Proteste in den Städten greifen erstmals auch den Unmut im Hinterland auf: Indigene schließen sich im Dezember 2019 in der Hauptstadt Bogotá den Protesten gegen Präsident Duque an.
Kolumbien hat sich im November 2019 in die Serie südamerikanischer Staaten eingereiht, die von schweren Protesten erschüttert wurden – nach Chile, Ecuador und Bolivien. Als Reaktion auf Gerüchte über geplante Renten- und Arbeitsmarktreformen rief eine breite Allianz sozialer Organisationen um Gewerkschafts- und Studierendenverbände für den 21. November zu einem „nationalen Streik“ auf. Daraus entwickelte sich eine Welle großer landesweiter Demonstrationen, die besonders die Großstädte und die Hauptstadt Bogotá ergriff. Über mehrere Wochen gingen Hunderttausende Menschen in weitgehend friedlichen Protesten auf die Straße. Weder einzelne Akte von Vandalismus und Plünderungen, die in den Medien aufgebauscht wurden, noch das mitunter äußerst repressive Vorgehen der Polizei oder nächtliche Ausgangssperren konnten die Dynamik aufhalten. Erst mit den Weihnachtsferien flauten die Proteste ab, dauern aber in kleinerem Ausmaß auch im neuen Jahr an.
Die Proteste sind nicht vom Himmel gefallen: Bereits im Oktober 2019 hatte die Bevölkerung ein deutliches Signal der Unzufriedenheit mit der rechtskonservativen Regierung von Präsident Iván Duque gesetzt. Bei den Wahlen auf Provinz- und Gemeindeebene wurde Duques Partei, das Centro Democrático, abgestraft. Stattdessen setzten sich eine ganze Reihe unkonventioneller Kandidatinnen und Kandidaten durch: In Bogotá gewann die offen homosexuelle Claudia López von der Mitte-Links-Partei Alianza Verde, in der Hafenstadt Buenaventura zog der afrokolumbianische Aktivist Víctor Hugo Vidal ins Rathaus ein, und das Bürgermeisteramt in der Kleinstadt Turbaco sicherte sich mit Guillermo Enrique Torres ein ehemaliger Kämpfer der demobilisierten FARC-Guerilla.
Proteste sind Hinweis auf Normalisierung
Beide Ereignisse – die Regionalwahlen wie die jüngsten Massenproteste – lassen sich als Hinweis auf eine Normalisierung lesen: Kolumbien erscheint zunehmend als lateinamerikanisches Land wie seine Nachbarn. Das war vor kurzem noch anders: Als gegen Ende der 1990er Jahre ein Aufschwung sozialer Bewegungen und Massenproteste die meisten Nachbarstaaten Kolumbiens erfasste und als in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends quer durch die Region mehr oder minder linke Regierungen an die Macht kamen, blieb Kolumbien außen vor. Lange Jahre beherrschte der Bürgerkrieg das politische Geschehen. Er verschaffte der politischen Rechten die Möglichkeit, Fragen der nationalen Sicherheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken und alles potenziell Linke und Radikale als Unterstützung von Guerilla und „Narkoterrorismus“ zu diskreditieren, wenn nicht offen zu kriminalisieren.
Diese Zeiten neigen sich anscheinend dem Ende zu. So spricht der kolumbianische Historiker Daniel García-Peña davon, das Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla vom November 2016 habe neue Räume geöffnet und zu einer „Rekonfiguration der politischen Landschaft“ geführt.
In der Tat hatten sich die politischen Verschiebungen, die sich 2019 Bahn brachen, bereits in den Vorjahren angedeutet. Bei den Präsidentschaftswahlen 2018 setzte sich mit Iván Duque zwar ein Vertreter des rechtskonservativen Lagers um den früheren Präsidenten Álvaro Uribe (2002 – 2010) durch, ein erklärter Gegner des Friedensabkommens. Aber der linke Kandidat Gustavo Petro erzielte einen Achtungserfolg: Das ehemalige Mitglied der M-19-Guerilla erhielt in der Stichwahl gegen Duque 2018 rund acht Millionen Stimmen oder 42 Prozent – ein für kolumbianische Verhältnisse historisches Ereignis.
