Für unsere Mitglieder ist Selbstbestimmung eine sehr emotionale Angelegenheit. Selbstbestimmung bedeutet für die Bewegungen die Fähigkeit, eine gewisse Kontrolle über ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu haben. Und die Fähigkeit, Teil der Gesellschaft zu sein. Für uns bei der UNPO ist das Recht auf Selbstbestimmung ein Menschenrecht; es ist in erster Linie ein Recht auf Teilhabe. Es ist kein Recht, sich abzuspalten oder einen unabhängigen Staat zu haben.
Es wollen also nicht alle ihre Mitglieder einen unabhängigen Staat?
Nein. Einige von ihnen streben zwar vollständige Unabhängigkeit an, etwa die Bewegungen in Abchasien oder Somaliland. Andere wollen einen Platz am internationalen Tisch, zum Beispiel Taiwan. Sie kann man nicht als „Sezessionisten“ bezeichnen, denn das ist nicht, was sie wollen. Unserer Erfahrung nach hat der Begriff „Sezessionist“ eine zerstörerische Bedeutung, die autoritäre Regime dazu nutzen, ihre Bürger unter Druck zu setzen. Viele indigene Gemeinschaften wollen keine Unabhängigkeit, sondern einfach Autonomie innerhalb ihrer Nationalstaaten. Sie wollen eine gewisse Kontrolle über ihre Sprache und ihre Kultur haben. Andere wiederum, zum Beispiel die Regierung von Guam, streben lediglich das Recht auf ein Referendum der indigenen Bevölkerung an, um zu erfahren, wie sie über den Status ihres Volkes denken.
Die UNPO
Die UNPO (Unrepresented Nations and Peoples Organization), die Organisation der nicht repräsentierten Nationen und Völker, sieht sich als globale Bewegung für Selbstbestimmung durch Gleichheit, Gleichberechtigung und ...
Die UNPO hat sehr unterschiedliche Mitglieder: Unabhängigkeitsbewegungen wie die in Südkamerun (Ambazonien) oder Spanien (Katalonien), indigene Völker; die größte ethnische Gruppe in Äthiopien, die Oromo; Sprach- und Kulturbewegungen in Demokratien wie die Bretonen in Frankreich und Regierungen von Territorien mit umstrittenem Status wie Taiwan und Somaliland. Was eint sie alle?
Das Gefühl, dass sie auf nationaler Ebene nicht vertreten und entrechtet sind. Schauen Sie sich die „Afrikaaner“ an. Sie sind die ehemaligen Unterdrücker der schwarzen Bevölkerung in Südafrika. Aber unser Mitglied, die Partei Freedom Front Plus, hat sich als einzige Afrikaaner im Parlament für ein Ende der Apartheid und für die gegenwärtige Verfassung in Südafrika eingesetzt. Sie sind Mitglied bei uns, weil sie sich um ihre Sprache und ihre Kultur sorgen. Sie werden überrascht sein, wie schnell Sie eine gemeinsame Basis finden zwischen iranischen Minderheiten, die von der Regierung ermordet werden, und Menschen aus der Bretagne, die keine Gewalt oder Unterdrückung erleben, aber deren Sprache eine lange Zeit von der französischen Regierung unterdrückt wurde.
Sie betonen, dass die UNPO nur gewaltlose Bewegungen als Mitglieder hat. Aber sind nicht einige Ihrer Mitglieder gewalttätig oder in Gewalttaten verwickelt, zum Beispiel jene aus Ambazonien?
Wir hatten verschiedene Bewerber aus Ambazonien. Eine Gruppe war gewalttätig – und selbstverständlich haben wir sie abgelehnt. Unser Mitglied ist viel kleiner, früher war sie größer. Aber wir versuchen, diese Bewegung zu stärken. Damit wollen wir andere Gemeinschaften ermutigen, sich in Richtung Gewaltfreiheit zu bewegen. Ein Problem ist, dass die Menschen in extremistische Bewegungen hineingezogen werden, wenn sich Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte nichts ändert. Und manchmal versuchen Regierungen, Gruppen in Richtung Gewalt zu drängen.
Warum?
