„Die Schweiz hat Freiräume in den Kolonien wirtschaftlich genutzt“

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Die Schweiz hatte nie Kolonien und hat doch eine koloniale Vergangenheit. Denn Unternehmen, Handelshäuser, Söldner und Missionare aus der Eidgenossenschaft waren für die Schweiz oder in den Imperien anderer Kolonialmächte tätig. Wie das Land sich am Kolonialismus beteiligt hat und wo das noch nachwirkt. Gespräch mit dem Historiker Andreas Zangger.

Die Schweiz hat nie Kolonien erobert. Warum eigentlich? Hängt das mit ihrer besonderen dezentralen Staatsform zusammen? 
Genau. Die Schweiz war am Anfang ein schwacher Staat und ein föderaler, in dem das Zentrum gegenüber den Kantonen wenig Macht hatte. Der Staat sollte vor allem nach innen funktionieren und nicht gegen außen. Deshalb war auch keine Rolle als Kolonialmacht vorgesehen. Aber als Gesellschaft hat sich die Schweiz am Kolonialismus beteiligt. Der war ja eigentlich ein europäisches Projekt. Auch wenn verschiedene Nationalstaaten ihre Imperien bildeten, hatte Kolonialismus auf einigen Gebieten gesamteuropäische Züge. Zum Beispiel hat die Gelehrtengesellschaft sich über die Welt in Übersee ausgetauscht, und daran waren Schweizer stark beteiligt. Auch wirtschaftlich hat die Schweiz sehr geschickt Freiräume genutzt, die sich in den Kolonien anderer Länder geboten haben.

Wie waren Schweizer an der Eroberung und Ausbeutung von Kolonien beteiligt?
In der ersten Phase zum Beispiel als Söldner. Die Schweiz war seit dem späten Mittelalter bekannt als Exporteur von Männern für europäische Heere. Diese Männer stammten aus armen, ländlichen Schichten. So finden wir auch in den Armeen der großen europäischen Kolonialreiche eine beträchtliche Anzahl von Schweizer Söldnern – zum Beispiel in Niederländisch-Ostindien, dem späteren Indonesien. In den rund 200 Jahren ihres Bestehens hatte die niederländische Ostindien-Kompanie, die man als ersten multinationalen Konzern betrachten kann, rund eine Million Angestellte, zumeist Matrosen oder eben Soldaten, und darunter waren ein paar Tausend Schweizer. Als dann 1798 der niederländische Staat die Kolonie übernommen hatte, fanden weitere Schweizer ihren Weg in die Kolonialarmee; im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts waren es bis rund 8000. 

Andreas Zangger ist freischaffender Historiker in ­Amsterdam. Er ist im Aargau und in Zürich aufgewachsen und hat vor allem zu Schweizern im kolonialen Südostasien geforscht.

War die Rekrutierung da nicht in der Schweiz schon verboten?
Aber sie war geduldet. Eine berühmte Figur war Hauptmann Hans Christoffel, der Mann fürs Grobe in Niederländisch-Ostindien Anfang des 20. Jahrhunderts. Er wurde überall hingeschickt, wo es Aufstände gab, um den Widerstand zu brechen, und das machte er brutal und skrupellos. 

Haben Schweizer bei der christlichen Mission in den Kolonien eine große Rolle gespielt? 
Ja. Die Basler Mission, eine Kooperation zwischen der Schweiz und Baden-Württemberg, war eine der großen Missionsgesellschaften, hauptsächlich in Indien und in Ghana. Und sie hat schnell gemerkt, dass sie auch im Handel tätig werden musste. Das ursprüngliche Motiv dafür war, den Bekehrten in Indien auch ein Auskommen zu geben. Dazu wurden Manufakturen eingerichtet und für den Absatz die Missions-Handelsgesellschaft gegründet. Die wurde dann in Ghana zu einem großen Beteiligten am Kakaohandel. So kam der Kakao in die Schweiz, der Ursprung der Schweizer Schokolade. 

Waren Schweizer Unternehmen am Sklavenhandel beteiligt? 
Ja. Es gab Handelsfirmen, die sich direkt an diesem Handel mit Menschen beteiligten, insbesondere in Basel, Neuenburg und Genf. Es gab Schweizer, die Sklavenplantagen besaßen, besonders in den niederländischen Kolonien, aber auch in Brasilien und den USA. Und es gab Städte, die in Sklavenhandel investierten, besonders die Stadt Bern und in geringerem Umfang Zürich. Bern war der größte einzelne Investor der South Sea Company in London, die Sklavenhandel und Handel mit in Sklavenplantagen erzeugten Produkten betrieb, und hat große Gewinne aus dieser Anlage gezogen. Der Schweizer Anteil am Sklavenhandel wird insgesamt auf 1,5 bis 3 Prozent der verschleppten Menschen geschätzt. 

