Die Macht der Generäle

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Ägyptens Militär
Mohamed Nureldin Abdallah/Reuters

Im Sudan hat das Militär den Diktator fallen lassen: Im August 2019 unterzeichnen General Abdel Fattah al-Burhan und der Oppositionsführer Ahmad al-Rabiah ein Abkommen über Machtteilung und eine Übergangsregierung.
 

Massenproteste
In autoritären Regimen entscheidet oft das Militär über Gelingen oder Scheitern einer demokratischen Revolution. Ein Putsch ist dabei die riskanteste Option für die Generäle.

Seit ihrer Hochphase in den 1970er Jahren hat die Zahl der Militärputsche und -diktaturen mit einem uniformierten Offizier an der Spitze beständig abgenommen. Heute wird weltweit nur der Sudan von einem aktiven General als Vorsitzenden einer zivil-militärischen Übergangsregierung regiert. Dennoch war und ist das Militär als innenpolitischer Machtfaktor in Diktaturen nie wirklich verschwunden. 

Spätestens seit dem „Arabischen Frühling“ ist die Bedeutung des Militärs als Säule autoritärer Herrschaft wieder verstärkt in die Aufmerksamkeit der Medien gerückt. Dabei geht es insbesondere um die Rolle und das Verhalten der Streitkräfte bei Massenprotesten. In den Volksaufständen gegen Diktatoren in Ländern wie Ägypten, Tunesien und dem Jemen zu Beginn der 2010er Jahre zeigte sich deutlich, dass dem Militär eine entscheidende Rolle für das politische – und manchmal auch physische – Überleben autoritärer Herrscher zukommt. Herausgefordert durch Massenproteste gegen Korruption, Armut und mangelnde Lebenschancen stürzte das Regime in Tunesien, als sich das Militär weigerte, gewaltsam gegen die Protestierenden vorzugehen. In Bahrain und im Jemen, in denen das Militär die Proteste mit brutaler Waffengewalt niederschlug, konnten sich die Regimeeliten an der Macht halten. In Ägypten schließlich putschte das Militär im Zuge von Protesten gleich zweimal gegen Regimeführer: im Jahr 2011 gegen den langjährigen Diktator Hosni Mubarak und 2013 gegen den demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Mursi. 

Massenproteste sind in Diktaturen keineswegs so selten, wie man angesichts der repressiven Natur dieser Regime und der Gefahr für Leib, Leben und Freiheit der Demonstrierenden annehmen könnte. Dabei entfalteten sich Proteste gegen autokratische Regime oft gleichzeitig oder kurz nacheinander in benachbarten Ländern. Ab Mitte der 1970er Jahre etwa stürzten Massenproteste eine Vielzahl von Diktaturen in Südeuropa, Lateinamerika, Afrika und Asien. Viele davon waren Militärdiktaturen, beispielsweise Griechenland, Argentinien und Thailand.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zwischen den Jahren 1989 und 1990 folgte eine weitere Protest- und Demokratisierungswelle, die die sozialistischen Einparteiregime Ost- und Mitteleuropas stürzte. Die jüngsten größeren Protestwellen erfassten im Zuge des „Arabischen Frühlings“ seit dem Jahr 2010 viele Autokratien Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens – der Weltregion, die laut allen verfügbaren Demokratie-Indizes die heute größte Dichte an autoritären Regimen aufweist. Darüber hinaus haben in jüngster Zeit auch eine Reihe einzelner Protestbewegungen Schlagzeilen gemacht, etwa in Venezuela, in Bolivien und im Sudan.

Nicht immer schützt das Militär die Regierungselite mit Waffengewalt

Alle Proteste in Diktaturen zeugen vom Mut der Protestierenden und der potenziellen Macht der Straße. Für das Regime ist der Protest aber erst dann eine Gefahr, wenn er so groß wird, dass der zivile Sicherheitsapparat aus Polizei, Geheimdienst und Schlägertrupps ihn nicht mehr kontrollieren und unterdrücken kann. In diesen Situationen kommt dem Militär eine entscheidende Rolle zu: Konfrontiert mit zehn- oder gar hunderttausenden Demonstrierenden ist nur die Armee groß genug, ausreichend organisiert und stark genug bewaffnet, um die Proteste niederzuschlagen und den Sturz des Regimes abzuwenden. Doch bereits die oben genannten Beispiele zeigen, dass das Militär auch in Diktaturen nicht immer gewillt ist, die Regierungselite mit Waffengewalt gegen das eigene Volk zu beschützen. Nicht alle Massenproteste enden wie die chinesische Demokratiebewegung im Juni 1989 in einem Blutbad.

