Bäuerinnen und Bauern in Südindien verbessern die Ernährung und die Umwelt: Sie ziehen Gräben, so dass Regenwasser den Grundwasserspiegel wieder anhebt.
Von verheerenden Dürren wird der Bundesstaat Telengana im südlichen Indien immer wieder heimgesucht. Bei der letzten Trockenheit im Jahr 2016 starben nach offiziellen Angaben 45 Menschen an den Folgen von Mangelernährung und Landflucht. Doch in einigen Dörfern der Distrikte Medak und Sangareddy nahe der Hauptstadt Hyderabad hat die Not ein Ende – dank einer nachhaltig geführten Landwirtschaft. Dort organisiert die Deccan Development Society (DDS) die arme Bevölkerung in dörflichen Vereinen (Sanghams). Viele Landlose, hauptsächlich Frauen, die der benachteiligten Bevölkerungsgruppe der Dalits angehören, können sich heute mit der nachhaltig geführten Landwirtschaft selbst versorgen. Sie pflanzen traditionelle Feldfrüchte wie Hirse und Hülsenfrüchte an, bauen gemeinschaftlich geführte Samenbanken auf und betreiben kleinbäuerliche Viehzucht.
„Jahrelang mussten wir als Schuldknechte für wohlhabende Landbesitzer schuften. Doch seitdem wir uns im Sangam zusammengeschlossen haben, können wir auf eigenen Füßen stehen“, erklärt die Bäuerin Elamanti Naganna in Yedakulapally, einem staubigen Dorf im Distrikt Sangareddy. Ihre Augen leuchten, als sie erklärt, wie sich ihr Leben verändert hat: „Im Verein erfuhren wir die Stärken der Gemeinschaft und begannen, ein wenig Geld zu sparen. Damit kauften wir Büffel, die uns neue Einnahmen bescheren.“ Während der Corona-Krise spendeten die Sanghams bislang rund 20.000 Kilogramm Getreide an Notleidende in ihrer Nachbarschaft.
Alles begann vor rund 35 Jahren mit einem Experiment: Eine kleine Gruppe von Wissenschaftlern und Intellektuellen aus Hyderabad hatte sich damals vorgenommen, die Armut der Menschen auf dem Lande zu lindern, ihnen ein Mindestmaß an Nahrungssicherheit zu gewähren und Zugang zu Bildung und sozialer Gerechtigkeit zu verschaffen, erinnert sich Peter Lanzet, der in den 1990er Jahren das Indienreferat einer großen deutschen Hilfsorganisation leitete. Jahrelang experimentierte die Gruppe mit effizienteren Methoden des Trockenlandbaus, baute gemeinsam mit den Armen dörfliche Entwicklungsvereine auf und tauschte sich mit progressiven Initiativen im ganzen Land aus. Von der Ökofeministin Vandana Shiva lernten sie beispielsweise, wie wichtig der Zugang zu Saatgut ist, und motivierten die Dorfbewohner, Samenbanken aufzubauen und auf genmanipuliertes Saatgut von Agrarkonzernen zu verzichten. „So wandte sich die DDS zusehens von der industriell dominierten Landwirtschaft ab und entwickelte an die Umwelt angepasste, nachhaltige Anbaumethoden“, sagt Lanzet.
Nachhaltigkeitsprüfung durch NGOs
Die Deccan Development Society verändert seither das Leben vieler Tausend Frauen und Männer in rund hundert dürregeplagten Dörfern Telenganas. Mit ihrer Arbeit hilft sie, gleich mehrere der UN-Ziele zur nachhaltigen Entwicklung umzusetzen: Ziel 1: Armutsbekämpfung, Ziel 2: Ernährungssicherung, Ziel 5: Gleichstellung von Frauen, Ziel 8: nachhaltiges Wirtschaften und Ziel 10: Minderung von Ungleichheiten. Die DDS zeigt beispielhaft, wie Organisationen der Zivilgesellschaft Initiativen zur nachhaltigen Entwicklung erprobt haben, lange bevor sich vor fünf Jahren die Staaten der Welt auf die 17 Nachhaltigkeitsziele verständigten. Peter Lanzet: „Organisationen der Zivilgesellschaft konnten bei Formulierung und Vereinbarung der UN-Nachhaltigkeitsziele ein gewichtiges Wort mitreden. NGO-Netzwerke aus Afrika, von den Philippinen, aus Großbritannien und den USA gaben dabei den Ton an, aber auch die NGO-Vertreter Indiens waren sehr aktiv.“
Heute führen sie dieses Engagement fort, etwa indem sie die Politik ihrer Regierungen auf Nachhaltigkeit prüfen und die Bevölkerung über die Medien für die Bedeutung einer zukunftsweisenden Entwicklung sensibilisieren. Die Debatte wird in erster Linie von landesweiten Netzwerken geführt, etwa von der Organisation Wada Na Todo Abhiyan (Haltet eure Versprechen), einem Zusammenschluss von 3500 sozialen Aktionsgruppen, Umweltschützern und Menschenrechtlern. Die NGO-Plattform VANI (Voluntary Action Network India) arbeitet dabei auch mit staatlichen Institutionen zusammen.
