Die junge Frau war nur für kurze Zeit in Sicherheit. Kämpfer des Islamischen Staats (IS) hatten die Jesidin verschleppt, vergewaltigt und als Sexsklavin gehalten. Sie floh und kam in ein Flüchtlingslager im Nordirak. Nach zwei Wochen erlitt sie einen Flashback, wähnte sich wieder in den Händen ihrer Peiniger. Ein unerträgliches Gefühl für die 16-Jährige: Sie übergoss sich mit Öl und zündete sich an.
Jan Kizilhan kennt viele solcher Geschichten. Er erzählt sie in ruhigem, unaufdringlichem Tonfall, fast so, als wolle er niemanden damit erschrecken. Der Psychologe aus dem Südschwarzwald behandelt seit zwanzig Jahren Menschen, die den Krieg zwar überlebt, aber längst nicht verarbeitet haben: Opfer des Völkermordes in Ruanda, der Kriege auf dem Balkan, in Pakistan, Tschetschenien. Diese Erfahrungen hätten ihm im Nordirak geholfen, sagt er.
Der 50-Jährige hat an Universitäten in den USA und Deutschland geforscht und promoviert, seit 2010 ist er Professor an der Dualen Hochschule für Soziale Arbeit in Villingen-Schwenningen. Transkulturelle Traumaforschung ist sein Fachgebiet. Für seine Erkenntnisse hat sich lange Zeit außerhalb einschlägiger Kreise kaum jemand interessiert. Doch das hat sich geändert, seit Kizilhan dem Terror des IS so nahe gekommen ist wie kaum ein anderer deutscher Wissenschaftler.
„Du hast gar keine andere Wahl“
Angefangen hat alles im Herbst 2014 mit einem Anruf aus Stuttgart. Ob er im Auftrag der Landesregierung die Aufnahme von tausend traumatisierten Frauen aus dem Nordirak leiten wolle? Kizilhan ist Traumatologe, hat als Orientalist über Minderheiten im Nahen Osten geforscht und entstammt einer jesidischen Familie aus dem kurdischen Teil der Türkei. Trotzdem zögerte er. Nie habe er den Plan gehabt, sich mit seinen eigenen Wurzeln zu beschäftigen, erzählt er. Den Ausschlag gab seine Familie: „Sie haben gesagt: Du hast gar keine andere Wahl.“
Kizilhan flog in den Nordirak. Depressiv und ängstlich seien die Menschen dort damals gewesen. Wenige Wochen zuvor waren Milizen des IS in das Sindschar-Gebirge eingefallen, die Heimat der jesidischen Minderheit. Sie töteten Männer und Kinder, verschleppten Frauen und Mädchen, misshandelten und folterten sie. Nach und nach entkamen viele Jesidinnen oder wurden freigekauft, heute werden noch rund 3000 Frauen und Mädchen in der Gewalt des IS vermutet.
Zuflucht fanden die meisten Jesiden in Dohuk, einer Stadt, in der auf eine halbe Million Einwohner genauso viele Flüchtlinge kommen. „Es gab in der ganzen Stadt gerade mal fünf Psychologen“, sagt Kizilhan. Die schlechte psychologische Versorgung sei ein Grund gewesen, die Frauen nach Deutschland zu holen. Aber nicht der einzige: Viele hätten sich im Irak unsicher und entwurzelt gefühlt. „Die Menschen haben ihre Heimat und damit jeden Halt verloren.“ Zudem seien die vergewaltigten Frauen anfangs von ihrer Gemeinschaft verstoßen worden. Erst nachdem der religiöse Führer der Jesiden, auch auf Drängen Kizilhans, eine neue Fatwa zur Wiederaufnahme der Frauen erließ, habe sich das gebessert.
