„Streit über den ethnischen Föderalismus“

Mulugeta Ayene, Picture Alliance
Rückhalt in der Bevölkerung: Kundgebung zu Ehren des Militärs im vergangenen November, kurz vor der Tigray-Offensive.
Äthiopien
Nach dem Krieg in Tigray werden in Äthiopien die nächsten Wahlen entscheidend sein, erklärt Redie Bereketeab.

Redie Bereketeab ist Forscher am Nordischen Afrika-Institut in Uppsala, Schweden, und assoziierter Professor an der Universität Uppsala. Er arbeitet zu Entwicklungssoziologie, Staat, Nationalismus, Identität und Demokratie, sein regionaler Fokus ist das Horn von Afrika.

Die Offensive der äthiopischen Armee in Tigray ist offiziell beendet. Hat die Zentralregierung jetzt die Provinz unter Kontrolle?
Das kommt darauf an, was man unter „Kontrolle“ versteht. Die Regierung der Tigray-Befreiungsfront TPLF dort existiert nicht mehr, seit sie die Hauptstadt Mekelle und alle Städte in Tigray verlassen hat und sich in ländlichen Gebieten verbirgt. Es gibt noch einzelne Scharmützel, die Armee jagt hohe TPLF-Führer – einige sind festgenommen worden, andere tot, manche weiterhin im Untergrund.

Könnten die jetzt einen Guerillakrieg beginnen?
Die TPLF hat angekündigt, das zu tun, als sie Mekelle verließ. Aber um wirksam einen Guerillakrieg zu führen, müssen ein paar Voraussetzungen erfüllt sein. Eine ist Unterstützung aus der Bevölkerung. Ob das Volk in Tigray wirklich bereit ist, einen neuen, langen und zerstörerischen Aufstand zu unterstützen, muss man erst sehen. Die zweite Voraussetzung ist Zugang zu Hilfe aus dem Ausland. Aber Tigray grenzt an Sudan und Eritrea, die sich auf die Seite der Zentralregierung gestellt haben. Drittens kommt es auf das Verhalten der äthiopischen Regierung an: Wenn sie die Sorgen der Bevölkerung in Tigray aufgreift und Probleme in der Wirtschaft, bei der Infrastruktur, den Menschenrechten und im sozialen Bereich angeht, kann sie Vertrauen gewinnen und einem Guerillakrieg den Boden entziehen.

Was waren die Ursachen dieses Krieges?
Die Spannungen zwischen Tigray und der Zentralregierung waren seit dem Amtsantritt von Präsident Abiy Ahmed 2018 gewachsen. Die TPLF warf ihm vor, die Verfassung zu verletzen, und bezeichnete seine Regierung als illegitim. Als diese und die Wahlkommission die für Mai 2020 geplanten nationalen und regionalen Wahlen verschoben, hat die TPLF eigene regionale Wahlen abgehalten. Die Regierung in Addis Abeba hat daraufhin für Tigray vorgesehene Mittel im Staatshaushalt gekürzt. Die TPLF bezeichnete das als Kriegserklärung. Sie ließ einen General, der das Kommando über die in Tigray stationierte Division der Armee übernehmen sollte, nicht hinein und hat schließlich am 4. November diese Division überfallen – vermutlich, um schwere Waffen in Besitz zu nehmen.

Das Kernproblem war, dass Abyis Amtsantritt einen Machtverlust der TPLF bedeutete und die sich damit nicht abfinden wollte?
Richtig. Davor hatte die TPLF alles kontrolliert: die Wirtschaft, die Polizei, die Armee, die Verwaltung, den Apparat der Regierungspartei EPRDF, die Diplomatie. Sie besaß große Firmen, genoss Privilegien, Militärs und Beamte der TPLF konnten öffentliche Mittel für sich abzweigen. Als sie die Macht verlor, verlor sie auch all diese Vorrechte. Sie versuchte mit allen Mitteln, Einfluss in Addis Abeba zurückzugewinnen, und sabotierte die Arbeit der neuen Regierung. Diese war zu Verhandlungen bereit: Sie sandte 2019 erst Religionsführer, dann ein Komitee von Müttern nach Mekelle, um für eine Verhandlungslösung zu werben. Die TPLF lehnte das beide Male ab und verlangte, eine Koalitionsregierung für eine Übergangszeit zu bilden.

Ist der Krieg in Tigray Symptom eines größeren Problems: Die ethnisch-regionale Ordnung ist zusammengebrochen?
Ja. Die Reformen von 2018 und die politische Öffnung Richtung Demokratie stoßen auf große Probleme. Es gibt Auseinandersetzungen zwischen Volksgruppen in verschiedenen Landesteilen, zum Beispiel Oromo gegen Somali, Somali gegen Afar, Amharen gegen Benishangul, Oromo und Tigrayer. Innerhalb der Oromo gibt es Konflikte zwischen Unterstützern von Abyis Partei des Wohlstands und den föderalistischen Parteien. Der zugrunde liegende Konflikt ist, ob man den ethnischen Föderalismus erhalten oder ihn abschaffen und ersetzen soll durch einen Staat, der nicht auf ethnischer Identität gründet, sondern auf Individuen als Staatsbürgern.

