Stell dir vor, du siehst einen sehr grausamen Film und dann erkennst du: Du steckst mittendrin. Du siehst zu, wie deine Kinder vergewaltigt werden, du siehst zu, wie dein Haus in Brand gesteckt wird.“ In dickem französischem Akzent beschreibt Flora Samba die Gräuel in ihrer Heimat – oder, wie sie die Bürgerkriegsjahre nennt: „Den Albtraum von Zentralafrika“. Samba, 43, ist die einzige klinische Psychologin in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR). Für die Tatsache, dass sie für fast fünf Millionen Einwohner zuständig ist, von denen die meisten unter Kriegstraumata leiden, findet sie nur ein Wort: „Bizarr“.
Nach dem Sturz von Präsident François Bozize 2013 war die Zentralafrikanische Republik Schauplatz eines religiös motivierten Bürgerkriegs zwischen christlichen und muslimischen Milizen. Seitdem fand die ehemalige französische Kolonie wieder zu brüchiger Stabilität zurück. Doch immer noch kontrollieren bewaffnete Gruppen etliche Teile des Landes. 680.000 Zentralafrikaner sind als Binnenvertriebene auf der Flucht. Fast genauso viele flohen ins Ausland. Unterdessen ist die Angst groß, dass der Konflikt erneut aufflammt.
Als 2012 der Konflikt ausbrach, lebte Samba in Kanada. Sie hatte ihre Heimat verlassen, als sie 15 Jahre alt war, das war 1992. In Frankreich studierte sie später Psychologie. „Vor langer Zeit konnte man auch in der Zentralafrikanischen Republik Psychologie studieren, doch der Studienzweig wurde eingestampft. Hier denkt man, Psychologie sei für Verrückte“, so Samba. Der Bürgerkrieg habe ein Umdenken gebracht: „Die Leute entwickelten ein seltsames Gefühl der Trauer, der Teilnahmslosigkeit und der Angst, das sie zuvor nicht gekannt hatten. Sie hatten plötzlich das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden.“ Die Psychologin wusste das Gefühl zu benennen: Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).
Samba bildet psychologische Hilfskräfte aus
2017 kehrte die Mutter von drei Kindern nach Zentralafrika zurück und gründete in der Hauptstadt Bangui die Hilfsorganisation Obouni. „In Frankreich und Kanada gab es bereits genügend Psychologen, in Zentralafrika nicht. Ich wollte den Menschen in meinem Land mit meinen Fähigkeiten helfen.“
Zwar gebe es eine Handvoll Psychotherapeuten in der ZAR. Doch sie seien entweder im Ruhestand oder arbeiteten turnusmäßig für internationale Hilfsorganisationen, so dass sie nur selten eine Beziehung zu Patienten aufbauen könnten. Samba bildet deshalb Zentralafrikaner zu psychotherapeutischen Hilfskräften aus. „Sie können zwar keine Diagnosen stellen, aber sie erkennen, ob bestimmte Verhaltensweisen auf Krankheiten wie Psychosen, Depressionen oder PTBS hindeuten.“
Ihre Aufgabe bezeichnet sie mit einem Lächeln auf den Lippen als „schwierig“. Das betreffe zum einen die Einstellung mancher Auszubildender. Viele glaubten, psychologische Begleitung sei eine einfache Aufgabe, für die man nicht viel Vorwissen brauche – weshalb sie schließlich oft daran scheiterten. Aktuell hat Samba sieben Mitarbeiter. Sie hatte mehr, aber etliche brachen ihre Ausbildung vorzeitig ab. „Sie waren dem Druck nicht gewachsen.“ Ein weiteres Problem sei die weit verbreitete Armut, die eine unbezahlte Ausbildung in den Augen einiger Zentralafrikaner als Luxus erscheinen lasse: „Die Menschen müssen ihre Familien durchbringen – ein Gehalt gibt es aber erst nach der Ausbildung.“
Große kulturelle Unterschiede zwischen ZAR und Westen
Zum anderen erschwerten kulturelle Unterschiede ihre Arbeit, bemerkt die in Europa und Amerika aufgewachsene Ärztin. „Man kann die Probleme in Zentralafrika nicht so anpacken, wie man das im westlichen Kontext machen würde.“ Ihre Behandlungsmethoden umfassen neben herkömmlicher Psychotherapie auch Atem- und Dehntechniken sowie traditionelle Tänze.
Depressionen gibt es in allen Ländern und Kulturen, doch der Umgang ist grundverschieden, erzählt Samba. „Berührungen sind im zentralafrikanischen Kontext tabu. Denn wenn jemand vergewaltigt wurde oder Gewalt durchlebte, versetzt ihn die Berührung direkt in diese Situation zurück.“ Darüber hinaus suchten viele Traumatisierte in Zentralafrika nicht von sich aus psychologische Hilfe, sondern müssten von Verwandten, Ärzten oder Geistlichen in ihrem Umfeld erst dazu gedrängt werden. Wenn sie dann einmal eine Gruppen- oder Einzeltherapie bei Samba besuchten, hofften einige an eine spontane Heilung. Dabei setze diese viel Eigeninitiative voraus. Regelmäßig muss Samba daher zum Hörer greifen und eine Liste mit Patienten abtelefonieren, um sie daran zu erinnern, ihre Übungen zur Stressbewältigung auszuführen.
Obouni, der Name der Organisation, ist gleichzeitig Sambas Credo. Übersetzt heißt er: „Egal, was kommt, wir werden Erfolg haben.“ Samba und ihre Laien-Therapeuten arbeiten mit der Regierung in Bangui, internationalen NGOs und der UNO zusammen. Auf diese Weise erreichen sie Menschen selbst in entlegenen Dörfern. Und die Zusammenarbeit bietet ein gewisses Maß an Schutz vor bewaffneten Gruppen. Optimismus äußert Samba über den Berufswunsch Psychologe. Langsam, und nicht zuletzt dank Fernsehen und Internet, werde dieser auch für junge Zentralafrikaner attraktiv. „In US-Serien sehen Jugendliche Profiler und plötzlich interessieren sie sich für Psychologie.“
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