Einfach war die Auswahl nicht
Kizilhan musste entscheiden, wer ins sichere Baden-Württemberg fliegen darf. Er interviewte mehr als 1400 Frauen, die dem IS entkommen waren, erstellte Diagnosen und besprach jeden Fall mit Kollegen und einem Vertreter der Landesregierung. Einfach sei die Auswahl nicht gewesen, meint er. „Unser Ziel war, die Frauen rauszuholen, die am stärksten Schutz bedürfen.“
In den Gesprächen mit den Jesidinnen – Kizilhan spricht ihre Sprache, Kurmandschi –, hörte er oft das Wort „sernan“. Es bedeutet Holocaust oder Völkermord. Als solchen erlebten die Jesiden den Angriff des IS auf ihre Gemeinschaft. Eine Kommission der Vereinten Nationen kam später zu der gleichen Einschätzung. Die Jesiden seien in ihrer 800-jährigen Geschichte immer wieder in ihrer Existenz bedroht worden, sagt Kizilhan. Zu Zeiten des Osmanischen Reichs seien über 1,8 Millionen Menschen zwangskonvertiert und 1,2 Millionen ermordet worden. Kizilhan: „Die Leute leiden außer unter ihrem individuellen und kollektiven auch unter einem transgenerationellen Trauma. Und das müssen wir berücksichtigen.“
Dass die Jesiden schon als Kinder Geschichten, Gebete oder Lieder über ihre Verfolgung kennenlernen, könne ihnen jetzt helfen, meint Kizilhan. Es sei gesund, die eigene Erfahrung mit einer historischen Erinnerung zu verbinden und auf diese Weise zu relativieren. Solche Bewältigungsmechanismen versucht er in die Therapie einzubeziehen. Zum Beispiel fragt er seine Patientinnen nach ihren Vorfahren. Und er lässt sie ihre Erfahrungen in Form von Geschichten erzählen, um sich so vorsichtig den traumatischen Erlebnissen zu nähern.
Im Nordirak beobachtete Kizilhan dasselbe Muster, das ihm auch schon in Ruanda oder in Pakistan begegnet war. Die Patienten klagten nicht über ihre gedrückte Stimmung oder Depressionen, sondern über Kopf-, Rücken-, oder Bauchschmerzen. Die Menschen in traditionellen Gesellschaften trennten häufig nicht zwischen seelischem und körperlichem Leid, erklärt Kizilhan. Die Idee einer Psychotherapie sei deshalb vielen abwegig erschienen. „Sie wollten nicht reden, sondern einfach Medikamente einnehmen.“ Auch Drogenmissbrauch sei deshalb ein großes Problem.
Psychotherapie im Irak etablieren
Allerdings habe sich die Haltung in den vergangen drei Jahren gewandelt, meint Kizilhan. „Psychische Leiden sind heute weniger stigmatisiert, die Leute kommen von selbst zu uns. Aber es gibt kaum Therapeuten.“ Um das zu ändern, hat Kizilhan mit Unterstützung des Landes Baden-Württemberg an der Universität Dohuk ein Institut für Psychotherapie eröffnet. Seit Anfang des Jahres werden dort Psycho- und Traumatherapeuten ausgebildet. Sie sollen später in Flüchtlingscamps oder Sozialstationen tätig werden und dazu beitragen, die Psychotherapie im Irak zu etablieren.
Als Direktor des Instituts wird Jan Kizilhan weiterhin zwischen Südschwarzwald und Nordirak pendeln. Und er wird sich weiter um traumatisierte Frauen und Mädchen kümmern. Seine Erfahrung helfe ihm, eine gewisse Distanz zu wahren, erklärt er. Aber wenn eine Achtjährige vor ihm sitze und von ihrer Vergewaltigung berichte, sei das sehr schwer. Als Mensch und zweifacher Familienvater finde er keine Antworten auf die Grausamkeit. Als Wissenschaftler schon.
Autor
Sebastian Drescher
ist freier Journalist in Frankfurt und betreut als freier Mitarbeiter den Webauftritt von "welt-sichten".In seinem Buch beschreibt Kizilhan die Mechanismen, die vor allem junge Männer, die zuvor häufig selbst Demütigung und Gewalt erfahren haben, zu rücksichtslosen Schlächtern machen. Entscheidend sei die Ideologie des IS, die auch die extreme Gewalt gegenüber der jesidischen Minderheit begründe: „Der IS verfolgt die Jesiden als Ungläubige und Teufelsanbeter und entmenschlicht sie damit komplett.“ Dass die Terroristen Männer ermordeten und die Frauen verschleppten und versklavten, habe System. Der perversen Logik des IS nach werde eine Jesidin mit dem Akt der Vergewaltigung zu einer Muslimin.
Angesichts solcher entwürdigender Erfahrungen falle es den Frauen sehr schwer, überhaupt wieder anderen Menschen zu vertrauen. Der erste Schritt sei, ihnen das Gefühl von Sicherheit zu geben. Das sei im Irak, wo der IS noch immer nicht ganz vertrieben ist, schwieriger als in Deutschland, erklärt Kizilhan. Aber auch hier brauche es Zeit. Bislang habe nur jede Dritte der Patientinnen in Baden-Württemberg eine Therapie begonnen. Darin müssten die Frauen akzeptieren lernen, dass die erlebten Grausamkeiten zu ihrem Leben gehören – aber eben nur einen Teil davon ausmachten, sagt Kizilhan: „Dann können sie auch wieder nach vorne schauen.“
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