„Der Frust im Militär sitzt tief“

John Kalapo/Getty Images

Applaus für das Militär: Soldaten nach dem Putsch am 18. August in Malis Hauptstadt Bamako.

Putsch in Mali
In Mali haben Militärs die Macht ergriffen. Youssouf Coulibaly erklärt, was die Putschisten antreibt, welche Rolle die Unterstützung der EU spielt und wie die Chancen auf einen demokratischen Wandel stehen.

Offiziere der Armee haben Mitte August den Staatspräsidenten Malis, Ibrahim Boubakar Keïta, und seine Regierung zum Rücktritt gezwungen. Was sind die Gründe für diesen Staatsstreich?

Dieser Putsch war schon der dritte seit 1968. Die grundlegende Ursache ist schlechte Regierungsführung. Das Regime von Ibrahim Boubakar Keïta hat das Land in die Knie gezwungen. Der Präsident hat Freunde und Familienmitglieder auf entscheidende Posten im Staat gesetzt. Öffentliche Mittel sind abgezweigt und verschwendet worden, Misswirtschaft war verbreitet, das ganze öffentliche Leben liegt darnieder – das Schul- und Gesundheitswesen, Kultur, die Diplomatie. Das hat in der Bevölkerung und im Militär zu allgemeiner Frustration geführt. Seit zwei Monaten gibt es in Bamako Demonstrationen gegen den Präsidenten. Die Zivilgesellschaft hat keinerlei Vertrauen mehr zur politischen Klasse, so dass das Volk nun einem Imam namens Mahmoud Dicko hinterherläuft; wenn der zu Kundgebungen aufruft, folgen ihm viele. Er nutzt das aus und fordert, die Macht dem Volk zurückzugeben. Dabei ist das nicht seine Aufgabe als Geistlicher, denn Mali ist eine säkulare Republik. Diese Kundgebungen haben jetzt zu dem Staatsstreich geführt, den die Militärs aber nicht so nennen wollen: Sie sprechen lieber von einem Machtwechsel infolge Forderungen des Volkes.

Mali wird schon sehr lange schlecht regiert. Warum ergreift das Militär gerade jetzt die Macht?

Mehrere Faktoren haben im Militär zu tiefer Frustration geführt. Die Armee ist im Norden und im Zentrum Malis und auch in Nachbarländern im Kampfeinsatz gegen Terrorismus, Dschihadismus und grenzüberschreitende Kriminalität. Aber ihre Ausrüstung ist mangelhaft. Seit Keïta Präsident ist, hat Mali zwar Militärmaterial gekauft, aber ein großer Teil davon funktioniert nicht, und Geld aus dem Haushalt für militärische Beschaffung ist für anderes abgezweigt worden. Gleichzeitig werden mehr Soldaten im Kampf getötet als vor 2012 – ein Dutzend, manchmal sogar hundert am Tag. Das hat die Armeeführung zum Nachdenken gebracht. Die Offiziere, die jetzt geputscht haben, sind relativ jung und haben selbst Truppen im Kampf kommandiert. Sie wissen, wie es an der Front zugeht. Hinzu kommt, dass die Familien von gefallenen Soldaten keine vernünftige Entschädigung erhalten – zum Beispiel umgerechnet etwa 150 Euro und ein paar Säcke Reis für die Frau eines toten Familienvaters.

Ein Bericht der Vereinten Nationen von Anfang August hat einigen hohen Offizieren der malischen Armee vorgeworfen, den Friedensprozess verzögert und sabotiert zu haben, etwa die Eingliederung von Rebellen in die Armee. Gab es Spannungen im Militär? Hat der Bericht für den Putsch eine Rolle gespielt?

Ja. Der Bericht zeigt klar, dass gewisse Offiziere versucht haben, die Umsetzung des Friedensabkommens von Algiers 2015 zu blockieren. Das haben sowohl die politische Opposition als auch jüngere Offiziere im Feld aufgegriffen. Colonel Assimi Goïta, der jetzt das von den Putschisten eingesetzte Nationalkomitee für die Rettung des Volkes (CNSP) leitet, war Chef der Spezialeinheiten, die im Zentrum Malis gegen Terroristen kämpfen. Er hat die Botschaft von den UN verstanden: Geld, das der Umsetzung des Friedensabkommens dienen sollte, ist von bestimmten Offizieren abgezweigt und gezielt blockiert worden. Daher haben er und seine Mitstreiter dem ein Ende gesetzt.

