Die grausame Vergangenheit kehrt wieder

Getty Images, Raul Arboleda
Wer hat unsere Söhne getötet?, fragen diese beiden Mütter. Die Organisation „Mütter der falsch Positiven“ erinnert daran, dass das Militär Tausende junge Männer ermordet und fälschlich als Rebellen präsentiert hat.
Kolumbien
In Kolumbien haben Whistleblower eine Abhöraktion aufgedeckt, von der auch der frühere Präsident Álvaro Uribe profitieren wollte. Militärs spionieren Journalisten, Richtern oder Oppositionellen nach, um sie zu diskreditieren – wie schon einmal während des Bürgerkrieges.

Spionage und illegale Abhörungen haben in Kolumbien eine traurige Tradition. Dieses Jahr wurde berichtet, dass Militärs mit einem geheimen Abhörnetz unliebsame Journalistinnen und Journalisten, Oppositionelle, Mitglieder von NGOs sowie Richterinnen und Richter ausgespäht haben. Sie sind in Kolumbien in weiten Kreisen die üblichen Verdächtigen. Brisant ist dabei auch, dass viele der Journalisten für US-amerikanische Medien arbeiten. Bekannt geworden ist die Abhöraktion vor allem durch die  „carpetas secretas“, die Geheimordner, über die die Wochenzeitung „Semana“ Anfang Mai 2020 berichtete. Whistleblower des militärischen Abschirmdienstes hatten den Journalisten das Material weitergegeben. 

Die Aktivitäten der Militärs wecken Ängste vor einem Rückfall in alte Strukturen. Vor rund elf Jahren erschütterte ein ähnlicher Geheimdienstskandal Kolumbien. Auch damals wurden die üblichen Verdächtigen illegal abgehört, um ihre Arbeit zu diskreditieren. Das Land befand sich in dieser Zeit in einer kritischen Phase des bewaffneten Konfliktes  zwischen linker Guerilla, rechten Paramilitärs, Drogenbanden und dem Staat. 2016 wurde zwar unter der Präsidentschaft von Juan Manuel Santos (2010 bis 2018) ein Friedensvertrag mit der FARC-Guerilla geschlossen, aber seitdem sind mehr als 1000 Aktivisten und über 230 Ex-Guerilleros ermordet worden. 

Dem Bericht von „Semana“ zufolge haben die Militärs sogenannte Profile angelegt: Organigramme, mit denen sie die Kontakte der Ausgespähten analysierten und teilweise sogar Bewegungsprotokolle erstellten. Dies alles ohne richterlichen Beschluss. Mindestens 150 Personen sollen in diesen Geheimdateien auftauchen, darunter mehr als 50 Journalisten. Die Cyberspione verwendeten anscheinend vor allem öffentlich zugängliche Daten aus den Social-Media-Profilen der Betroffenen. 

Noch weiß man wenig darüber, was genau analysiert wurde und zu welchem Zweck. „Jedes Profil ist anders, einige haben mehr Details als andere“, erklärt Jonathan Bock von der Vereinigung für Pressefreiheit in Kolumbien (FLIP). Die Organisation betreut mehrere der betroffenen Journalisten. Bock ist frustriert, weil der kolumbianische Staat nicht bereit ist, bei der Aufklärung zu helfen: „Die Antworten, die wir bisher erhalten haben, befriedigen unsere Forderung nach Transparenz und Wahrheit nicht.“ Vor allem machen ihm gewollte oder ungewollte falsche Aussagen in den Profilen Sorgen.

Den Korrespondenten des öffentlichen US-amerikanischen Radiosenders NPR in Kolumbien, John Otis, erinnert die fehlerhafte und offensichtlich stümperische Geheimdienstarbeit eher an Slapstick-Parodien von chaotischen Polizisten aus der Stummfilmzeit. „Ich weiß, dass das ein ernstes Thema ist, aber diese Art der Spionage ist verdammt komisch“, sagt er lachend. Otis lebt seit mehr als 20 Jahren in Kolumbien und hat ein Buch über die erfolgreiche Arbeit der kolumbianischen Geheimdienste bei der Befreiung dreier von der FARC entführter US-Amerikaner geschrieben. 

Autor

Stephan Kroener

ist freier Journalist und Historiker in Kolumbien.
Sein Profil, das „Semana“ teilweise veröffentlichte und das die Militärspione vor allem aus Fotos seines persönlichen Facebook-Accounts angelegt haben, ist für ihn „keine professionelle Arbeit“.  Aus irgendeinem Grund wird er als Freund des Korrespondenten der „New York Times“ (NYT) Nicholas Casey gehandelt. „Ich habe ihn einmal getroffen, nicht mal auf Facebook sind wir Freunde“, sagt Otis. Bei seinem ebenfalls ausgespähten Kollegen Juan Forero, Büroleiter des „Wall Street Journal“ in Südamerika, haben sich die Spione im Profilfoto geirrt und stattdessen das von Foreros totem Vater verwendet. Doch auch Otis ist besorgt, weil nicht klar ist, was der Geheimdienst bezweckte. „Es gibt die These, dass sie versuchten, über uns an unsere Quellen zu kommen“, an die Kontakte in den Regionen. 

