Ein Anschlag zu viel

Pakistan
Früher hat das pakistanische Militär dschihadistische Gruppen für außenpolitische Zwecke genutzt. Doch dann eskalierte die Gewalt in Pakistan selbst – und die Armee änderte ihren Kurs.

Über die pakistanische Gesellschaft und Politik ist in Europa wenig bekannt. Interesse bestand in den vergangenen 20 Jahren überwiegend dann, wenn Pakistan als Faktor des Krieges in Afghanistan wahrgenommen wurde oder spektakuläre Gewaltakte die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Das Land wurde und wird noch immer vor allem als „gefährlich“ wahrgenommen, als Brutstätte des islamischen Extremismus und des Terrorismus. Und auch wenn das Klischee dem Land nie auch nur annähernd gerecht wurde, so gab es in den beiden vergangenen Jahrzehnten doch tatsächlich ein außergewöhnlich hohes Gewaltniveau durch Terrorismus, konfessionelle Attentate und regionale Quasi-Bürgerkriege. 

Die Welle der Gewalt begann mit dem „Krieg gegen den Terror“, der die innen- und die außenpolitische Landschaft Pakistans grundlegend veränderte. Zuvor hatte es – im Jahr 2000 – insgesamt 166 Todesopfer durch politische Gewalt gegeben. Im Jahr 2009 erreichte die Zahl der Toten mit mehr als 11.300 ihren Höhepunkt, seit 2014 ist sie wieder deutlich gesunken: 2019 waren nur noch 365 Todesopfer zu beklagen. Insgesamt sank das Gewaltniveau vom Niveau eines faktischen Bürgerkrieges auf das von bandenmäßiger Gewaltkriminalität. Auch wenn es nach wie vor zu Anschlägen kommt, so wie im Juni auf die Börse in Karachi, herrscht heute in Pakistan das Gefühl vor, den Kampf gegen den Terrorismus gewonnen und die Gewalt unter Kontrolle gebracht zu haben. Insbesondere das pakistanische Militär betont gern seinen Erfolg gegen die terroristischen Gruppen. 

Um die Ursachen der nachlassenden Gewalt zu verstehen, muss man zwei Aspekte zur Kenntnis nehmen: die unterschiedlichen Ursachen der Gewalt in Pakistan und die Rolle des Militärs in der pakistanischen Gesellschaft.

Seit dem Jahr 2000 gab es in Pakistan mindestens vier Gewaltherde, die völlig unterschiedlichen Logiken folgten und sich unterschiedlich stark ausgewirkt haben. In der Provinz Belutschistan, die an Afghanistan und den Iran grenzt, gab und gibt es das, was man früher einen „nationalen Befreiungskrieg“ genannt hätte: einen ethnonationalistischen Aufstand von Belutschen gegen die Bevormundung und Ausbeutung der Provinz durch die Zentralregierung beziehungsweise gegen eine „punjabische Vorherrschaft“. Dieser Aufstand hat keine religiöse Konnotation, sondern zielte auf Autonomie oder Unabhängigkeit.

Zweitens gab es einen Bürgerkrieg in der Wirtschaftsmetropole Karachi, einer Großstadt mit ungefähr so vielen Einwohnern wie Nordrhein-Westfalen. Hier haben sich ethnische Konflikte mit kriminellen Netzwerken und Banden sowie mit den politischen Parteien verknüpft. Später kam noch eine religiöse Dimension dazu, als religiöse Extremisten gegen andere religiöse Kräfte und gegen säkulare Gruppen um Einfluss kämpften. Trotzdem bestand der Kern des Gewaltkonflikts aus säkularen Faktoren: der Verknüpfung von Ethnizität, Kriminalität und politischem Establishment.

Drittens existierte eine überregionale Konfliktdimension, nämlich die Gewalt sunnitischer und schiitischer Extremistengruppen gegeneinander und gegen Zivilisten der jeweils anderen Seite. Diese „religiöse“ Gewalt nahm bereits in den 1980er Jahren ihren Ausgang in der Provinz Punjab, erstreckte sich aber bald über das ganze Land.

