Die Nachfahren der Sklavenhalter sollen zahlen

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Rückgabe afrikanischer Kultgegenstände
Deutsche Kolonialgeschichte
Andrés Vanegas Canosa
Etwa 800 Einwohner zählt das kolumbianische Dorf Noanamá. Die meisten sind Nachfahren von aus Afrika verschleppten Sklaven.
Kolumbien
In Kolumbien stammen die Ärmsten im Land oft aus Familien afrikanischer Sklaven. Jetzt fordern sie Entschädigung für 
die Jahrhunderte der Unterdrückung.

Noanamá liegt einsam im Dschungel, mitten im Bürgerkriegsgebiet. Der Río San Juan ist die einzige Verbindung zur Außenwelt. Wer in dieses Dorf will, muss den Weg über den Fluss nehmen. Man steigt in Istmina ins Boot, einem schmutzigen, lauten Provinzstädtchen im kolumbianischen Departement Chocó. Wie die Umgebung wird es von rechten Paramilitärs der „Autodefensas Gaitanistas de Colombia“ (AGC) kontrolliert. Sie machen dort Jagd auf Menschen, die versuchen, die Armenviertel zu organisieren. Nach gut einer Stunde auf dem fast 100 Meter breiten braunen Fluss kommt eine unsichtbare Grenze. Dort stößt das Gebiet der AGC auf das des Nationalen Befreiungsheers (ELN), der mit gut 2000 Kämpfern größten noch immer aktiven Guerilla des Landes. Von dieser Grenze aus sind es noch fast zwei Stunden Bootsfahrt, dann liegt Noanamá am linken Ufer. Das Dorf ist im Herzen der ELN-Zone. Erst weiter unten am Flusslauf, in der Nähe der Mündung, herrschen wieder die Gaitanistas.

Rund 800 Menschen leben in Noanamá. Die meisten Holzhütten stehen wegen des vielen Regens auf hohen Stelzen, Häuser aus Stein sind selten. Zwei oder drei Familien des indigenen Volks der Emberá-Wounaan leben hier, alle anderen sind Afrokolumbianer. Ihre Vorfahren waren aus Afrika verschleppte Sklaven, die in den Goldminen des Chocó gequält wurden. „Der Reichtum von Las Indias besteht aus Gold und Silber, Perlen und Smaragden“, schrieb Pedro Zapata, der Gouverneur von Cartagena, im Jahr 1648 über das damals „Las Indias“ genannte Kolumbien an den spanischen König. „Es kostet viel Arbeit, diese Produkte aus der Erde zu holen, und es wäre unmöglich, sie zu besitzen, wenn nicht die göttliche Voraussicht die Neger geschaffen hätte. Alle anderen sterben bei dieser Arbeit.“ Aber auch viele Schwarze starben.

Die Vorfahren der Einwohner von Noanamá haben überlebt. Sie waren geflohen und hatten sich in diesem unwirtlichen Gebiet versteckt. Der Dschungel rund um das Dorf gehört zu den regenreichsten Gegenden der Welt. Die Tropenkrankheiten Malaria, Chikungunya und Zika brechen hier immer wieder aus. Wenn man Pech hat und unachtsam ist, kann man mitten im Dorf auf eine Korallenotter treten, deren Biss, wenn er nicht sofort behandelt wird, tödlich sein kann. Viele gehen barfuß in Noanamá und es gibt keine Krankenstation; nur eine alte Nonne, die sich mit Heilkräutern auskennt. Wenn man sich nach einem Biss gleich von ihr behandeln lasse, erzählen Dorfbewohner, sei man nach vier fiebrigen Tagen wieder in Ordnung.

Das Dorf liegt in einer der regenreichsten ­Gegenden der Welt, immer wieder bricht ­Malaria aus.

Die Menschen in Noanamá sind arm. Sie leben von Subsistenzwirtschaft, bauen Reis, Maniok, Mais und Bananen an und treiben ein bisschen Jagd und Fischerei. Bei niedrigem Wasserstand stehen ein paar Frauen am Ufer des Río San Juan und waschen Gold. Viel finden sie nicht. Mehr als umgerechnet fünf Euro am Tag kann man damit nicht verdienen. Das viele Gold, das noch immer im Boden des Chocó liegt, ist nur für die industrielle Ausbeutung interessant. Es gibt zwar Strom- und Wasserleitungen, die vom Staat vor knapp 30 Jahren verlegt wurden. Nur floss nie Strom oder Wasser hindurch. Wo es abends mehr Licht gibt als das einer Kerze, da konnte sich jemand ein kleines Solarpanel leisten. Fürs Trinkwasser sammelt man Regen in großen Tonnen.