Harsh Jaitli, Direktor des Netzwerkes VANI, sagt: „Die UN-Nachhaltigkeitsziele verschaffen der Zivilgesellschaft eine neue Legitimation für ihre Arbeit, und das weltweit!“ Man habe jetzt mehr Gelegenheiten, mit Regierungen und Privatunternehmen zusammenzuarbeiten. Seine Organisation VANI berät etwa die Behörde Research and Information System, die für das Außenministerium Pläne für indische Entwicklungsprojekte in anderen Ländern konzipiert. „Dort treffen wir auf Anerkennung und eine gewisse Bereitschaft zur Kooperation.“
Allerdings, so Jaitli, werde die Arbeit von NGOs nicht überall wertgeschätzt: Zwar seien auf nationaler Ebene neue Plattformen für die Zusammenarbeit mit der Regierung entstanden. Ganz anders sehe es dagegen auf lokaler Ebene aus, wo die meisten NGOs arbeiten. „Sie stoßen immer wieder auf Ignoranz und Misstrauen, etwa wenn sie gegenüber einer Distriktverwaltung auf nachhaltige Entwicklungsziele drängen“, sagt Jaitli. „Viele Beamte hegen nach wie vor starke Vorbehalte gegen NGOs und betrachten diese als Störenfriede, weil sie sich für benachteiligte Bevölkerungsgruppen einsetzen und für Umweltschutz und Menschenrechte engagieren.“
Müllsammlerinnen sorgen für Recycling
Mindestens fünf Millionen Menschen leben in Indien vom Sammeln und Sortieren von Abfällen, vor allem Frauen und fast ausschließlich Dalits. Sie leben in Slumsiedlungen und kennen weder Gesundheitsschutz noch Altersversorgung. In der westindischen Industriestadt Pune begann die College-Dozentin Lakshmi Narayan schon in den 1990er Jahren, Müllsammlerinnen gewerkschaftlich zu organisieren und ihnen so ein besseres Einkommen zu sichern. Nach mehr als zehn Jahren des politischen Kampfes, zahlreichen Sitzblockaden und Demos gelang es ihr, die Stadtverwaltung davon zu überzeugen, die Frauen mit der Entsorgung von Haushaltsmüll zu betrauen.
Autor
Rainer Hörig
war dreißig Jahre lang als freier Korrespondent für deutsche Medien in der indischen Industriestadt Pune tätig und dann Redakteur der deutsch-indischen Zeitschrift „Meine Welt“. Rainer Hörig ist im Mai 2024 verstorben.Immerhin, die Mitarbeiterinnen der SWACH-Kooperative konnten sich aus der Armut befreien und soziales Ansehen gewinnen. Sie dienen der Allgemeinheit, indem sie die Stadt sauber halten. Sie tragen zum Klimaschutz bei, denn sie sparen der Stadt den Transport großer Mengen Abfall zu einer Müllkippe außerhalb der Stadt. Und sie nützen der Umwelt, indem sie täglich viele Tonnen von Wertstoffen einer Wiederverwertung zuführen. Was mit dem Kampf gegen Hunger und Armut begann, dient also auch der Stadt und dem Land bei der Erfüllung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Aber auch die Müllsammlerinnen kämpfen viel länger für bessere Arbeitsbedingungen und gesicherte Lebensumstände, als die UN-Ziele alt sind.
