Fast 50 Arbeiterinnen und Arbeiter aus sechs Ländern haben wir gefragt, wie Covid-19 sich auf ihr Leben auswirkt. Ob in Indonesien, Kenia oder Bolivien – sie alle haben wochenlang unter Lockdown-Bedingungen gelebt. Die Folgen haben sie am eigenen Leib gespürt: Wegen der Ausgangsbeschränkungen konnten viele nicht mehr ihren Lebensunterhalt bestreiten. Über Nacht wurden sie arbeitslos. Ihre Ernährungssituation hat sich innerhalb kürzester Zeit dramatisch verschlechtert – und ihre psychische Belastung erheblich erhöht.
Warum mir ihre Berichte so nahegehen? Weil die Befragten zwischen 7 und 17 Jahre alt sind! Für diese Kinder war und ist es schlicht lebensnotwendig, mit ihrer Arbeit zum Familieneinkommen beizutragen. Was sie bisher als Müllsammler oder Straßenhändlerin, als Schneiderin, Maurer oder Bäcker verdient hatten, sicherte ihnen und häufig auch anderen Familienmitgliedern die tägliche Mahlzeit. Bis zum Lockdown. Jetzt, berichten einige Kinder und ihre Eltern, gibt es Tage, an denen sie nur ganz kleine Portionen oder nur noch wenige Mahlzeiten einnehmen. Oder sie lassen Mahlzeiten ganz aus, um sie an jüngere oder geschwächte Familienmitglieder weiterzugeben.
Tage ohne Essen – das ist nur eine Folge der Pandemie. Eine weitere ist der Verlust an Bildungschancen. Versuchten die Kinder früher, ihre bezahlte Arbeit und ihren Schulbesuch zu vereinbaren, können sie jetzt die Schule nicht bezahlen. Auch alternative Bildungsangebote können sie nur erschwert wahrnehmen: Wie sollen sie einem internetbasierten Unterricht folgen, wenn sie weder Computer noch Smartphone noch Geld für den Kauf von Internetguthaben besitzen? Wie unter einem Brennglas zeigt die Krise die Probleme arbeitender Kinder weltweit.
Ist der Bildungsweg einmal unterbrochen, sind die Aussichten für arbeitende Kinder und Jugendliche düster. Viele der befragten Kinder können ihre bisherige Arbeit, die mit dem Schulbesuch vereinbar war, nun nicht mehr fortführen. Die Pandemiefolgen treiben ihre Familien aber weiter in die Armut. Als Konsequenz, so berichten einige der Kinder und Jugendlichen, übernehmen sie nun gefährlichere Arbeiten. Auch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) warnt vor einem rasanten Anstieg der ausbeuterischen Kinderarbeit infolge der Corona-Pandemie. Das SDG-Ziel, ausbeuterische Kinderarbeit bis 2025 weltweit zu beenden, ist zusätzlich gefährdet. Zwar sind seit der Jahrtausendwende rund 90 Millionen Mädchen und Jungen weniger von Ausbeutung betroffen, aber dieser Rückgang stagniert seit Jahren. Einige der befragten Kinder und Jugendlichen bestätigten die Befürchtung der ILO. Sie berichten schon jetzt von längeren Arbeitszeiten oder anstrengenderen Arbeiten als vor der Pandemie. Nur unter diesen erschwerten Bedingungen können sie noch etwas zum schwindenden Familieneinkommen beitragen.
Ein Werkzeug, das Kinder befähigt, ihre Ansichten einzubringen
Organisationen wie der Kindernothilfe stellt sich nun die Frage, wie eine Zunahme von ausbeuterischer Kinderarbeit verhindert werden kann. Die ILO fordert Altbewährtes: die Stärkung von sozialen Sicherungssystemen, das Schaffen von sicheren und fairen Arbeitsplätzen für Erwachsene und der Zugang für Kinder zu Bildung. Ja, das alles sind wichtige Maßnahmen. Doch was schlagen die jungen Betroffenen selbst vor?
Die meisten der von uns befragten Kinderarbeiter und -arbeiterinnen nannten einen Schutzmechanismus, der bisher nicht erwähnt wird. Sie berichten, dass die freie Zeit für eine intensivere Kommunikation mit ihrer Familie sorgt. Im Lockdown erleben sie, wie sie an Entscheidungen beteiligt werden: Dass sie ihre Meinung sagen dürfen bei Angelegenheiten, die sie betreffen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, wie sie ihre Familien unterstützen können, ohne ausgebeutet zu werden.
Gerade in Krisenzeiten ist Beteiligung und Mitsprache ein Werkzeug, das Kinder befähigt, ihre Ansichten einzubringen und „Nein“ zu sagen, wenn Entscheidungen potenzielle Gefahren für sie bergen. Was es jetzt braucht? Eine Ergänzung des Maßnahmenkatalogs der ILO. Wir müssen Kinder und Jugendliche befähigen, von ihren Beteiligungsrechten Gebrauch zu machen. In der Familie, der Schule und auch bei politischen Entscheidungen.
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