Sie sagen, importiertes Militärgerät funktioniert nicht. Von wo hat Mali das importiert?

Malis wichtigster Lieferant von Militärgütern ist Frankreich. Paris hat ein Verteidigungsabkommen mit Bamako und bestimmt damit üblicherweise darüber, welches militärische Material ins Land kommt.

Heißt das, französisches Gerät hat versagt?

Ja. Flugzeuge, die Mali für Milliarden in Frankreich gekauft hat, stehen am Boden. Ein weiterer Fall sind Kampfhubschrauber, in deren Kauf eine französische Firma einbezogen war.

Mali erhält Hilfe aus Europa, um seine Armee zu stärken. Es wird geduldet, dass ein Teil dieser Hilfe abgezweigt oder verschwendet wird?

Richtig. Als ich vergangenes Jahr in Berlin im Auswärtigen Amt war, habe ich dort gesagt: Wenn Deutschland dem Staat Mali Geld gibt, kann es nichts gegen Unterschlagungen tun. Gibt man dagegen nichtstaatlichen Organisationen Geld, dann kann man einigermaßen sicher sein, dass es für soziale und wirtschaftliche Probleme eingesetzt wird. Man muss auch wissen: Für die Haltung der Europäischen Union gegenüber Mali spielt Frankreich als frühere Kolonialmacht eine Schlüsselrolle. Geld, das Europa nach Mali gibt, kann nicht verwendet werden, ohne dass Frankreich beteiligt ist.

Welche Folgen des Staatsstreichs sind absehbar?

Zum einen gibt es ein juristisches und politisches Vakuum. Mali benötigt einen neuen Präsidenten, ein neues Parlament und eine Regierung. Wie die bestimmt werden, legt die Verfassung fest, aber dieses Verfahren wollen die Militärs nicht einhalten. Alle politischen Parteien haben natürlich den Putsch verurteilt, aber einige erklären sich trotzdem bereit, den Militärs zu helfen, das Land aus der Krise zu führen. Dann wirtschaftlich: Die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS) hat wegen des Coups die Grenzen zu zunächst Mali geschlossen, was das Binnenland hart trifft. Seit kurzem hat die ECOWAS das abgeschwächt und lässt jetzt Importe grundlegender Güter wie Nahrungsmittel und Treibstoffe zu. International ist die Teilnahme Malis an den Gremien der ECOWAS und der Afrikanischen Union suspendiert. Meiner Meinung nach sollten diese Sanktionen bleiben, bis in Mali die Macht wieder an eine zivile Regierung übergeben ist.

Und an wen, wenn die Bevölkerung das Vertrauen in die gesamte politische Klasse verloren hat?

Eine echte demokratische Kultur gibt es in Afrika nicht, das heißt keine parteipolitischen Überzeugungen; man wechselt von einem Tag auf den anderen die Loyalitäten. Wenn der Wahlprozess erst in Gang ist, schaffen es die Parteien immer, das Gewissen der Wähler zu kaufen. Und die politische Klasse Malis ist ja noch da. Man muss wissen: Die Demokratiebewegung von 1991, die das Ein-Partei-Regime gestürzt und die Wahlen von 1992 herbeigeführt hat, hat dann das Land zur Geisel genommen. Seit 1992 haben dieselben Führer das Kommando – dieselben Personen besitzen die Unternehmen, kontrollieren den Finanzsektor und leiten die Behörden. Echten Wandel zu bewirken ist daher schwierig. Deswegen haben die jungen Offiziere erklärt, dass sie neue Köpfe im Staat wollen, die eine Zeitlang nicht an seiner Verwaltung beteiligt waren. Es gibt Leute, die da nicht mitgemacht haben, zum Beispiel an meiner Universität – oder Intellektuelle, die an großen Universitäten in Europa oder Amerika studiert haben.

Die Putschisten denken an eine Regierung von Experten?

An eine, die im Wesentlichen aus Technokraten besteht.

Ist eine Vermittlung der UN oder der EU sinnvoll, um Mali aus der Krise zu helfen?