Weil sie die wissenschaftlichen Studien kennen, nach denen gewaltlose Bewegungen ihre Ziele häufiger erreichen als gewalttätige. Manche Regierungen versuchen auch, Selbstbestimmungsbewegungen als gewalttätig zu brandmarken. Zum Beispiel sagt Chinas Kommunistische Partei, alle Uiguren seien potenzielle Terroristen – und nutzt das als Rechtfertigung, sie zu unterdrücken. Oder sie sagt, alle Tibeter seien Sezessionisten. Aber Tibet war ein unabhängiges Land, die Tibeter streben nur nach Rechten für ihr eigenes Volk. Und die Uiguren streben nur danach, nicht in Konzentrationslager gesteckt zu werden.
Wie oft lehnen Sie eine Mitgliedschaft ab, weil Bewegungen gewalttätig sind?
Wir lehnen viele aus diesem Grund ab. Wir nehmen aber auch sehr oft Bewegungen wieder auf, die einst gewalttätig waren, sich mit der Zeit dann aber der Gewaltlosigkeit verschrieben haben. Ein Beispiel sind die Moro auf den Philippinen. Ihr Mitgliedsstatus half ihnen schließlich dabei, ein Friedensabkommen auszuhandeln. Wenn Mitglieder hingegen gewalttätiger Rhetorik zuneigen, schließen wir sie aus der UNPO aus – so wie vor kurzem den Southern Transitional Council im Jemen. Das war eine sehr gute gewaltlose Bewegung, die sich allerdings in die falsche Richtung bewegt hat.
Die UNPO feiert dieses Jahr ihr 30-jähriges Bestehen. Was war Ihr größter Erfolg seit der Gründung?
Wir sind sehr stolz auf unsere Mitglieder, die das erreicht haben, was sie wollten und unsere Organisation verlassen konnten: Manchmal ist das Autonomie, manchmal ist es ein Friedensabkommen wie das mit den Moro auf den Philippinen. Wir sind sehr glücklich darüber, was in Bougainville in Papua-Neuguinea passiert ist. Bei dem Konflikt zwischen der Regierung von Papua-Neuguinea und bewaffneten Bewegungen in Bougainville einigten sich beide Seiten schließlich darauf, miteinander zu reden, statt zu kämpfen. Es gab ein Friedensabkommen, welches eine gewisse Autonomie für Bougainville und ein Referendum über die Unabhängigkeit vorsah. Im Dezember 2019 gab es dann das völlig friedliche Referendum, bei dem eine überwältigende Mehrheit der Einwohner von Bougainville für die Unabhängigkeit stimmte. Diese muss zwar noch umgesetzt werden, aber der Prozess zeigt, was passieren kann, wenn sich beide Seiten darauf einigen, ohne Gewalt vorzugehen und das Volk entscheiden zu lassen. Natürlich sind es auch tolle Erfolge, dass die ehemaligen sowjetischen Länder unabhängig geworden sind, ebenso wie Osttimor und Palau. Aber das waren hauptsächlich Errungenschaften unserer Mitglieder, wir hatten nur einen kleinen Anteil daran. Für die UNPO als Ganzes sind wir besonders stolz darauf, dass wir in der Lage waren, in einigen Gesellschaften Frieden zu erreichen, indem wir Gruppen von Gewaltlosigkeit überzeugt und ihnen dafür Anerkennung gezollt haben. Es ist wichtig, dieses Konzept als Mittel zur Veränderung und wertvolle Methode des Engagements am Leben zu erhalten. Eine andere Sache, die wir in den vergangenen zehn Jahren richtig gemacht haben, war unsere Mithilfe bei der Gründung der Koalition „United for a Federal Iran“. Dazu gehören Minderheitengruppen im Iran, die sich zusammengetan haben und überlegen, wie staatliche Strukturen geschaffen werden können, in denen Minderheiten und Menschenrechte respektiert werden.
Die UNPO hat auch geholfen, innerhalb der UN Strukturen der Teilhabe zu schaffen …
Ja, wir waren stark eingebunden in die Mühen, das Ständige Forum für indigene Angelegenheiten und das UN-Minderheitenforum ins Leben zu rufen. Wir arbeiten gerade weiter daran, dass die UN offenbleiben für nichtstaatliche Akteure, das wird leider immer schwerer. Vor allem China macht Druck, das Thema Menschenrechte in den UN zu verdrängen und die Finanzierung für partizipative Strukturen einzuschränken. Viele Demokratien spielen dieses Spiel mit, wenn es für sie nützlich ist.