Die UN-Mitgliedstaaten müssen regelmäßig über Fortschritte bei der Umsetzung der Ziele berichten. Die indische Regierung legte im Dezember 2019 ihre jüngste Bilanz vor. Darin ist von Fortschritten bei der Wasserversorgung und bei sanitären Anlagen (Ziel 6), der Energieversorgung (Ziel 7) und der industriellen Entwicklung (Ziel 9) die Rede. Defizitär seien weiterhin vor allem die Ziele 2 (Ernährungssicherung) und Ziel 5 (Geschlechtergleichheit), so der Bericht der zuständigen Behörde. Schon in einem Bericht aus dem Jahr 2017 erinnerte die NGO-Koalition Wada Na Todo Abhiyan daran, dass Indien die größte Zahl armer Menschen unter allen Staaten der Welt beheimate, und mahnte eine drastische Erhöhung von Mitteln für soziale Maßnahmen wie Ernährungssicherung, Bildung und Gesundheit an. Zur Verringerung von Armut gehöre auch, die Rechte benachteiligter Gruppen zu stärken und die Umwelt und natürliche Ressourcen zu schützen.
Aus Sicht der Zivilgesellschaft beeinflussen die UN-Nachhaltigkeitsziele die indische Entwicklungspolitik nur wenig. Das liegt vielleicht auch daran, dass die 17 Ziele lediglich als Leitlinien gelten und keinerlei Verpflichtung enthalten. Untätigkeit oder Misserfolg können weder sanktioniert noch bestraft werden. Sind die Nachhaltigkeitsziele also kaum mehr als Papiertiger? Harsh Jaitli von VANI scheint das so zu sehen: „Die meisten Regierungen, auch die indische, verkaufen ihre Wohlfahrtsprogramme als Mittel zum Erreichen der Nachhaltigkeitsziele.“ Jene Ziele, die sich mit den ohnehin beschlossenen Regierungsmaßnahmen decken, würden als besonders wichtig herausgestellt. In Indien zählen dazu die Regierungsprogramme für Gesundheitsfürsorge, für Bildung und sanitäre Einrichtungen. „Aber die Nachhaltigkeitsziele, die für Bürgergruppen mehr Beteiligung am Entwicklungsprozess fordern, finden kaum Beachtung.“ Und der Schutz des Klimas erschöpfe sich fast ganz im Ausbau erneuerbarer Energiequellen. „Es gibt auch keine zusätzlichen Mittel für Projekte von NGOs“, kritisiert Jaitli.
Da VANI in einigen Bereichen mit staatlichen Stellen zusammenarbeitet, wagt Harsh Jaitli nur vorsichtige Kritik an der Regierungspolitik. Der pensionierte NGO-Berater Peter Lanzet wird deutlicher: „Vor rund zehn Jahren begann die indische Regierung, den Spielraum von zivilgesellschaftlichen Organisationen einzuengen.“ Er habe den Eindruck, dass das öffentliche Engagement für Umweltschutz und Menschenrechte, für die Interessen benachteiligter Bevölkerungsgruppen wie Dalits und Adivasi in Indien stark zurückgegangen ist. Außerdem nutze die Regierung ein Gesetz zur Kontrolle von finanziellen Zuwendungen aus dem Ausland, um NGOs das Leben schwer zu machen: „NGOs riskieren drakonische Strafen, wenn sie die Arbeit der Regierungsarbeit kritisieren“, meint Lanzet.
In der NGO-Gemeinde stoßen die UN-Nachhaltigkeitsziele keineswegs auf ungeteilte Zustimmung. Der Umweltschützer Ashish Kothari etwa zweifelt an ihrer Wirksamkeit. Kothari gehört zu den Initiatoren des NGO-Netzwerkes Vikalp Sangam (Zusammenfluss von Alternativen), das Alternativen zum herrschenden Entwicklungsparadigma entwickelt und erprobt. Sowohl die Entwicklungsorganisation DDS als auch die Müllsammlerkooperative SWACH arbeiten in diesem Kreis mit.
Ashish Kothari meint: „Leider werden die Nachhaltigkeitsziele die Welt kaum auf den Pfad ökologischer Nachhaltigkeit führen, ebensowenig die Armut ausmerzen oder soziale Ungleichheiten beseitigen. Einer der Hauptgründe dafür ist der störrische Glaube daran, dass Armut und Ungleichheit allein durch wirtschaftliches Wachstum überwunden werden können“, meint er. „Was Menschen auf unserer Erde im Namen von Fortschritt und Wachstum anrichten, überschreitet die Grenzen dessen, was dieser Planet tragen kann.“ Der Überkonsum führe zu alarmierend hohem Artensterben und zum Klimawandel. Die Welt brauche dringend „eine radikale Umverteilung von ökonomischem Vermögen und von politischer Macht“, sagt Kothari.
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