpreis.
Autorin
Monika Schlicher
ist Geschäftsleiterin der Stiftung Asienhaus und dort verantwortlich für das Programm Focus Timor-Leste.Mit einer großen Mehrheit von 78,5 Prozent stimmte die Bevölkerung der Insel Osttimor am 30. August 1999 für die Loslösung von Indonesien. Allen Einschüchterungen durch pro-indonesische Milizen zum Trotz waren die Menschen an die Wahlurnen geströmt. Mit großer Disziplin verzichtete die FALINTIL beim Referendum 1999 trotz Provokationen der Milizen auf Waffengewalt. Doch die vom indonesischen Militär unterstützten Milizen legten das Land wie angekündigt in Schutt und Asche, verübten Massaker und vertrieben rund 200.000 Menschen über die Grenze ins indonesische Westtimor. Erst eine vom UN-Sicherheitsrat eingesetzte internationale Eingreiftruppe für Osttimor beendete das Wüten und Morden.
Nun stand Osttimor vor einem Trümmerhaufen. Rund 80 Prozent seiner Infrastruktur waren zerstört. Die UN stellten das Land zunächst unter ihre Verwaltung. Als der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan die geteilte Insel am 20. Mai 2002 in die Unabhängigkeit entließ, war es der ärmste Staat in Asien.
Frust, soziale Konflikte und Spannungen
Doch der Aufbau eines demokratischen Staatswesens benötigt Zeit. Der neue Staat schlitterte zunächst in schwere Krisen. Armut und die schleppende wirtschaftliche Entwicklung nährten Frust und soziale Konflikte. Mit der Unabhängigkeit zerbrach die Einheit des Widerstandes und Konflikte innerhalb der politischen Elite traten hervor. Die FRETILIN stellte die erste Regierung des Landes und ließ der Opposition in ihrem absoluten Führungsanspruch keinen Raum. Persönliche und politische Rivalitäten – allen voran zwischen Premierminister Marí Alkatiri und Präsident Xanana Gusmão – führten zu Spannungen, die sich in der Armee und Polizei hinein fortsetzten.
2006 stand Osttimor am Rande des Zusammenbruchs. Ein Konflikt in der Armee führte zur Desertation von zwei Fünftel der Streitkräfte, weitete sich zu einer politischen Krise aus und erfasste die ganze Gesellschaft. Gerüchte über Unruhen heizten die Stimmung an. Der Innenminister bewaffnete Zivilisten, Militäreinheiten schossen auf unbewaffnete Polizisten und auf UN-Friedenstruppen. Jugendbanden griffen sich gegenseitig an und kontrollierten Stadtviertel in Dili. Es kam zu Plünderungen, Häuser wurden angezündet und unter dem Deckmantel der Krise so manche „offene Rechnung“ beglichen. Rund 150.000 Menschen suchten in Flüchtlingslagern Zuflucht.
Nur mit Hilfe einer internationalen Schutztruppe konnte die Ordnung wiederhergestellt werden. Premierminister Alkatiri musste abdanken. Zu den Wahlen 2007 trat Xanana Gusmão mit einer eigenen Partei an und übernahm in einer Koalitionsregierung das Amt des Premierministers. Kraft seiner Autorität konnte er die die Spannungen zwischen Polizei und Militär mäßigen. Mit Hilfe der Einnahmen aus dem Erdölfonds investierte die Regierung in Infrastruktur und Entwicklung, entschädigte die intern Geflüchteten und entließ die meuternden Soldaten mit einer Abfindung ins zivile Leben. Veteranen aus dem Unabhängigkeitskampf erhalten Pensionen und auch die bedürftigsten Familien bekommen Unterstützung.
Die Menschen sind stolz auf die Entwicklung ihres Landes
Heute wird Timor-Leste nicht mehr als fragiles Land in einer Krise wahrgenommen. Mit großem Stolz blicken die Menschen auf die Unabhängigkeit und die Entwicklung ihres Landes. „Die Regierung hat in vielen Bereichen etliches erreicht“, betont beispielsweise Maria José Guterres von der Frauenrechtsorganisation Fokupers. „Wir haben heute Kliniken, Universitäten, Schulen und Einrichtungen für Kinder. Alle haben Zugang zu öffentlichen Schulen, Mädchen und Jungen gleichermaßen. Die Malaria ist eingedämmt. Die Infrastruktur hat sich verbessert, auch abgelegene Gebiete sind leichter zu erreichen. Langsam hat sich auch die Arbeit des Justizwesens zum Besseren verändert. Kinderrechte, Frauenrechte und vieles mehr sind in der Verfassung verankert, ebenso die Gleichberechtigung.“
In Ranglisten zu Demokratie hebt sich das Land inzwischen vorteilhaft von seinen Nachbarn in Südostasien ab. Unbestritten hat es weiterhin viele Probleme zu bewältigen: Noch immer lebt ein Drittel der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Aber auch hier hat es Verbesserungen gegeben, vor zehn Jahren war noch die Hälfte der Bevölkerung arm. Allerdings sind weiterhin viele junge Menschen arbeitslos und suchen nach Perspektiven.
