Die Flüchtlinge helfen beim Wiederaufbau

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Religionsführer im Libanon
Picture Alliance, Bilal Hussein
Im September liegen viele Viertel Beiruts in Trümmern. Die Einwohner nehmen den Wiederaufbau selbst in die Hand, allen voran syrische Flüchtlinge.
Libanon
Im August hat eine riesige Explosion große Teile der libanesischen Hauptstadt Beirut zerstört. Seitdem ist die Regierung abgetaucht und internationale Geber neigen zur Vorsicht. Doch die Syrer im Land packen an.

Fenster für Fenster bauen syrische Arbeiter nach der schweren Explosion im Hafen von Beirut die betroffenen Gegenden der libanesischen Hauptstadt wieder auf. Oft werfen Politiker den Syrern vor, sie würden die öffentliche Infrastruktur belasten, den Einheimischen Jobs wegnehmen und von Hilfsgeldern leben, die für Libanesen bestimmt sind.

Doch in dieser Zeit der großen Not sind syrische Flüchtlinge für das Land da. Sie bauen Fenster, reparieren Türen, streichen Häuser und ersetzen das Glas in Wohnhochhäusern – von denen einige jenen Libanesen gehören, die lange darauf gedrängt haben, dass die Flüchtlinge das Land verlassen.

Für ihre harte körperliche Arbeit erhalten sie einen Hungerlohn, der aufgrund des Wertverlusts des libanesischen Pfunds um knapp 80 Prozent innerhalb eines Jahres zusätzlich an Wert verliert. Doch was viele von ihnen noch mehr stört, ist der nach wie vor herrschende Mangel an Respekt. Kaum einer der Flüchtlinge glaubt, dass ihr Beitrag zum Wiederaufbau von Beirut in Erinnerung bleiben wird.

Fast vier Monate, nachdem Tausende von Tonnen unsicher gelagertes Ammoniumnitrat in Beiruts Hafen explodierten und viele der bei Einheimischen und Touristen beliebten Stadtteile beschädigten, liegt ein großer Teil der Stadt noch immer in Trümmern. Die internationale Gemeinschaft hat bislang nur in geringem Maße Nothilfe geleistet, auch was grundlegende Hilfe im Bereich Wohnen angeht.

Die Bemühungen sind gut gemeint, reichen aber nicht aus

Lisa Abou Khaled ist Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR im Libanon, das die humanitäre Hilfe verschiedener internationaler und libanesischer Partner koordiniert. „Die Reparaturarbeiten an Unterkünften sind unser letzter Schritt“, erklärt sie. Das UNHCR wisse um die Auswirkungen der schweren Explosion auf Unternehmen und der Probleme, denen Geschäftsinhaber jetzt gegenüberstehen. „Vor allem jetzt zu Beginn des Winters wollen wir aber gewährleisten, dass die Menschen sichere und geschützte Lebensbedingungen haben“, sagt sie. Die Organisation hat 6.500 wetterfeste Notunterkünfte geliefert und mehr als 1000 Familien, also etwa 4000 Menschen, mit Bargeld in Höhe von 600 US-Dollar unterstützt. Zehnmal so viele Familien sollen noch Hilfe erhalten. Die US-amerikanische Regierung hat Hilfe in Form von Medikamenten und Lebensmitteln geschickt. Deutschland unterstützt eine Suppenküche und hat eine Million Euro für einen Bauernmarkt versprochen. Ein Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) erklärt: „Der Wiederaufbau des Marktes sichert den Lebensunterhalt von etwa 100 Kleinbauern.“

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron trifft Ende August Saad Hariri, der heute erneut Ministerpräsident des Libanons ist – und kaum Hoffnung auf 

Die Bemühungen sind zahlreich und gut gemeint. Sie reichen allerdings nicht aus, um Beirut wiederaufzubauen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen waren 73.000 Wohnungen in 9100 Gebäuden direkt von der Explosion betroffen. Insgesamt lebten etwa 219.000 Menschen in den beschädigten Gebäuden. Keiner von ihnen hat Hilfe von der libanesischen Regierung erhalten, und die meisten warten noch auf Unterstützung der internationalen Hilfsagenturen, um ihre Wohnungen und Geschäfte wiederaufzubauen.