Welche Rolle haben Handelshäuser und Investoren aus der Schweiz in anderen Bereichen der Kolonialwirtschaft gespielt? 
Die Schweiz gehört zu den früh industrialisierten Ländern in Europa, schon Anfang des 19. Jahrhunderts hat sich eine Textilindustrie entwickelt. Das Besondere daran ist, dass sie sich auf Exporte nach Übersee stützte, denn die Märkte in Europa waren weitgehend geschlossen. Das Geschäftsmodell war, überall auf der Welt Textilien zu sammeln, die Muster zu kopieren, industriell herzustellen und wieder in die Region zu exportieren. Das begann mit Süditalien kurz nach den napoleonischen Kriegen, dann kamen Exporte nach Nord- und Südamerika hinzu und in den 1830er Jahren Ausfuhren in die Levante, nach Indien und Südostasien sowie West- und Ostafrika. Um die Exporte auf den Markt zu bringen, gab es ein Netzwerk von Niederlassungen und Kooperationen, etwa mit Deutschen. 

Das klingt ähnlich wie das normale Geschäft transnationaler Unternehmen heute. Inwiefern hatte das mit Kolonialismus zu tun? 
Schweizer Handelshäuser haben sich damals nur da niedergelassen, wo sie von einer Kolonialmacht geschützt wurden. Entscheidend war Schutz durch ein westliches Rechtssystem – nicht nur in direkt kolonisierten Gebieten: Anderswo, etwa in Thailand, Marokko, im Osmanischen Reich und in Persien, gab es eine spezielle konsulare Gerichtsbarkeit für niedergelassene Europäer, sie unterstanden nicht den dortigen Gerichten. 

Inwiefern hat die Beteiligung an kolonialen Geschäften die Wirtschaft der Schweiz vorangebracht? 
Der Rohstoffhandel hat einigen Reichtum in die Schweiz gebracht. Viele der größten Rohstoffhändler weltweit sitzen dort – manche erst seit kurzem und zum Teil, um Steuern zu sparen, aber eben nicht alle. Einige Firmen, die mit Textilexporten begonnen haben, sind auf Rohstoffhandel umgestiegen, darunter die Basler Missions-Handelsgesellschaft mit Kakao und die Firma Volkart in Winterthur, die im 20. Jahrhundert der größte Baumwollhändler der Welt war; die Firma gibt es heute nicht mehr. Um diese Rohstoffhandelsfirmen herum sind Finanzdienstleister entstanden, die heute noch eine wichtige Rolle spielen: Ihr Knowhow ist mit ein Grund, dass so viele Rohstoffgesellschaften in der Schweiz ansässig sind. Viele Schweizer Banken allerdings sind mit Vermögensverwaltung groß geworden, das hat mit dem Kolonialismus nicht viel zu tun.

Hat die Beteiligung am Kolonialismus Auswirkungen auf das Bild von Fremden und anderen Völkern gehabt? 
Da ist die Haltung in der Schweiz paradox: Sie ist eines der am stärksten globalisierten Länder der Welt und gleichzeitig ist dort das koloniale Gegenüber viel weniger fassbar als etwa in den Niederlanden, wo große Gruppen von Zugewanderten aus den früheren Kolonien Ostindien und Surinam leben. Die Schweizer Beteiligung am Kolonialismus war verteilt über die ganze Welt, in fast allen Kolonien fand man ein paar wenige Schweizer. Einige Kaufleute oder auch Söldner haben Kinder von Müttern in Kolonien mit nach Hause gebracht. Die Schweizer Bevölkerung ist heute sehr gemischt, der Anteil der Zugewanderten ist insgesamt höher als in den Niederlanden – aber die kolonialen Wurzeln sind viel weniger augenfällig. 

Gibt es öffentliche Auseinandersetzungen mit der Beteiligung am Kolonialismus und ihren Folgen? 
Seit diesem Jahr sicher. Früher war mein Forschungsthema wenig bearbeitet, und in meiner Schulzeit habe ich kaum je etwas über Kolonialismus gehört. Aber jetzt ist das Interesse stark gestiegen. Das kann man auch bei Veranstaltungen und in den Medien sehen.

Warum gerade jetzt? 
Das ist sicher mitunter eine Reaktion auf die BlackLivesMatter-Bewegung, die in den USA entstanden ist. Die hat auch in der Schweiz die Frage nach ihrem kolonialen Erbe auf den Tisch gebracht.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

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Sein buch: schwarz weiss schweiz
Ist empfehlenswert.!!,

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erschienen in Ausgabe 11 / 2020: Erbe des Kolonialismus
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