Der stärkste Machtfaktor der pakistanischen Politik

Viertens bestand ein besonders wichtiger Gewaltherd in den paschtunischen Siedlungsgebieten an der afghanischen Grenze, insbesondere in den damaligen Stammesgebieten, die inzwischen in die normalen politischen Strukturen integriert sind. Dieser Konfliktherd dehnte sich bald auf weite Teile der Provinz Khyber Pakhtunkhwa im Nordwesten an der Grenze zu Afghanistan aus, dann auch auf Brennpunkte anderer Provinzen. Die Gewalt dort war mit dem Krieg in Afghanistan verknüpft und enthielt deshalb auch anti-amerikanische und antiwestliche Impulse. Sie trug zudem ein doppeltes Gesicht: Einerseits erschien die Gewalt als „religiös“ (sunnitisch-extremistisch), da sie im Wesentlichen von den verschiedenen Gruppen der pakistanischen Taliban verübt wurde. Andererseits enthielt sie nationalistische Dimensionen (paschtunische und pakistanische), da sie sich zugleich gegen die pakistanische Regierung richtete, die für eine „amerikanische Marionette“ gehalten wurde. 

Autor

Jochen Hippler

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Entwicklung und Frieden und lehrt Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.
Das Militär war in diese vier Konfliktherde unterschiedlich stark involviert. Grundsätzlich nimmt die Armee seit den 1950er Jahren in der pakistanischen Gesellschaft und Politik eine Sonderstellung ein. Es herrschte bereits mehrmals direkt durch Militärdiktaturen, nämlich von 1958 bis 1971, von 1977 bis 1988 und von 1999 bis 2008. Aber auch in den Zeiten ziviler Regierungen verfügte das Militär, insbesondere das Heer und seit den 1980er Jahren auch der Militärgeheimdienst ISI, meistens über eine beträchtliche Macht. Insbesondere die Politik gegenüber den feindlichen Nachbarn Afghanistan und Indien sowie die Sicherheits- und Nuklearpolitik konnten zivile Regierungen nur beeinflussen, solange das Militär dies zuließ. Die Armee hat sich zudem immer wieder auch in die Innenpolitik eingemischt, nicht allein durch direkten Druck, sondern auch durch die finanzielle und politische Förderung oder eben Bekämpfung von politischen Parteien oder Parteienbündnissen. Bis heute ist das Militär angesichts eines fragilen Parteiensystems der stärkste Machtfaktor der pakistanischen Politik, auch wenn es diese Macht nicht immer direkt ausübt. 

Zugleich befindet sich das pakistanische Militär gegenüber dem indischen „Erzfeind“ zumindest seit der Niederlage im Krieg von 1971 in einer strategisch fast aussichtslosen Defensive: Zahlenmäßig und technologisch ist Indien um ein Vielfaches überlegen. Das pakistanische Militär hat sich bemüht, diese Schwäche auf zwei Arten auszugleichen: zum einen durch die Entwicklung eigener Atomwaffen als Antwort auf die indischen, zum anderen durch die Instrumentalisierung dschihadistischer Gruppen, um so Druck auf Afghanistan und Indien vor allem in der umstrittenen Region Kaschmir auszuüben, ohne dafür direkt haftbar gemacht werden zu können. Das Heer und der ISI haben diese Gruppen gefördert, um ihren außenpolitischen Gegnern Nadelstiche zu versetzen, aber zum Teil auch, um die pakistanischen Parteien zu schwächen. Von der Zeit der Diktatur von General Zia ul-Haq 1977 bis 1988 einmal abgesehen, erfolgte diese Unterstützung religiöser Extremisten kaum aus ideologischer Sympathie, sondern aufgrund pragmatischer Erwägungen. Einerseits gab es bezogen auf Afghanistan und Indien überlappende außenpolitische Interessen mit religiös-extremistischen Gruppen, andererseits galt zugleich die Regel, dass der Feind meines Feindes mein Freund sei. 

Nach den Terroranschlägen in den USA vom September 2001 geriet Pakistan in eine schwierige Position. Die US-Regierung stellte dem Land ein Ultimatum, sich entweder am „Krieg gegen den Terror“ – und damit gegen das Afghanistan der Taliban – zu beteiligen oder selbst zum Ziel zu werden. Es blieb Pakistan politisch, wirtschaftlich und militärisch keine andere Wahl, als sich dem zu beugen und eine lange Liste von US-Forderungen zu erfüllen. Das bedeutete unter anderem, die zuvor unterstützten Taliban fallenzulassen, dem US-Krieg in Afghanistan logistische und militärische Hilfe zu leisten und im eigenen Land gegen Gruppen und Organisationen, auch gegen eigene Staatsbürger, gewaltsam vorgehen zu müssen.