Ja. Die jungen Offiziere arbeiten an dieser Option. Gestern habe ich mit einigen von ihnen diskutiert und ihnen gesagt, dass Mali ohne die EU nicht vorankommen kann. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat schon die Tür zu Verhandlungen geöffnet: Er hat den Putsch verurteilt, aber nicht verlangt, dass Keïta wieder als Präsident eingesetzt wird, sondern nur, dass die Macht an Zivilisten zurückgegeben wird. Die EU sollte sich einschalten und darüber wachen, dass die Militärs nicht an der Macht bleiben. Und was die UN angeht: Die Offiziere haben bereits gebeten, dass die UN und auch die ECOWAS und die Afrikanische Union über die UN-Mission in Mali (MINUSMA) helfen, die Friedensvereinbarung von 2015 umzusetzen.

Man sollte den gewählten Präsidenten Keïta nicht wieder einsetzen, wie die ECOWAS es sofort nach dem Putsch zunächst gefordert hat?

Nein. Das wäre nicht umsetzbar und würde die Lage noch schlimmer machen. Die Gefahr besteht, dass dann Kämpfe unter Teilen des Militärs ausbrechen. Und die Protestbewegung gegen Keïta, die zum Beispiel alle Straßen in Bamako blockiert und französische Interessen in Mali angegriffen hat, würde den Kampf wieder aufnehmen. Man sollte Keïta die sichere Aufnahme in einem anderen Land anbieten.

Die Armee Malis ist aus Europa, auch aus Deutschland, unterstützt worden mit dem Ziel, dass sie das Recht achtet und schützt. Jetzt hat sie geputscht. Kann man da weiter mit ihr zusammenarbeiten?

Die Europäer und Amerikaner sollen nicht mit Putschisten zusammenarbeiten, aber sie müssen weiter mit Mali zusammenarbeiten. Sonst wird das Land in die Hand von Terroristen fallen. Neben den Offizieren, die geputscht haben, gibt es ja weiter die Verwaltung. Viele malische Militärs an der Front haben mit den Putschisten nichts zu tun; auch mit denen sollte Europa zusammenarbeiten. Es sollte die militärische Kooperation mit den G5 Sahel fortsetzen, zu denen Mali gehört. Auch die französische Militäroperation Barkhane im Sahel, die auch im Zentrum und im Norden Malis interveniert, muss weitergehen.

Bisher ist es aber nicht gelungen, das Terrorismus-Problem militärisch zu lösen. Muss man auch mit Dschihadisten verhandeln, wie Präsident Keïta es zuletzt versucht hat?

Nein. Europa setzt sich für Frieden, Stabilität und Entwicklung in Mali ein, und nichts davon wollen die Terroristen. Mit ihnen zu verhandeln ist zwecklos.

Hat der Einsatz des malischen Militärs die Konflikte nicht noch eskalieren lassen, zumindest im Zentrum des Landes?

Nein. Das Problem in dieser Region ist ein wirtschaftliches. Die größten Volksgruppen dort sind die Dogon, die sind Bauern, und die Peul, die sind Viehhirten. Zwischen ihnen gibt es Konflikte über die Aufteilung von Land, Weiderechten und anderen Ressourcen. Wenn man die nicht regelt, werden die immer kämpfen, selbst wenn man die gesamte Armee Malis hinschickt. Und leider gibt es unter den Peul einen Terroristen namens Amadou Kouffa. Unter der Bevölkerung dort, die wenig gebildet ist, folgen ihm einige. Und was die Armee angeht: Das Problem ist nicht, dass sie dort ist – seit der Unabhängigkeit Malis ist in Mopti, der Hauptstadt der Zentrumsregion, eine der größten Basen der Armee. Das Problem ist die Art, wie die Operationen durchgeführt werden: mit Menschenrechtsverletzungen und mit Hilfe von Selbstverteidigungsgruppen. Einige Armeeführer in Bamako haben die Schaffung solcher Milizen unterstützt. Das hat die Lage schlimmer gemacht. Es ist die Aufgabe der Armee, für Sicherheit zu sorgen; wenn man stattdessen Waffen an Zivilisten verteilt, werden sie die ohne Rücksicht auf die Menschenrechte einsetzen.

Das Gespräch führte Bernd Ludermann.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2020: Idealismus und Karriere
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