Insgesamt weniger Gewalt
Folgt man dieser Deutung, dann spiegeln die politischen Verschiebungen der letzten Jahre sowie die jüngste Protestwelle einen im Kern erfolgreichen Friedensprozess. In der Tat verliefen die Demobilisierung der FARC-Guerilla und die Abgabe ihrer Waffen weitgehend nach Plan. An die Stelle der aufgelösten „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“ (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia-Ejército del Pueblo, FARC-EP) trat die politische Partei „Alternative Revolutionäre Kraft Kolumbiens“ (Fuerza Alternativa Revolucionaria de Colombia, FARC). Bei den Parlamentswahlen vom März 2018 schnitt sie mit deutlich unter einem Prozent der Stimmen zwar denkbar schlecht ab. Dank der im Friedensabkommen garantierten Mandate sitzt sie seitdem dennoch im Parlament.
Autor
Jonas Wolff
ist Vorstandsmitglied und Programmbereichsleiter am PRIF und Professor für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Transformationsforschung, Fokus Lateinamerika, an der Goethe-Universität Frankfurt (wolff@prif.org).Ein Blick auf die Gewaltindikatoren bestätigt zunächst das Bild einer Normalisierung, die bereits deutlich vor Abschluss der Friedensverhandlungen Ende 2016 einsetzte. Die Intensität des Bürgerkrieges, gemessen an der Anzahl der Operationen bewaffneter Gruppen sowie der Opfer des Gewaltkonflikts, ist seit 2013 erheblich zurückgegangen, ebenso die Zahl gewaltsamer Vertreibungen. Die allgemeine Rate der Gewaltopfer erreichte im Jahr 2017 mit 24 Tötungen pro 100.000 Einwohner das niedrigste Niveau der letzten 42 Jahre. 2018 zeigten zwar all diese Indikatoren wieder leichte Verschlechterungen, das Gewaltniveau bleibt aber für kolumbianische Verhältnisse bis heute niedrig. Für die überwiegende Mehrheit der kolumbianischen Bevölkerung, die in den großen Städten des Landes lebt, ist organisierte politische Gewalt weitgehend eine Sache der Vergangenheit.
Ehemalige Kämpfer greifen wieder zur Waffe
Andere Probleme sind hingegen sehr spürbar: die hohe soziale Ungleichheit, prekäre Arbeitsbedingungen und steigende Arbeitslosigkeit, die alltägliche Korruption bis hinauf in höchste politische Kreise sowie ein Staat, der nur in engen Grenzen willens oder in der Lage ist, öffentliche Güter und Dienstleistungen bereitzustellen. Es ist also nicht bloß Selbstbeweihräucherung, wenn der frühere Präsident und Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos, Uribes Nachfolger, die jüngsten Proteste darauf zurückführt, „dass die Leute sich viel freier fühlen als zuvor“. Allerdings ist der relative Zuwachs an Freiheit eben nur eine Seite der Medaille.
Es greift auch zu kurz, die jüngsten Proteste in Kolumbien allein als Ausdruck des Friedensprozesses zu sehen – schon weil man diesen keinesfalls schlicht als erfolgreich bezeichnen kann. Die Umsetzung verläuft gerade in jenen Bereichen äußerst schleppend, in denen es um die strukturellen Ursachen des Konflikts geht, etwa um das Versprechen einer umfassenden Landreform. Die spektakuläre Wiederbewaffnung einer prominenten Gruppe ehemaliger FARC-Kommandanten um Iván Márquez im August vergangenen Jahres zeigt, dass das Abkommen selbst in seinem Kern, der Demobilisierung und Umwandlung der Guerilla in eine politische Partei, auf ernste Schwierigkeiten trifft.
Vor allem aber hat sich die Sicherheitslage in den vergangenen Jahren keineswegs flächendeckend verbessert; mitunter gilt das Gegenteil. So ist die Zahl der Morde an sozialen Aktivistinnen und Aktivisten seit dem Jahr 2016 angestiegen. Betroffen sind besonders ländliche Regionen, und zwar vor allem diejenigen, die historisch vom Gewaltkonflikt betroffen waren. Nach dem Rückzug der FARC aus den Gebieten, die sie früher teils weitgehend unter Kontrolle hatten, kämpfen hier verbleibende Guerillagruppen wie die Nationale Befreiungsarmee (Ejército de Liberación Nacional, ELN), kriminelle oder neue paramilitärische Organisationen, diverse FARC-Dissidentengruppen sowie der Staat um territoriale Kontrolle.
Es geht um Drogen und Bergbau
Im Zentrum stehen dabei Gebiete und Korridore, die für Kokaanbau, Drogenproduktion und Drogenhandel sowie für den legalen oder illegalen Bergbau strategische Bedeutung besitzen. In diesen Regionen – wie etwa in Tumaco, das im Westen an den Pazifik und im Süden an Ecuador grenzt und eines der Zentren der Drogenökonomie Kolumbiens bildet – sind die Tötungsraten seit 2016 mitunter steil in die Höhe geschossen.