Besatzungstruppe auf eigenem Staatsgebiet

Insbesondere entsandte das Militär Zehntausende von Soldaten in die damaligen Stammesgebiete an der afghanischen Grenze, um al-Qaida-Angehörige, geflohene Taliban aus dem Nachbarland und einige dschihadistische Gruppen aus Pakistan zu bekämpfen. Dieser beispiellose Bruch der Autonomie der Stammesgebiete, in denen pakistanisches Recht nicht galt, wurde von vielen Stämmen als Angriff auf sie selbst wahrgenommen und führte zu heftigem Widerstand. Das pakistanische Militär wurde zur Besatzungstruppe auf einem Teil des eigenen Staatsgebietes – und das im Auftrag und unter dem Zwang der USA. Dies löste nicht nur einen Aufstand in den Stammesgebieten selbst aus, sondern führte auch zur Delegitimierung des Staates, zu Destabilisierung und Radikalisierung in anderen Landesteilen. Mehrere Attentatsversuche auf den Militärdiktator Pervez Musharraf und die Ermordung der früheren Ministerpräsidentin Benazir Bhutto im Dezember 2007 waren Folgen dieser Eskalation. 

Diese Entwicklung führte auch zur Entfremdung des Militärs von den meisten früher von ihm geförderten extremistischen Gruppen, die sich vom Militär verraten fühlten. Politisch wichtiger war allerdings, dass große Teile der pakistanischen Gesellschaft die Kritik an Militär und Regierung teilten, was zu wachsender Toleranz gegenüber extremistischen Ideologien führte, insbesondere dem sunnitischen Extremismus. Selbst dschihadistischer Terror wurde bald schweigend oder sogar wohlwollend betrachtet, was den Kampf gegen extremistische Gruppen sehr erschwerte und wenig aussichtsreich werden ließ. Dazu kam, dass die Armee insbesondere in den Stammesgebieten ihren Kampf vor allem mit militärischer Gewalt führte, was zu zahlreichen Opfern unter der Zivilbevölkerung führte. 

Bis 2007/2008 verlief der Kampf gegen die dschihadistischen Gruppen deshalb weitgehend erfolglos. Dann kam es zu einem Strategiewechsel, der die politischen und sozialen Dimensionen der Aufstandsbekämpfung stärker einbezog und mehr Rücksicht auf die Bevölkerung nahm. Dies führte zu ersten taktischen Erfolgen der Militäroperationen, etwa im Swat-Tal und den südlichen Regionen der Stammesgebiete. Gleichzeitig wuchs die Entschlossenheit des Militärs, ernsthaft gegen die gewalttätigen Gruppen vorzugehen, obwohl es die früher als Hilfstruppen genutzt hatte. Die Attentatsversuche auf den eigenen Oberkommandierenden und Präsidenten, General Musharraf, die zum Teil direkt vor dem Hauptquartier des Heeres stattfanden, trugen ebenso dazu bei wie die Verluste an Soldaten, die man nicht länger hinnehmen wollte. Es wird von mehr als 7200 toten Soldaten und Polizisten bis heute berichtet, vermutlich ist die tatsächliche Zahl deutlich höher. 

Spätestens im Jahr 2014 drehte sich auch das politische Klima in Pakistan gegenüber den gewalttätigen Gruppen grundlegend. In diesem Jahr kam es zu einem terroristischen Massaker in einer Armeeschule in der Stadt Peschawar, die auch Kinder von Zivilisten unterrichtete. Ein sechsköpfiges Kommando der pakistanischen Taliban, in dem alle ausländischer Herkunft waren, überfiel die Schule und tötete insgesamt 149 Menschen, davon 132 Kinder. Seit diesem Angriff besteht in der pakistanischen Gesellschaft kaum noch Sympathie oder Verständnis für extremistische Gewaltakte. Es ließ sich weder religiös noch politisch rechtfertigen, warum so viele pakistanische Kinder ermordet wurden, um den USA zu schaden. Der Schock dieses Massakers wirkt bis heute nach und hat maßgeblich zur Delegitimierung der dschihadistischen Gewalt in Pakistan beigetragen. Das hat es dem Militär wesentlich erleichtert, gewaltsam gegen Extremistengruppen vorzugehen, da es von der Bevölkerung zunehmend unterstützt wurde, etwa durch Hinweise auf Verdächtige. 

Auch dieses Jahr ist es in Pakistan noch zu Terroranschlägen und anderen politischen Gewaltakten gegen Zivilisten, gegen Infrastruktur und gegen Sicherheitskräfte gekommen. Aber insgesamt befinden sich vor allem die gewalttätigen religiösen Extremisten in der Defensive, weil sie die Sympathie der Bevölkerung verloren haben, weil das Militär wirksamer operiert und weil die frühere strategische Verbindung zwischen extremistischen Gruppen und dem Militär fragil geworden und in manchen Fällen gar einer grundlegenden Feindschaft gewichen ist. 

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erschienen in Ausgabe 9 / 2020: Die wahre Macht im Staat?
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