Gefährlicher Wettlauf

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SILVIO AVILA/AFP via Getty Images

Testlauf: Eine Freiwillige lässt sich Anfang August in Porto Alegre in Brasilien einen Impfstoff der chinesischen Firma Sinovac Biotech spritzen.

Corona-Impfstoff
Reiche Staaten sichern sich schon jetzt den Zugang zu möglichen Impfstoffen gegen Covid-19. Arme Länder stehen hinten an, die Pharmakonzerne profitieren.

Wladimir Putin hat diese Woche höchstselbst verkündet, dass in Russland der weltweit erste Impfstoff gegen Covid-19 zugelassen ist. Was der zur Eindämmung der Pandemie beiträgt, ist völlig offen: Der Impfstoff hat die entscheidende dritte Testphase nicht durchlaufen. Laut Fachleuten weiß niemand, wie wirksam er vor der Krankheit schützt und wie häufig und wie schwer die Nebenwirkungen sind.

Putins Schritt zeigt aber klar: Populisten wie er, deren Länder nicht zufällig besonders unter der Pandemie leiden, benötigen dringend einen Impfstoff, um den Unmut im Volk zu bremsen. Für Donald Trump wäre das gar die beste Chance, seine Abwahl zu verhindern. Dies befeuert einen bedrohlichen Wettlauf reicher Länder um Produktionskapazitäten für mögliche Impfstoffe – zum Nutzen großer Pharmafirmen, aber zum Schaden armer Länder.

So haben die USA schon im Mai mit dem Pharmakonzern Astrazeneca vereinbart, dass er für 1,2 Milliarden US-Dollar den von der Universität Oxford entwickelten Impfstoff an 30.000 Personen in den USA testet und im Erfolgsfall 300.000 Dosen an die USA liefert. Weit über 500 Millionen Dosen verschiedener Impfstoffe haben sich die USA inzwischen für über sechs Milliarden Dollar gesichert. Anfang Juni haben Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande nachgezogen und von Astrazeneca Produktionskapazität für bis zu 400.000 Dosen erworben; sie sollen der ganzen Europäischen Union zugutekommen. Großbritannien hat ähnliche Verträge mit der Firma.

Auf Verdacht vorab produzieren

Theoretisch könnten Vorab-Käufe ein Problem mildern: Covid-19-Impfstoffe braucht man nach einer Zulassung schnell in großen Mengen – aber noch weiß niemand, welche sich als wirksam und sicher erweisen. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind im August sechs Kandidaten in der dritten Testphase: der von Oxford/Astrazeneca, einer der deutschen Firma Biontech, einer aus den USA und drei aus China. Zwölf weitere sind in der zweiten, zehn in der ersten Testphase. Bis einer besteht, kann es dauern; für die dritte Phase müssen in Gebieten mit hohem Infektionsrisiko viele Tausend Testpersonen geimpft, beobachtet und das dann ausgewertet werden.

Es ist deshalb sinnvoll, auf Verdacht vorab zu produzieren und neue Produktionsanlagen zu schaffen. Deren Kapazitäten sind begrenzt und weltweit stärker konzentriert als bei der Medikamentenherstellung. Zudem müssen weiter andere Impfstoffe produziert werden; schließlich muss man Menschen auch in Zeiten von Corona zum Beispiel vor Masern und Denguefieber schützen. Dass reiche Länder Milliarden für die Produktion potenzieller Covid-19-Impfstoffe ausgeben, wäre also lobenswert, wenn es diese Mittel möglichst schnell weltweit verfügbar machen würde – als universelles Gemeinschaftsgut, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Mai gesagt hat. Da hat eine Geberkonferenz 7,4 Milliarden Euro für die Entwicklung eines Impfstoffs und die Ausweitung der Test- und Behandlungsmöglichkeiten gesammelt; der Löwenanteil ging an CEPI, die globale öffentlich-private Allianz zur Entwicklung neuer Impfstoffe.

Doch maßgebliche Staaten behandeln den Impfstoff nicht als globales Gut. Das hieße, ihn von Beginn an mit armen Ländern zu teilen, wo sich viel mehr Menschen als im Norden, zum Beispiel in Slumgebieten, nicht vor dem Virus schützen können. Stattdessen sieht es so aus, als würden Europa und die USA großen Pharmafirmen erneut Geld hinterherwerfen. Die Vereinbarungen mit ihnen sind jedenfalls verdächtig intransparent. 

