Solidarität ja, Revolution nein

Religionsführer im Libanon
Im Libanon sind sich die Führungen von Sunniten, Schiiten, Drusen und Christen einig. Sie stellen sich hinter die Protestbewegung und fordern ein Ende der Korruption. Dass die politische Macht entlang religiöser Grenzen aufgeteilt wird, stellen sie aber nicht infrage.

Dass sich Kirchenführer im Libanon zu einem gemeinsamen Statement durchringen, kommt nicht oft vor. Nach Beginn der Demonstrationen am 17. Oktober aber dauerte es gerade eine Woche, bis die katholischen, orthodoxen und evangelischen Oberhäupter sowie die Äbte und Äbtissinnen verschiedener Ordensgemeinschaften mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit gingen. Darin stellten sie sich in ungewohnter Einmütigkeit hinter die Forderungen der Demonstranten nach Demokratie,

Rechtsstaatlichkeit und einem Ende der Korruption. Mit deutlichen Worten werfen sie den Politikern Gier und Klientelwirtschaft vor und fordern „tiefgehende Reformen, Veränderungen im Kabinett und eine Erneuerung der Verwaltung“. Doch eine Forderung der Demonstranten haben die Kirchenführer ausgeklammert: das Ende des sogenannten konfessionellen Systems.

Im Libanon gibt es 18 offiziell anerkannte Religionen und Konfessionen. Seit der Gründung des Staates im Jahr 1943 ist die politische Macht entlang von Religionsgrenzen aufgeteilt. Anfangs teilten Christen und Muslime die Posten jeweils zur Hälfte unter sich auf. Seit dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1990 gilt die im Friedensabkommen von Taif festgehaltene Regel, dass der Präsident ein maronitischer Christ sein muss, der Premierminister ein sunnitischer Muslim und der Parlamentssprecher ein Schiit. Auch Minister- und Verwaltungsposten werden nach diesem Schlüssel vergeben.

So bemüht die Kirchenführer auch sind, sich auf die Seite des Volkes zu stellen: Jeder im Libanon weiß, dass sie und die Führer der muslimischen Religionsgemeinschaften Teil des konfessionellen Systems sind, in dem bei der Postenvergabe oft nicht Kompetenz oder Expertise ausschlaggebend sind, sondern die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession.

Derweil spitzt sich die wirtschaftliche Lage für die sechs Millionen Libanesen dramatisch zu. Das Land hat keine Devisen mehr und kann keine Lebensmittel mehr aus dem Ausland importieren. Entsprechend haben sich die Preise für Lebensmittel und Benzin vervielfacht; Lehrer an staatlichen Schulen bekommen nur noch die Hälfte ihres Gehalts, Anfang Dezember mussten mehr als hundert Einrichtungen für Menschen mit Behinderung schließen, weil sie kein Geld mehr hatten, um das Personal zu bezahlen. Viele dieser Einrichtungen sind kirchlich geführt. „Wir fühlen uns alle einfach ausgebrannt“, sagt eine evangelische Pfarrerin in Beirut, die nicht namentlich genannt werden will. Die Korruption habe schon seit Jahren das ganze Land im Griff. „Wir haben in den Gemeinden und in unseren Einrichtungen irgendwie immer versucht, trotz allem die Dinge am Laufen zu halten.“ Die aktuelle Situation sei „wie ein schrecklicher Sturm, bei dem wir nicht wissen, wann und wie er ausgehen wird“.

Auch Mohammed Abu Zaid ist pessimistisch. Der sunnitische Theologe ist Imam an einer Moschee in Saida. „Selbst wenn die ganze Politikerriege nun ausgewechselt wird, wird das nicht reichen“, sagt er. „Minister kommen und gehen. Aber in den unteren Ebenen in den Ministerien und Behörden sitzen Leute, die ihren Posten nur über Beziehungen bekommen haben.“ Sie blieben oft über viele Jahre und machten die eigentliche Politik. „Sie wissen, wo die Lücken in den Gesetzen sind, um staatliche Gelder in private Hände umzuleiten.“ Er gehe davon aus, dass es mehrere Jahrzehnte brauche, das System wirklich zu verändern. Um das zu verdeutlichen, greift er auf ein Beispiel aus der Bibel zurück, die Flucht des Volkes Israel aus Ägypten: „Sie mussten erst 40 Jahre in der Wüste verbringen, bevor sie in das gelobte Land ziehen konnten. Diese Zeit hat es gebraucht, damit eine neue Generation heranwachsen kann, die nicht mehr die Mentalität von Sklaven hat.“

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erschienen in Ausgabe 2 / 2020: Meinungs- und Pressefreiheit
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