Einige unrepräsentierte Völker wie die Mapuche in Chile oder die Lakota in Nordamerika sind aus der UNPO ausgetreten. Warum?
Manchmal sterben die Bewegungen einfach, sie verschwinden. Manchmal schaffen sie auf die eine oder andere Weise, was sie erreichen wollen, etwa durch Demokratisierung auf nationaler Ebene oder wie die ungarische Minderheit in Rumänien, die sich nun über die verschiedenen Regierungsebenen der EU engagieren kann und Staatsgrenzen teilweise keine Rolle mehr spielen. In diesen Fällen schwindet ihr Interesse an der UNPO. Viele indigene Gemeinschaften in Nordamerika waren in den 1990er Jahren stark in der UNPO, aber sie haben sie verlassen, nachdem das Ständige Forum für indigene Angelegenheiten geschaffen wurde. Inzwischen kommen aber immer mehr von ihnen zu uns zurück, weil das Ständige Forum ein zunehmend geschlossener Raum wird, den von Regierungen organisierte „nichtstaatliche Organisationen“ füllen.
Was hat sich seit der Gründung der UNPO verändert?
1991, nach dem Kalten Krieg, gab es diesen Optimismus, dass sich die Welt tatsächlich ändern könnte. Wir wurden von Uiguren, Tibetern und Esten gegründet. Sie hatten das Gefühl, dass wir uns global auf eine demokratischere Zukunft zubewegen. In den 1990er Jahren gab es dieses starke Gefühl von der Geltung universeller Menschenrechte. Aber der Optimismus hat sich im Laufe der 1990er Jahre verflüchtigt. Denken Sie nur daran, was im ehemaligen Jugoslawien passiert ist, oder an den Völkermord in Ruanda. Heute erinnert die Welt eher an die Welt vor dem Ende des Kalten Krieges. Es gibt wieder Großmachtpolitik, heute nicht bipolar, sondern multipolar mit Russland und China, der EU und den USA. Und diese vier Blöcke sprechen nicht miteinander, zugleich wächst der Populismus in Indien, in den USA und in Teilen der EU. Dieser Kampf der Mächte schafft Raum für Unterdrückung, wie wir ihn schon lange nicht mehr gesehen haben. Aber es gibt auch eine andere Seite der Medaille. Wir haben einige wirklich erfreuliche Beispiele gesehen, wie man mit dem Recht auf Selbstbestimmung umgehen kann. Was in Papua-Neuguinea zwischen der Regierung und den Einwohnern von Bougainville – offensichtlich mit viel Unterstützung – erreicht wurde, nämlich das friedliche Referendum, ist spektakulär.
Warum legt die UNPO einen besonderen Fokus auf unterrepräsentierte Frauen in Selbstbestimmungsbewegungen?
Frauen aus indigenen Minderheiten sind einer doppelten Diskriminierung ausgesetzt: als Frau und als Angehörige einer indigenen Minderheit. Außerdem sollen unsere Mitglieder sicherstellen, dass sie in ihren Strukturen wirklich gleichberechtigt sind. Meist gibt es auf den unteren Ebenen unserer Bewegungen eine Menge Gleichberechtigung, aber je weiter man in Richtung Führung guckt, desto mehr verschwinden die Stimmen der Frauen. Auch innerhalb der UNPO versuchen wir, diese Stimmen zu stärken.
Und was sehen Sie als Herausforderungen für die nächsten 30 Jahre?
Vor allem die internationale Gemeinschaft dazu zu bringen, das Selbstbestimmungsrecht als das anzuerkennen, was es ist: als ein Instrument und nicht als eine Bedrohung des Friedens. Aber wir tun das in einer sehr schwierigen Welt, in der die Stimmen des Hasses viel leichter zu hören sind. Wir als kleine Organisation versuchen, das ein wenig zurückzudrängen und den Menschen eine Stimme zu geben, die diesen Hass abkriegen.
Das Gespräch führte Melanie Kräuter.
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