Autorin

Anchal Vohra

arbeitet in Beirut als freie Korrespondentin für die Sender „Voice of America“ und „Al Jazeera English“ und ist Kolumnistin von „Foreign Policy“. Dort ist ihr Artikel zuerst erschienen.
Einer hochrangigen diplomatischen Quelle zufolge sucht die internationale Gemeinschaft, angeführt von Frankreich, derzeit nach potenziellen Partnern, mit denen sich die größten Wiederaufbauprojekte koordinieren lassen. In den meisten anderen Ländern fließen Hilfsgelder über die Regierung ins Land, da sie die wichtigste Verwaltungseinheit und ihren Bürgern gegenüber verantwortlich ist. Doch im Libanon haben die Menschen das Vertrauen in die politische Elite verloren. Sie wollen nicht, dass Hilfsgelder oder Investitionen durch die Regierung geschleust werden.

„Um die nächste Phase des Wiederaufbaus zu finanzieren, braucht es eine lokale Körperschaft, die von jemandem mit Amtsgewalt genehmigt werden muss. Ich fürchte, das wird die aktuelle Regierung sein“, erklärt der Diplomat. „Wir können uns nicht vorstellen, wer es sonst sein könnte, obwohl die Weltbank an möglichen alternativen Mechanismen arbeitet.“ Auf jeden Fall wolle die internationale Gemeinschaft, dass politische Aktivisten aus der Zivilgesellschaft Teil dieser neuen Körperschaft sind.

Die politische Elite streitet derweil über Ministerien

Erschwerend kommt hinzu, dass die Finanzierung der nächsten Phase des Wiederaufbaus auf komplizierte Weise mit dem Beginn der Reformen verbunden ist, die die Regierung liefern soll. Der Ende 2019 unter dem Druck von Protesten zurückgetretene und nun im Oktober zurückgekehrte Ministerpräsident Saad Hariri hat Reformen versprochen. Bis jetzt hat er aber noch nicht einmal sein Kabinett vorgestellt, und die Öffentlichkeit wartet auf weitere Details.

Während sich die politische Elite über Ministerien streitet und die internationale Gemeinschaft über die richtige Form von Hilfe ringt, sind syrische Arbeiter auf den Straßen von Beirut zu sehen. Sie haben sich für die Wohnungs- und Geschäftsbesitzer, die langsam begonnen haben, ihr beschädigtes Eigentum selbst zu reparieren, als verlässlicher erwiesen.

Auch Syrerinnen und Syrer sind bei der Kata­strophe ums Leben gekommen und haben verzweifelte Familien zurückgelassen. Mindestens 40 von ihnen wurden bei der Explosion getötet, Hunderte verletzt, und acht befinden sich noch immer im Krankenhaus. Ayman al-Homsi, ein Lieferbote für ein Restaurant, wurde von einer riesigen Glasscherbe getötet. Sie zerfetzte ihn, als er gerade auf der Gemmayze-Straße fuhr. Sein Onkel Akram al-Homsi hat mit vielen chronischen Leiden zu kämpfen. Er sagt, Ayman sei der einzige Ernährer der Familie gewesen. Er versorgte Akrams fünf Kinder, seine Eltern in Syrien und seine gerade erst geheiratete Ehefrau. „Jetzt muss meine 13-jährige Tochter in einer Näherei arbeiten, um Geld für uns zu verdienen”, sagt Akram.

Die Lebensbedingungen der Syrer im Libanon haben sich verschlechtert – wie auch die ihrer Gastgeber. Da die Syrer aber schon vorher am unteren Ende der Gesellschaft angesiedelt waren, hat es sie vergleichsweise härter erwischt. Laut einer vor kurzem von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) veröffentlichten Studie waren Syrer während der Corona-Lockdowns am stärksten von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie betroffen: Mehr als die Hälfte der befragten Syrer wurde während des Lockdown entlassen. Bei den Selbstständigen war der Anteil derer, die ihre Arbeit verloren, noch höher. Wie Akram sind viele Syrer in einer Zwickmühle. Die Libanesen wollen, dass sie gehen. Das Regime von Syriens Präsident Baschar al-Assad hingegen versucht sie von einer Rückkehr abzuhalten, indem sie teurer gemacht wird: „Jede Person muss einen Covid-19-Test bezahlen, dazu kommen 100 Dollar Einreisegebühren nach Syrien und die Kosten für den Transport“, sagt Akram. „Wir sind sechs Personen. Es wird mich ein Vermögen kosten zurückzukehren.“

Aktivisten befürchten, dass die bereits vor der Explosion mageren Einkommen der 200.000 Syrer in Beirut noch einmal deutlich gesunken sind. Schließlich hat die Katastrophe ein klaffendes Loch in die Geldbeutel der Libanesen gerissen. Dem UNHCR zufolge ist der Anteil der Flüchtlinge, die in extremer Armut leben, in den vergangenen Monaten von 55 Prozent auf 80 Prozent in die Höhe geschossen.