Autor

David Kuehn

ist Senior Research Fellow am Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA) in Hamburg. Sein Text beruht auf Forschungs­arbeiten mit Aurel Croissant und Tanja Eschenauer.
Ein Forschungsprojekt an der Universität Heidelberg und dem GIGA-Institut in Hamburg hat 40 ausgewählte Massenproteste in Diktaturen zwischen den Jahren 1946 und 2014 untersucht. Nur in etwa der Hälfte der Fälle versuchte das Militär, die demokratische Protestbewegung niederzuschlagen – etwa 1992 in Thailand, 2009 im Iran oder während des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 in Libyen, Syrien, Bahrain und im Jemen.

Neben der Unterstützung des bestehenden Regimes hat die Armee zwei alternative Handlungsoptionen: Zum einen kann das Militär der Führung die Gefolgschaft verweigern und sich offen – oder faktisch durch Verbleib in den Kasernen – auf die Seite der Protestierenden schlagen. Beispiele dafür sind die Proteste gegen die sozialistischen Einparteienregime Ost- und Mitteleuropas Ende der 1980er Jahre sowie die Demonstrationen in Tunesien im Jahr 2011 und in Algerien und Bolivien im Jahr 2019. Zum anderen kann die Militärführung die Massenproteste zum Anlass nehmen, um selbst an die Macht zu kommen und einen Putsch gegen den Diktator zu wagen. Dies geschah etwa in Haiti im Jahr 1986, in Ägypten in den Jahren 2011 und 2013 und im Jahr 2019 im Sudan. 

Wie sich das Militär verhält, ist entscheidend für das politische Überleben des Regimeführers und die längerfristige politische Entwicklung. Verweigerte die Armee dem Diktator die Gefolgschaft, führte das in nahezu allen untersuchten Fällen zu seinem Sturz innerhalb des nächsten Jahres. Ein Seitenwechsel des Militärs führte in der Regel zu einem demokratischen Übergang wie etwa auf den Philippinen im Jahr 1986. Ein Militärputsch hingegen endete zumindest vorübergehend stets in einer Militärregierung, etwa im Jahr 1989 im Sudan. 

Allerdings ist der Machterhalt der Führer autoritärer Regime auch dann nicht sicher, wenn das Militär sich loyal zu ihnen verhält und die Proteste niederschlägt. In den meisten Fällen wurde der Diktator im Laufe des nächsten Jahres gestürzt und in der Regel nach Machtkämpfen innerhalb der Elite durch einen anderen Diktator ersetzt. Schließlich zeigt das Beispiel Ägyptens nach dem Sturz Hosni Mubaraks im Februar 2011, dass selbst ein erfolgreicher Putsch dem Militär nicht vollständige politische Kontrolle verschaffen muss: Der anschließende Wahlsieg der Muslimbruderschaft und die andauernden Proteste gegen Präsident Mohammed Mursi führten letztlich zu einem erneuten Militärputsch im Juli 2013 und zur Einsetzung einer Militärregierung unter General Abdel Fattah al-Sisi, der mittlerweile als Zivilist  noch immer im Amt ist.

Optionen des Militärs angesichts von Massenprotesten

Wovon hängt ab, wie sich das Militär angesichts regimebedrohender Massenproteste verhält? Vier Faktoren lassen sich identifizieren. Erstens handelt die Militärführung vorrangig im Eigeninteresse: Sie will im Amt bleiben und den Zugang zu staatlichen Ressourcen wie Anteile an Steuereinnahmen oder Einkommen aus Staatsunternehmen behalten sowie das Militär als funktionierende Organisation erhalten. Die Generäle entscheiden sich für die Handlungsoption, mit der sich das am ehesten realisieren lässt.