Präsident Abiy hat die Regierungspartei EPRDF, die sich aus ethnischen Parteien zusammensetzte, durch die neue nationale „Partei des Wohlstands“ ersetzt. Will er den ethnischen Föderalismus abschaffen?
Er hat noch nicht klar Position bezogen. Abiy versucht eine gemeinsame äthiopische Identität wiederzubeleben, die er „etiopiawinet“ (etwa: Äthiopiertum) nennt. Seine Gegner deuten das als Hinwendung zum Pan-Äthiopismus und zum Einheitsstaat, wie er während des Kaiserreichs bis 1974 und unter dem Militärregime von 1974 bis 1991 bestand. Hiervor haben viele ethnische Gruppen große Angst. Offiziell sagt Abiy aber, er wolle den ethnischen Föderalismus stärken, nicht untergraben. Zwischen Wort und Tat besteht da ein Widerspruch.

Werden ethnische Ressentiments von lokalen Eliten geschürt, die angesichts des politischen Wandels regionale Staatsorgane im Griff halten wollen?
Gegen den Einheitsstaat sind nicht nur die Eliten. Die genannten Gruppen, Tigrayer sowie die vielen kleineren Völker im Süden Äthiopiens fürchten, dass ihre Autonomie und der Respekt vor ihren Kulturen, Sprachen und Identitäten verloren geht, wenn der ethnische Föderalismus abgeschafft wird. Zugleich möchten sie aber einen starken Staat, nicht einen schwachen, der für Konflikte anfällig ist. Die Offensive in Tigray haben die meisten anderen Volksgruppen unterstützt, möchten aber die ethnisch-föderale Ordnung erhalten.

Werden die Konflikte in Äthiopien internationalisiert, weil Eritrea und der Sudan sich einmischen?
Das sehe ich nicht. Man hat befürchtet, dass der Krieg in Tigray sich auf ganz Äthiopien und auf das Horn von Afrika ausweiten könnte. Das ist nicht passiert und der Krieg ist praktisch beendet. Dass Soldaten aus Eritrea die äthiopische Armee unterstützt haben, wird von beiden Regierungen bestritten. Und die Ursachen der jüngsten Zusammenstöße von Soldaten des Sudan und Äthiopiens im Januar liegen in einem alten Streit über den genauen Grenzverlauf und über äthiopische Bauern und Milizen in einem Gebiet, das der Sudan beansprucht. Es kann sein, dass Khartum hier die Krise in Äthiopien ausnutzt, um seinen Anspruch zu festigen. Aber ich werte das nicht als Internationalisierung der inneräthiopischen Konflikte.

Welchen Weg dürfte das Land jetzt nehmen?
Die für Juni angesetzten Wahlen werden entscheidend sein. Sie bestimmen die Verteilung der Macht in der Zentralregierung und in den Regionen. Die regierende Partei des Wohlstands steht mehr oder weniger für nationale Einheit. Es werden auch viele ethnische Parteien antreten, aber sie sind sehr zersplittert. Zum Beispiel sind von den Oromo-Parteien selbst die, die gegen Abiy sind, nicht einig. Nach meinen jüngsten Informationen hat die Wahlkommission über hundert Parteien registriert; wahrscheinlich ist die Mehrzahl davon ethnisch orientiert, einige sind multi-ethnisch. Eine stark gespaltene Opposition wird bei den Wahlen wahrscheinlich nicht gut abschneiden.

Fürchten Sie, dass die Wahlen mit neuer Gewalt einhergehen?
Die Gefahr besteht. Die Opposition sagt bereits, die Vorlaufzeit sei zu kurz. Aber wenn die Wahlen erneut verschoben werden, wird man Abiy wieder vorwerfen, nur an der Macht bleiben zu wollen. Nach meiner Meinung ist es besser, bald Wahlen abzuhalten und danach die kritische Frage zur Verfassung anzugehen: Soll der ethnische Föderalismus bleiben oder durch einen nicht auf ethnischer Identität beruhenden Föderalismus abgelöst werden? Das kann nur nach Wahlen mit Verhandlungen und einer Verfassungsreform gelöst werden.

Könnte Äthiopien daran auch zerbrechen?
Ein Risiko gibt es immer. Aber auch wenn Krieg nie etwas Gutes hat, sind einige Auswirkungen des Krieges in Tigray gut: Erstens ist die Armee jetzt eine geeinte nationale Institution – zuvor war sie oft uneinig und galt als Arm der EPRDF. Zweitens zeigt die Tatsache, dass alle anderen Regionen die Operation in Tigray unterstützt haben, dass eine Art nationale Einheit und ein Wille zum Zusammenleben entstehen.

Ist Hilfe oder Druck von außen sinnvoll?
Schwierig. Es gab diplomatischen Druck auf Addis Abeba, den Konflikt mit der TPLF im Dialog beizulegen; das hat die Mehrheit der Äthiopier als Einmischung in innere Angelegenheiten. Dass die Regierung und die TPLF auf eine Stufe gestellt wurden, fand man inakzeptabel. Diese diplomatische Einmischung ist gescheitert und hat das Verhältnis Äthiopiens zur Staatengemeinschaft belastet. Äthiopien hat in erster Linie ein politisches Problem, das mit Macht zu tun hat. Die verschiedenen ethnischen Gruppen müssen verhandeln und einen neuen Sozialvertrag finden, der alle zufriedenstellt. Die UN, die EU und die Afrikanische Union können das vielleicht von außen unterstützen, aber es muss im Land passieren.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

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erschienen in Ausgabe 3 / 2021: Sport im Süden
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