Granaten explodieren mitten im Dorf

Der Krieg kam vor 20 Jahren nach Noanamá. Zuerst wollten die Paramilitärs der „Autodefensas Unidas de Colombia“ (AUC), einer Vorläuferorganisation der Gaitanistas, die Dorfbevölkerung vertreiben, um Platz für Minenkonzerne zu schaffen. Es gibt unzählige – legale wie illegale – Minen im Chocó. Außer Gold werden Platin, Silber und Kupfer gefördert. Der Río San Juan ist vom dabei eingesetzten Quecksilber hochgradig verseucht, Fische sollte man nur essen, wenn sie aus noch unbelasteten Nebenflüssen stammen. Der Boden rund um Noanamá gehört nach dem Gesetz Nummer 70 aus dem Jahr 1993 den Bewohnern und wird von diesen als Gemeinbesitz verwaltet. Eben deshalb sollte das Dorf verschwinden, damit Bergbauunternehmen kommen könnten.

Bevor es so weit war, wurden die Paramilitärs von den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (Farc) vertrieben, der damals stärksten Guerilla des Landes. Später kam noch das ELN dazu. Dessen Guerilleros sind seit dem Friedensvertrag zwischen Farc und der Regierung Ende 2016 die Einzigen, die die Paramilitärs auf Distanz halten. Trotzdem kommt es immer wieder zu Gefechten zwischen Gaitanistas und ELN und auch zwischen dem ELN und der kolumbianischen Armee, die hin und wieder in dieses Gebiet einfällt. Dann explodieren Granaten auch mitten im Dorf, zwischen den Häusern wird geschossen. Immer wieder fliehen die Bewohner in den Dschungel, immer wieder gibt es Tote im Kreuzfeuer.

Die Afrokolumbianer in Noanamá sind arm. Manche leben von der ­Fischerei.

Afrokolumbianische Gemeinden wie die von Noanamá „sind historisch gesehen zwei Mal Opfer von Verbrechen geworden“, sagt Felipe Granja, einer der führenden Köpfe des „Proceso de Comunidades Negras en Colombia“ (Prozess der schwarzen Gemeinden in Kolumbien), eines Dachverbands von über 150 Afrogemeinden und Basisorganisationen. „Als Sklaven waren sie Opfer eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit und jetzt gehören sie zu den Opfern des Bürgerkriegs.“ Tausende schwarze Kolumbianer sind seit den 1970er-Jahren von der Armee, von Paramilitärs und in einigen Fällen auch von Guerillas aus ihren Dörfern vertrieben worden. Der Friedensvertrag zwischen Regierung und Farc schreibt eigentlich die Rückgabe ihres Landes vor. „Bislang aber ist noch kein einziger Quadratmeter unseres kollektiven Besitzes zurückgegeben worden“, berichtet Granja. Im Gegenteil: Drohungen, Vertreibungen und Morde gehen weiter. Seit der Unterzeichnung des Friedensvertrags sind über 400 Menschen umgebracht worden, die sich für die Rechte der Landbevölkerung eingesetzt haben. Über die Hälfte davon waren Afrokolumbianer.

Autor

Toni Keppeler

ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.
Granjas Organisation, 1991 gegründet, hat sich damals mit Demonstrationen, Straßenblockaden und Streiks für das Gesetz Nummer 70 von 1993 eingesetzt. „Dieses Gesetz ist einzigartig in Lateinamerika“, sagt er. Es garantiert den Afrogemeinden gemeinschaftliches Land, eine eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit, den Schutz ihrer Kultur und eine eigene vom Staat geförderte Entwicklung. Dazu ein Bildungssystem, das sowohl die eigenen Traditionen berücksichtigen als auch Afrokindern dieselben Chancen wie allen anderen Kolumbianern eröffnen soll. 

Die Rolle der ewigen Opfer hinter sich lassen

Aber es ist nur ein Gesetz. Bald 30 Jahre nach seiner Verabschiedung ist von Chancengleichheit nichts zu sehen. Das Durchschnittseinkommen von Afrokolumbianern liegt mit 500 bis 600 US-Dollar im Jahr bei etwa einem Drittel des nationalen Durchschnitts. Knapp drei Viertel der formell arbeitenden Schwarzen erhalten Löhne unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns von knapp 200 Euro im Monat. Die Analphabetenquote in ländlichen Afrogemeinden liegt bei 43 Prozent, in der Stadt bei 20 Prozent – gut doppelt so hoch wie beim Rest der Bevölkerung. Vier von fünf Afrokolumbianern leben in extremer Armut. Zudem ist das Departement Chocó noch immer vom Bürgerkrieg geplagt. 82 Prozent der dortigen Bevölkerung haben Vorfahren in Afrika. Landesweit sind es etwas über 20 Prozent.