Sein Zuhause erneut verloren

Abdul Latif hat in Geitawi, einer Gegend in Ost-Beirut, beschädigte Häuser gestrichen. Hier hat die Explosion die meisten Verwüstungen angerichtet. Sein Zuhause in der syrischen Stadt Deir ez-Zor wurde beim Beschuss durch das Assad-Regime zerstört. Er dachte, er hätte im Libanon Sicherheit gefunden. Doch dann zertrümmerte die Explosion die Türen und Fenster seiner Mietwohnung im Viertel Karantina, das nahe dem Hafen liegt. Für Latif war es, als würde er sein Zuhause erneut verlieren. Er verdiente 45.000 libanesische Pfund am Tag, was vor der Wirtschaftskrise im Libanon rund 30 US-Dollar entsprach. Jetzt sind es nur noch fünf bis sechs Dollar. Er verdiene nicht genug, um sein Zuhause in Syrien wiederaufzubauen, sagt Latif. Aber das Streichen der Wohnungen seiner Gastgeber verschaffe ihm ein wenig Trost. „In so einer Zeit geht es nicht da­rum, was uns die Libanesen zahlen“, meint er. „Aber es wäre schön, wenn unser libanesischer Vermieter sein Haus reparieren würde, in dem wir leben.“

Seit Beginn des Bürgerkrieges in ­Syrien sind 1,5 Millionen Menschen in den Libanon geflohen. Ihre Lebensumstände sind hart, wie in diesem Lager im Januar 2019. 

Einige Libanesen halten die harte Arbeit der Syrer für selbstverständlich. Syrer seien im Libanon schon immer Bauarbeiter gewesen und hätten davon profitiert, sagt der Betreiber eines Pubs, der dank Onlinespenden und durch die Arbeit von Syrern wiederaufgebaut wurde; er zählt zu den wenigen wiedereröffneten Kneipen in der Stadt. „Die Syrer werden dafür bezahlt. Darum machen sie es.“

Nasser Yassin glaubt nicht, dass sich die Wahrnehmung von Flüchtlingen in der Öffentlichkeit ändert – obwohl sie zur libanesischen Volkswirtschaft beigetragen hätten und bereit seien, ihre Fähigkeiten einzubringen, wenn man sie nur lasse. „Die gegen Flüchtlinge gerichteten Narrative wurden im Laufe der Zeit von populistischen Politikern aufgebaut“, sagt der Professor an der American University of Beirut. „Diese Politiker werden nicht damit aufhören, die Antiflüchtlingskarte zu spielen, auch wenn die Flüchtlinge ihre zerstörten Wohnungen wiederaufbauen.“

Die Ansichten des Pub-Betreibers sind nichts Ungewöhnliches. Sie sind in Beirut üblich, hier ist Diskriminierung Alltag für die Syrer. Dabei sind die verborgenen Wurzeln dieser Feindseligkeit politischer Natur. Das Schicksal des Libanons war immer untrennbar mit seinem Nachbarland verflochten. Aber die Machenschaften der syrischen Regierungen, um die Kontrolle über den Libanon zu erlangen, haben viele Libanesen aufgebracht. Erinnert sei hier an die Intervention syrischer Truppen in den 1970er Jahren oder die Einflussnahme durch die Hisbollah. Infolge des seit dem Jahr 2011 andauernden Bürgerkrieges in Syrien flohen 1,5 Millionen Syrer in den Libanon. Diese Fluchtbewegung hat die Beziehungen zusätzlich belastet. Der Pub-Betreiber erklärt: „Wir sind gegen das syrische Regime. Denn es arbeitet mit Kräften innerhalb des Libanons zusammen, die unser Land ruiniert haben.“

Doch es gibt Hoffnung, dass die Nachbarn durch die Explosion ein neues Verständnis füreinander entwickeln. Nur wenige Minuten vor dem Unglück hat der Maurer Mohammad Ahmad eine Säule in einem Art-Deco-Haus in der Nähe des Hafens restauriert. Er entkam lebend, doch die Explosion löste bei ihm gespenstische Erinnerungen aus. „Es war, als wäre ich zurück in Syrien“, sagt er. „Beirut ähnelte einer bombardierten syrischen Stadt. Ich weiß, wie es sich anfühlt, seine Umgebung zu verlieren.“

Aus dem Englischen von Bernd Stößel.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2020: Auf die Heißzeit vorbereiten
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