Für eine Niederschlagung der Protestbewegung entscheiden sich die Generäle demnach, zweitens, wenn die Repression den Zusammenhalt des Militärs nicht zu stark gefährdet, etwa weil die Soldaten mit der Protestbewegung sympathisieren, und sich der Verbleib in der Regimekoalition materiell lohnt. Ausschlaggebend ist zudem, ob das Regime es schafft, durch geschickte Personalpolitik das Überleben der Militärführung im Amt an das Überleben des Regimes zu knüpfen. Insbesondere Letzteres ist eine besonders wirksame Loyalitätsstrategie autoritärer Regime, wie sich in Syrien zeigt. Dort ist die Militärführung trotz des Auseinanderbrechens der Armee dem Regime gegenüber loyal geblieben, weil die Armeeführung vorrangig mit Mitgliedern der alewitischen Minderheit besetzt wurde, der auch die Führungselite um Präsident Assad angehört. Kann das Regime dagegen weder wirtschaftliche Vorteile noch Zwangsanreize wie die Ausgrenzung illoyaler Offiziere aufbringen, lassen die Streitkräfte den Diktator eher fallen.

Dass die Militärführung sich auf die Seite der Demonstrantinnen und Demonstranten stellt, ist, drittens, wahrscheinlich, wenn sie nicht befürchten muss, nach dem Sturz des Diktators für frühere Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen zu werden. Diese Sorge trieb die Führer der lateinamerikanischen Militärregime um. In den meisten sozialistischen Regimen Osteuropas hingegen stellte sich dieses Problem nicht für die Militärführung.

Die vierte Option, ein Putsch, ist das potenziell größte Wagnis. So kann der Staatsstreich schiefgehen – und die Putschführer laufen Gefahr, inhaftiert oder sogar umgebracht zu werden. Mittelfristig riskiert die Militärführung eine tiefgehende Politisierung und innere Spaltung der Armee in Befürworter und Gegner des Putsches. Darüber hinaus müssen nach einem Putsch möglicherweise andauernde, nun gegen die neue Militärregierung gerichtete Proteste niedergeschlagen werden. 

Beispiele Venezuela, Algerien und Sudan

Die jüngsten Beispiele in Venezuela, Algerien und Sudan zeigen das Zusammenwirken dieser Faktoren. So ist es der Regierung von Nicolás Maduro in Venezuela bislang gelungen, die Loyalität der Streitkräfte zu wahren. Dabei spielt vor allem die Gewährung wirtschaftlicher Privilegien wie der Zugang zu Einkommen aus dem Ölgeschäft eine zentrale Rolle, durch die die Militärführung eng an das Überleben des Regimes gebunden wird. Zugleich werden mögliche Abweichler und als untreu wahrgenommene Offiziere und ihre Familien von regimetreuen Geheimdiensten verfolgt, verhaftet und gefoltert.

In Algerien hingegen ist es der Elite um Machthaber Abdelaziz Bouteflika nicht gelungen, sich die Loyalität der Militärführung zu sichern. Zwar war das Militär eine wichtige Stütze des Regimes und profitierte von den korrupten Verwicklungen von Staat und Wirtschaft. Diese herausragende Position wurde jedoch durch die Forderungen der Protestierenden nach Demokratisierung und einem Ende des korrupten Systems bedroht. Durch eine Abkehr von Präsident Bouteflika, an dessen Kandidatur für eine fünfte Amtszeit sich die Proteste entzündeten, distanzierte sich die Militärführung vom System des greisen Präsidenten, blieb aber zugleich Herr der Lage und konnte die eigenen Pfründe sichern. Zugleich inszenierte sich das Militär als „Bruder des Volkes“, weil es seit dem Ende des Bürgerkrieges nicht in die Unterdrückung der Bevölkerung verwickelt gewesen war. Denn die alltägliche Repression und Kontrolle von Dissens wurde durch zivile Polizeibehörden und den algerischen Geheimdienst gewährleistet. 

Der jüngste Putsch im Sudan im Jahr 2019 lässt sich als Versuch der Militärführung interpretieren, die eigene Machtposition und Einkommensquellen angesichts eines abgewirtschafteten Systems zu bewahren und sich zugleich der Konkurrenten in der Regimeelite, insbesondere aus den Organen der inneren Sicherheit, zu entledigen.