Medikamente aufgekauft 

Das beginnt mit den Lizenzen. So hat die Universität Oxford die Lizenzen zur Herstellung ihres Impfstoffs an Astrazeneca vergeben; ob sie dafür Bedingungen gestellt hat wie einen Höchstpreis oder Kooperation mit Herstellern im Süden, ist nicht bekannt. Praktisch alle Forschung an einem Covid-19-Impfstoff geschieht aber an öffentlichen Instituten oder ist stark staatlich subventioniert. Deshalb sollten die Ergebnisse allgemein zur Verfügung stehen. Der neue globale Patentpool ruft Regierungen auf, dafür zu sorgen, dass von ihnen finanzierte Forschung global zugänglich wird. Auf der Liste der Länder, die das unterzeichnet haben, fehlen jedoch die USA, China und die meisten europäischen Staaten, auch Deutschland und die Schweiz. Stattdessen erhalten Firmen erst Lizenzen, die Forschungsergebnisse zu verwenden, und dann noch Milliarden für die Produktion. 

Schlimmer noch: Zu erwarten ist ein Wettlauf um die ersten Chargen künftiger Impfstoffe, bei dem arme Länder hintanstehen. Schon während der Grippe-Pandemie 2009 mussten sie warten, bis die USA und europäische Staaten sicher waren, genug für sich zu haben, und ein Zehntel ihrer Impfstoffbestände abgaben. Und Medikamente, die bei Covid-19 helfen sollten, haben die USA zuletzt aufgekauft; Indien und Großbritannien haben die Ausfuhr verboten. 

Die Idee vom universellen Gemeingut pervertiert

Die WHO hat die Gefahr erkannt und will ihr mit einer neuen „Covid-19 Vaccine Global Access Facility“, kurz COVAX, entgegenwirken. Die soll in die Entwicklung von zwölf verschiedenen Impfstoffen investieren und bis Ende 2021 zwei Milliarden Dosen davon beschaffen. Die sollen zu gleichen Teilen Ländern mit hohem und mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen zugutekommen. Ein erster Vertrag mit Astrazeneca über 300 Millionen Dosen ist angekündigt. Das nötige Geld sollen reiche Länder selbst einzahlen, den Anteil der armen will die Globale Impfallianz GAVI mit etwa zwei Milliarden US-Dollar bezuschussen; die Summe müsste sie unter Geberstaaten und privaten Anlegern einsammeln.

Aber warum sollten Staaten, die Impfstoffe teuer aufkaufen können, da mitmachen? Auf die Frage haben die Erfinder der COVAX eine clevere Antwort: Selbst die reichsten Länder können nicht von jedem möglichen Impfstoff große Mengen vorab kaufen. Daher riskieren auch etwa die USA, auf die falschen Kandidaten zu setzen. Wenn sie zusätzlich bei COVAX einsteigen, sichern sie sich dagegen ab: Macht ein Impfstoff das Rennen, von dem sie nichts gekauft haben, dann ist ihnen trotzdem eine gewisse Menge sicher.

Das ist ein verzweifelter Versuch, ein Mindestmaß an globaler Kooperation zu retten. Auch er schont Pharmaunternehmen – COVAX sollte zumindest verlangen, dass die als Gegenleistung für das Geld von COVAX ihr Know-how allgemein zugänglich machen. Und er wird den nationalen Egoismus kaum zähmen. Das erwarten jedenfalls afrikanische Staaten: Berichten zufolge verhandeln einige bereits mit Banken über Kredite, um eigene Vorabkäufe tätigen zu können. Dann würden afrikanische Staaten Zinsen an Banken im Norden zahlen, damit Pharmaunternehmen im Norden an Impfstoffen verdienen, die mit öffentlichem Geld entwickelt wurden. Schlimmer kann man die Idee vom universellen Gemeingut nicht pervertieren.

Mehr Berichte zu den Auswirkungen der Pandemie in verschiedenen Ländern finden Sie in unserem Corona-Dossier

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