Diese Befürchtung treibt auch den Fotojournalisten Nicolas Bedoya um. Als sogenannter Fixer arbeitete der US-Kolumbianer im Jahr 2018 für die „NYT“, organisierte Interviews, übersetzte und war der Guide für die Region Ituango im Norden Medellíns. „Drei meiner Quellen wurden bis zur Veröffentlichung des „Semana“-Berichts ermordet. Einer gehörte einer illegalen Gruppe an und wurde von Soldaten erschossen. Am Ende weiß ich nicht, ob diese Leute ihn getötet haben, weil ich mit ihm in Kontakt stand.“

Aufgrund einer Morddrohung   kurz nach der Arbeit mit der „NYT“ musste Bedoya Kolumbien verlassen. Doch nachdem das kolumbianische Militär den Hauptverdächtigen, einen Dissidenten der FARC alias Mamarrón  im September 2019 gefasst hatte, kehrte Bedoya zurück – nur um wenig später seinen Namen in „Semana“ zu lesen. Die Zeitschrift hatte einige betroffene Journalisten über die Abhöraktion informiert und um Erlaubnis gebeten, die von den Spionen angelegten Profile zu veröffentlichen. „Ich hatte erst mal keine Angst“, sagt der 28-Jährige. Doch als Ende vergangenen Juni alias Mamarrón aus einer Kaserne, in der er inhaftiert war, fliehen konnte, begann sich auch Bedoya Sorgen zu machen: „Haarsträubend, dass die Armee mich ausspioniert und dann den Mann fliehen lässt, der mich ermorden will.“

Eine erneute Welle außergerichtlicher Hinrichtungen

Ausgangspunkt für die bekannt gewordenen Ausspähungen war wahrscheinlich ein Artikel von Nicholas Casey von Anfang Mai 2019. Casey arbeitete bis 2019  als Korrespondent und Leiter des Büros für die Andenregion der „NYT“. In seinem Artikel deckte Casey interne Anweisungen auf, die die „Standards zum Schutz unschuldiger Zivilisten senken“ sollten, um höhere „Erfolgsquoten“ zu erreichen. Für den Korrespondenten deutete dies auf die Gefahr einer erneuten Welle außergerichtlicher Hinrichtungen durch das kolumbianische Militär hin. Die sogenannten Falsos Positivos, die falschen Positiven, wie diese Morde an Zivilisten und verübt von Soldaten in der kolumbianischen Öffentlichkeit bezeichnet werden, waren eine weit verbreitete Praxis im Kolumbien des Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez (2002 bis 2010). Die kolumbianische Staatsanwaltschaft geht von etwa 2250 Opfern aus, Menschenrechtsorganisationen von 5000 bis 6000, einige sogar von bis zu 10.000, wobei die Tatzeiträume variieren. 

Oft wurden für diese Taten Jugendliche aus marginalisierten Stadtvierteln in abgelegene Gegenden gelockt, um sie dort zu ermorden und als im Kampf gefallene Guerilleros zu präsentieren. Für diese Positivos bekamen die beteiligten Soldaten Prämien oder Urlaubstage, und ihre Befehlshaber konnten die Kampfstatistiken schönen. Diese wiederum nutzten Politiker, um in Washington die über die Jahre mehr als zehn Milliarden US-Dollar Militärhilfe zu rechtfertigen, mit denen der Kampf gegen die „Narco-Guerilla“ seit Anfang des Jahrtausends finanziert wurde.  

Nachdem Casey seinen Bericht in der „NYT“ veröffentlicht hatte, wurde er von führenden Politikern des regierenden Centro Democrático (CD) – der Partei Uribes – diffamiert und bezichtigt, von der Guerilla finanziert worden zu sein. Die kolumbianische Kongressabgeordnete des CD, María Fernanda Cabal, nannte das US-amerikanische Leitmedium im besten Trump-Jargon „den König der Fake News“. Casey erhielt Morddrohungen und musste ebenso wie ein weiterer Fotograf des US-amerikanischen Traditionsmediums im Mai 2019 übereilt ausgeflogen werden.

Im Militär selbst begann eine regelrechte Hexenjagd auf die Whistleblower, die Casey die geheime Anweisung der Armeeführung zugespielt hatten. Nur vier Tage nach der Veröffentlichung des Artikels mussten sich mehrere hohe Militärangehörige in Kolumbien strengen Verhören unterziehen, bei denen nach Presseberichten auch Lügendetektoren eingesetzt wurden. Viele der Verdächtigten erhielten Morddrohungen, wurden geschnitten oder unbegründet versetzt. 