Nun wollen die Schwarzen Kolumbiens die Rolle der ewigen Opfer hinter sich lassen. „Wir haben in den Minen das Gold für die Spanier aus dem Boden geholt“, betont Granja. „Wir haben die Zuckerindustrie des Landes aufgebaut, wir haben die Städte, die Straßen, die Brücken des Landes gebaut. Die gesamte Wirtschaft dieses Landes hat ihr Fundament in der Zwangsarbeit unserer Vorfahren.“ Bei der Aufhebung der Sklaverei im Jahr 1851 wurden die Sklavenhalter großzügig entschädigt, die Sklaven aber bekamen nichts. Diese Schuld müsse beglichen werden. In den Strategiepapieren seiner Organisation heißt diese Forderung „reparación histórica“. Dass die Afrogemeinden nach der Sklaverei auch Opfer des Bürgerkriegs wurden, ist für Granja Teil einer einzigen, jahrhundertelangen Geschichte des Rassismus und der Unterdrückung.

Doch wie groß ist die angehäufte Schuld und wer soll für sie bezahlen? „Wir haben ein Forschungsprojekt mit Historikern und Wirtschaftswissenschaftlern, in dem die Höhe der Schuld nach heutigen Preisen berechnet wird“, erklärt Granja. „Das ist eine sehr komplexe Aufgabe, die ihre Zeit in Anspruch nehmen wird.“ Viel einfacher sei es, diejenigen zu benennen, die diese Schuld abtragen sollen: „Es sind die großen Oligarchenfamilien Kolumbiens, deren heutiger Reichtum auf unserer Zwangsarbeit aufgebaut ist.“ Genauso denkt er an große und reiche Familien in Spanien, die aus Kolumbien ins Mutterland zurückgekehrt sind: „Wir kennen ihre Namen.“ Und schließlich müssten auch diejenigen Familien und Länder, die mit dem Sklavenhandel reich geworden sind, ihren Teil beitragen.

Obwohl Leitungen verlegt sind, gibt es kein fließendes Wasser in Noanamá. Ihre Wäsche erledigen die Bewohnerinnen im Fluss Rió San Juan.

Das mag einleuchtend sein und ist leicht zu fordern. Aber es wird sehr schwer sein, solche Forderungen durchzusetzen. Im Jahr 2004 hatte Haitis damaliger Präsident Jean Bertrand Aristide zum 200. Jahrestag der Unabhängigkeit seines Landes von Frankreich die Rückzahlung der Entschädigung gefordert, die die einstige Kolonialmacht im 19. Jahrhundert mit Kriegsdrohungen von seiner vormaligen Kolonie erpresst hatte. Nach heutiger Rechnung beläuft sich der Betrag auf rund 20 Milliarden Euro. Aristide war auf taube Ohren gestoßen. Die Gemeinschaft der karibischen Staaten (Caricom) hat dann 2014 ein „Programm für Entschädigungsgerechtigkeit in der Karibik“ verabschiedet, das für die ehemaligen Sklavenkolonien eine „umfassende, komplette und formale Entschädigung“ verlangt. Auch darauf ist bislang keine einzige ehemalige Kolonialmacht eingegangen. „Es wird ein langer Kampf werden und wir stehen erst an seinem Anfang“, sagt Granja. „Ohne internationale Unterstützung wird es nicht gehen.”

Klar ist bislang nur, wer solche Entschädigungen bekommen soll. Es könne nicht darum gehen, dass einzelne Afrokolumbianer nachweisen müssen, dass ihre direkten Vorfahren Sklaven waren und was sie als solche erlitten haben. „Ohne Sklaverei gäbe es keine Schwarzen in Kolumbien, und die rassistische Diskriminierung hält bis heute an“, so Granja. „Wir müssen als Gemeinschaft entschädigt werden.“ Das geforderte Geld – es wird sich auf mehrere Milliarden Euro summieren – soll den Afrogemeinden und ihren Organisationen zugutekommen und von diesen auch verwaltet werden. Dann endlich stünde den Afrokolumbianern der Weg zu einer selbstbestimmten Entwicklung offen, der ihnen vor 27 Jahren versprochen wurde.

Für ein Dorf wie Noanamá würde das bedeuten, dass es mit einer Straße erschlossen wird, auf der dort angebaute Produkte zu akzeptablen Preisen zum Markt gebracht werden können. Dass Strom fließt durch die Kabel und Trinkwasser durch die längst verlegten Leitungen. Dass es eine Krankenstation gibt und für die besten Schüler Stipendien für weiterführende Schulen und die Universität. Und dass trotzdem die eigene Kultur mit ihren Trommeln und Riten, die Tradition des gemeinsamen Grundbesitzes und der gegenseitigen Hilfe, die eigene Verwaltung und die eigene Gerichtsbarkeit fortbestehen. Das wäre dann ein anderes Kolumbien.

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Excelente Artikel, ich bin dankbar für diese großartige Analyse.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2020: Erbe des Kolonialismus
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