Im Vorfeld der Wahlen vom Oktober 2019 wurden landesweit zudem sieben Kandidatinnen und Kandidaten ermordet – mehr als bei den vorherigen Regionalwahlen, die im Jahr 2015, also vor Abschluss der Friedensverhandlungen mit den FARC stattfanden. Auch die demobilisierten Kämpferinnen und Kämpfer der FARC-EP sind betroffen: Allein im Laufe des Jahres 2019 wurden nach UN-Angaben 77 ehemalige Guerrilleros und Guerrilleras umgebracht. Auch das ist ein trauriger Rekord für die Zeit seit dem Friedensabkommen.
Diese Schattenseiten des brüchigen Friedensprozesses haben auch die jüngsten Proteste geprägt. Das zeigt schon ein Blick auf die Beteiligten und ihre Forderungen. Neben Gewerkschaften und Studentenverbänden nahmen auch Organisationen der indigenen Bewegung Kolumbiens an den Demonstrationen teil, so der regionale Indigenenverband der Provinz Cauca. Dies ist eine der Regionen, in denen der Friedensprozess mit sich zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen Bewaffneten und mit steigenden Tötungsraten einhergegangen ist. Vom Anstieg der Gewalt ist gerade die indigene Bevölkerung betroffen. „Sie töten uns, und das zeigt den Zyklus der Gewalt, auf den die Regierung keine Antwort hat geben können oder wollen“, zitiert die Tageszeitung El Espectador einen Indigenenvertreter aus dem Norden von Cauca.
Protest gegen umstrittene Polizeieinheit
Auch die Repression seitens der staatlichen Sicherheitskräfte verweist auf Kontinuitäten im Umgang mit Protest und Widerstand. Dies gilt namentlich für die berüchtigte ESMAD, eine Spezialeinheit der Polizei für die Aufstandsbekämpfung, aus deren Reihen am 23. November 2019 der junge, unbewaffnete Demonstrant Dilan Cruz erschossen wurde. Und unter den 13 Forderungen, mit denen die Sprecherinnen und Sprecher des Streikkomitees Ende November in Verhandlungen mit der Regierung Duque eintraten, findet sich auch die nach einer Auflösung der ESMAD. Von Beginn an forderte das Protestbündnis unter anderem, das Friedensabkommen umzusetzen und entschieden gegen die fortbestehende Gewalt vorzugehen.
In den jüngsten Protesten spiegelt sich also eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Auf nationaler Ebene bewegt sich Kolumbien seit Jahren weg vom Krieg; insbesondere in den Großstädten ist die gesellschaftliche Realität zunehmend von anderen Themen und Problemen bestimmt. Gleichzeitig prägt anhaltende Gewalt, die sich mitunter gar zuspitzt, den Alltag in einer Reihe vor allem ländlicher Regionen des Landes.
Spannungen und Konflikte innerhalb der Bewegung
Das Bemerkenswerte an der gegenwärtigen Welle der Mobilisierung ist, dass sie diese unterschiedlichen Problemlagen zusammenbringt. Den gemeinsamen Nenner bildet die Kritik an einer Regierung, die die Umsetzung des Friedensabkommens verschleppt, wenn nicht offen unterminiert; die der gezielten Gewalt gegen soziale Aktivisten und Aktivistinnen nicht entschieden begegnet; die in der Wirtschafts- und Sozialpolitik auf neoliberale Rezepte setzt; und die mit Blick auf die Naturschätze des Landes eine Strategie der maximalen Ausbeutung verfolgt.
Präsident Duque hat als Reaktion auf die Massenproteste ein „Nationales Gespräch“ initiiert, um Bedenken und Vorschläge der Bevölkerung aufzunehmen. Dieser Dialog dauert an. Es ist allerdings bisher nicht zu erkennen, dass die Regierung bereit sein könnte, die Grundlinien ihrer Politik ernsthaft zur Diskussion zu stellen. Umgekehrt steht derzeit ebenso in den Sternen, ob es dem heterogenen Protestbündnis gelingt, die Mobilisierung in der Bevölkerung auf einigermaßen hohem Niveau zu halten und damit die Regierung fortgesetzt unter Druck zu setzen. Seit Dezember ist die Protestfront jedenfalls von wachsenden Spannungen und Spaltungen gekennzeichnet.
Doch auch wenn sich der Protestzyklus seinem Ende nähern sollte – was keinesfalls ausgemacht ist –, ist eine nachhaltige Stabilisierung der politischen Lage nicht zu erwarten. Bis zu den nächsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die planmäßig erst in zwei Jahren anstehen, kann noch viel passieren.
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