Abhöraktion auf ausländische Korrespondenten

„Es gibt mehrere Fraktionen innerhalb der Armee“, die sich gegenseitig misstrauen und ausspionieren, erklärt Otis. „In der Armee herrscht eine Menge Unordnung und Mangel an Kommando. Dadurch sind diese Missbräuche möglich.“ Der US-Amerikaner ergänzt: „Caseys Artikel hat die Armee sehr gestört. Ich denke, deswegen legten sie den Fokus der Abhöraktion auf ausländische Korrespondenten.“ In den bekannt gewordenen Geheimordnern steht Casey im Mittelpunkt. Die Cyberspione überprüften sogar die Follower auf seinen Social-Media-Kanälen.

Auch „Semana“ sah sich aufgrund ihrer Nachforschungen Bespitzelungen ausgesetzt. Mitarbeiter der Zeitschrift berichten, dass ihr Redaktionsgebäude im Laufe des Jahres 2019 regelmäßig überwacht und Journalisten verfolgt wurden. Auch Todesdrohungen in Form von Beileidsbekundungen wurden verschickt, eine bekannte Einschüchterungsmethode in Kolumbien. Einer der militärischen Whistleblower erzählte den Journalisten: „Ein Oberst des Cybergeheimdienstes bot mir 50 Millionen Pesos (damals etwa 13.000 Euro), um einen Virus in die Computer von „Semana“-Journalisten einzuschleusen und so auf deren Informationen zugreifen zu können.“

Auch die Redaktion von „Rutas del Conflicto“ (RdC) wurde beschattet. Von einem Großteil der Belegschaft seien Profile angelegt worden, berichtet eine Sprecherin und bitte um Anonymität. RdC, zu Deutsch „Wege des Konflikts“, will Kriegs- und Widerstandsgeschichten untersuchen und sichtbar machen. Dabei, so die Sprecherin, recherchierten sie auch über Verbindungen zwischen dem kolumbianischen Militär und multinationalen Rohstoffkonzernen. „Wir glauben, dass die Bespitzelung ab diesem Zeitpunkt begonnen hat.“ Die Vereinigung für Pressefreiheit (FLIP) vermutet, dass die Profile vor allem für Verleumdungskampagnen genutzt werden sollten. „Man überlegt es sich jetzt zweimal, gegen Militär und Polizei zu recherchieren“, sagt die Sprecherin von RdC. 

Hat der Ex-Präsident profitiert?

Teile der neuen illegalen Geheimdienstarbeiten wurden zudem an ein Mitglied in Uribes Dunstkreis weitergegeben. Der frühere Präsident ist der schärfste Kritiker des Friedensprozesses und immer noch ein politischer Strippenzieher. Dies ist umso besorgniserregender, als unter den Bespitzelten auch die Richterin ist, die gegen Uribe wegen Zeugenbestechung ermittelte. Die Richterin zog sich auch aus diesem Grund aus dem Verfahren zurück. Für viele deutet ihr Name in den Geheimdokumenten darauf hin, dass der Ex-Präsident – gegen den gleich mehrere Gerichtsverfahren laufen – von den Ausspähungen profitiert haben könnte.

„Die makabre Operation imitiert perfekt die Bespitzelungen durch den DAS”, erklärte Iván Cepeda Anfang Mai im kolumbianischen Radiosender RCN. Der DAS war der Inlandsgeheimdienst Kolumbiens und wurde nach dem Abhörskandal 2011 aufgelöst. Der linke Oppositionspolitiker Cepeda strengt seit Jahren Gerichtsverfahren gegen Uribe an; er wirft ihm eine Zusammenarbeit mit Paramilitärs während des bewaffneten Konflikts vor.

Drei Monate nach der Veröffentlichung von „Semana“ wurde Ex-Präsident Uribe wegen der laufenden Ermittlungen unter Hausarrest gestellt. Aus seinem 15 Quadratkilometer großen Domizil twitterte er weiter gegen die Justiz, NGOs, Journalisten sowie Oppositionelle. Aufgrund von Verfahrensfehlern kam Uribe Anfang Oktober vorläufig frei und auch die juristische Aufarbeitung der carpetas secretas  scheint ins Stocken geraten zu sein. So kritisiert die FLIP in einem im September veröffentlichten Statement: „Es ist besorgniserregend, dass die Fortschritte in dem Fall (der carpetas secretas) minimal sind und keine Garantie für die Pressefreiheit oder den Schutz der Quellen bieten.“ Die üblichen Verdächtigen sind auch vier Jahre nach dem Friedensvertrag in Kolumbien weiter im Fadenkreuz politischer Akteure und Spionen in Uniform, deren Handeln bisher straflos bleibt. 

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erschienen in Ausgabe 12 / 2020: Auf die Heißzeit vorbereiten
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