Die politische Rolle des Militärs bleibt nicht auf ihr Verhalten während Massenprotesten beschränkt, sondern ist auch danach noch von entscheidender Bedeutung. Dies ist offenkundig in Ländern, in denen militärische Gewalt das Überleben der Regimeführung gesichert hat. Zum Beispiel wurden in China der Volksbefreiungsarmee nach der Niederschlagung der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens erhebliche institutionelle, materielle und politische Vorrechte gewährt. Dazu zählte unter anderem der Ausbau militäreigener Unternehmen.

Auch nach einem Putsch ist das Verhalten der neu eingesetzten Militärführung zentral. Zwar halten seit dem Ende des Kalten Krieges die meisten Militärregierungen innerhalb eines Jahres mehr oder minder demokratische Wahlen ab. Aber wie die erneuten Putsche nach demokratischen Wahlen im Sudan im Jahr 1989 und in Ägypten im Jahr 2013 zeigen, führen die erzwungenen Regimewechsel oft nicht in eine stabile Demokratie. Der Ausgang des jüngsten Regimewechsels im Sudan vom April 2019 ist noch offen – hier musste sich die Protestbewegung nach dem Putsch die Beteiligung an einer militärisch-zivilen Übergangsregierung erst erstreiten.

Einfluss des Militärs und zivile Kontrolle über die Streitkräfte in neuen Demokratien

Aber auch der anscheinende Sieg der Protestbewegung, der Sturz der Diktatur und die Einsetzung einer demokratisch gewählten Regierung führt nicht zwangsläufig zur vollkommenen Entmachtung des Militärs. Die vergleichende Demokratisierungsforschung zeigt, dass die Spannbreite des politischen Einflusses des Militärs und das Ausmaß der zivilen Kontrolle über die Streitkräfte in neuen Demokratien sehr groß ist: Sie rangiert von vollkommener Unterordnung des Militärs unter die Politik bis hin zur faktischen Abhängigkeit der gewählten Regierung von der Zustimmung der Streitkräfte, die als moderierende Macht im Hintergrund auftritt.

Dabei zeigt sich, dass das Militär insbesondere in jenen jungen Demokratien politisch einflussreich bleibt, in denen die Streitkräfte bereits vor der Demokratisierung mächtig waren und Militärs den Übergang geplant, gelenkt oder in einem formalen oder informellen Pakt mit zivilen Eliten ausgehandelt haben. Dies war beispielsweise in Chile der Fall, wo das Militärregime von Augusto Pinochet den Übergang zur Demokratie selbst organisierte und sich dadurch erhebliche politische Vorrechte unter der neuen Verfassung sicherte.

Auch in Myanmar etablierten die herrschenden Militärs seit 2011 eine neue Verfassung und sicherten sich gleichzeitig ihren Einfluss durch für das Militär reservierte Sperrminoritäten im Parlament. Diese Vorrechte müssen von den zivilen Eliten wieder rückgängig gemacht werden – ein Vorhaben, das meistens langwierig ist und zugleich an der Wahlurne in der Regel kaum honoriert wird.

Das Militär wird auch in absehbarer Zukunft in vielen Ländern eine zentrale politische Rolle spielen. In Venezuela ist Präsident Maduro angesichts der katastrophalen Wirtschaftslage weiterhin von der Unterstützung des Militärs abhängig, um sich gegen die politische Opposition und Massenproteste zu behaupten. In Algerien konnten die Streitkräfte durch ihren Seitenwechsel die weitere politische Entwicklung des Landes mitgestalten, ohne selbst die Macht übernehmen oder wesentliche Machteinbußen hinnehmen zu müssen. Im Sudan ist das Militär noch mindestens bis zum Ende der dreijährigen Übergangsregierung im Jahr 2022 beteiligt. Hier wird zu beobachten sein, ob General Abdel Fattah al-Burhan im Jahr 2021 wie vereinbart den Vorsitz über den Souveränen Rat an einen zivilen Politiker abgibt. Schließlich besteht in vielen Ländern des globalen Südens – sowohl in Diktaturen als auch in vor allem jungen Demokratien – die Gefahr, dass das Militär als zentraler Akteur in der Bekämpfung der Corona-Pandemie längerfristig politisch an Macht gewinnt.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2020: Die wahre Macht im Staat?
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