2017 konnten zum ersten Mal Menschen in Timor-Leste, die nach dem Votum für die Unabhängigkeit 1999 geboren worden waren, zur Wahl gehen. 2018 war etwa die Hälfte der 784.000 Menschen in den Wählerlisten unter 25 Jahre alt. Die sozialen, patriarchalischen Hierarchien, die einflussreiche ältere Männer über alle anderen stellen, erschweren es ihnen aber, sich politisch einzubringen; in der Praxis fällt noch immer eine kleine Gruppe alternder Führungspersönlichkeiten aus dem Unabhängigkeitskampf die Entscheidungen.
Mit dem Ausscheiden des Widerstandshelden Xanana Gusmão aus der Regierung zu Mai 2020 könnte ein Schritt hin zu einem Generationswechsel erfolgen. Mit großem Selbstvertrauen fordert heute eine junge Generation ihren Platz und sieht es als ihre Aufgabe, das Land, für das ihre Eltern gekämpft haben, zum gemeinsamen Wohl weiter zu entwickeln.
Umstritten ist der Umgang mit der gewaltbelasteten Vergangenheit. Die Bemühungen um Strafverfolgung der Menschenrechtsverbrechen während der indonesischen Besatzung von 1975 bis 1999 gelten gemeinhin als gescheitert. Mit breiter gesellschaftlicher Unterstützung hatte Osttimors Wahrheitskommission 2002 die Arbeit aufgenommen. Sie geht von mindestens 102.800 Todesopfern in jenen Jahren aus. Die meisten sind an Hunger und Krankheiten gestorben, rund 18.600 Zivilisten aber gewaltsam getötet oder Opfer von Verschwindenlassen geworden.
Versöhnungsprozess mit Indonesien
Von den Abschlussempfehlungen der Kommission wurde aber bisher kaum etwas umgesetzt – es gibt weder Strafverfolgung noch Reparationen oder Programme zur Unterstützung von Opfern. Stattdessen hat die Regierung mit Indonesien einen Versöhnungsprozess über eine bilaterale Freundschaftskommission begonnen. „Die Versöhnung zwischen Indonesien und Timor-Leste war ein Weg, um den Konflikt zu beenden und Frieden in Timor-Leste für die kommenden Generationen zu schaffen. Damit haben Xanana Gusmão, José Ramos-Horta und andere das Überleben unseres Landes gesichert“, betont Matheus dos Santos, der im Jugendparlament aktiv ist. Dabei bleiben aber viele Opfer unberücksichtigt. So auch Frauen, die während der Besatzungszeit vom indonesischen Militär inhaftiert, vergewaltigt oder gezwungen wurden, ihre Peiniger „zu heiraten“. Sie und ihre Kinder erfahren damals wie heute Ausgrenzung. Armut bestimmt ihr Leben.
Solidarität mit den Opfern ist eine der Aufgaben des Centro Nacional Chega, der Nachfolgeinstitution sowohl der Wahrheits- wie auch der Freundschaftskommission. Das Zentrum wurde auf hartnäckigen Druck von zivilgesellschaftlichen Organisationen 2017 eingerichtet. Mit Erinnerungsarbeit gibt es Opfern Anerkennung, doch „es liegt noch ein langer Weg vor uns“, sagt sein Direktor Hugo Fernandes. Die ehemalige Aktivistin Adelia Guterres, die heute im Innenministerium die Abteilung für Konfliktprävention leitet, pflichtet ihm bei: „Während der Besatzungszeit war unser Traum, frei zu sein. Das haben wir erreicht. Die soziale Gleichheit ist mein Traum für die Zukunft, und dass Frauen, die Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden, endlich auch Gerechtigkeit erfahren.“
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