Mexiko steuert die Vergangenheit an

Reuters/Daniel Becerril

Ein Tanklaster des mexikanischen Ölkonzerns Pemex. Der Bau einer Raffinerie soll nun die Firma retten, die seit Jahren rote Zahlen schreibt.

Nachhaltigkeitsziele
Mexikos Präsident López Obrador fährt trotz Corona-Krise einen strikten Sparkurs – außer für seine persönlichen Lieblingsprojekte. Das konterkariert die UN-Nachhaltigkeitsziele und untergräbt die demokratische Kontrolle seiner Politik.

Die Küste des mexikanischen Bundesstaates Tabasco ist ein Naturparadies: In den Lagunen nisten Seevögel, in den Mangroven fangen Fischer Krebse, in den subtropischen Wäldern tummeln sich Brüllaffen und Tukane. El Paraíso heißt eines der Dörfer der Region, eingeklemmt zwischen dem Atlantik und mehreren Naturschutzgebieten. Mit der paradiesischen Beschaulichkeit ist es dort allerdings seit einem Jahr vorbei. 

Denn in unmittelbarer Nähe soll eine neue Raffinerie entstehen – sie ist Bestandteil des Investitionsplans von Präsident Andrés Manuel López Obrador, kurz genannt AMLO. Der wurde keine 100 Kilometer von hier geboren, im Herzen der Erdöl-Hochburg Mexikos. Die Transformation zum Petrostaat gehört zu den großen Nationalepen, seit 1971 der Fischer Rudesindo Cantarell im Meer vor Tabasco einen seltsamen schwarzen Fleck entdeckte, der sich als Goldgrube für den staatlichen Ölkonzern Pemex herausstellte. 

Diese glorreiche Vergangenheit ist zwar lange vorbei, denn inzwischen trägt Öl nur noch knapp 20 Prozent der Haushaltseinnahmen bei, Mitte der 1980er Jahre waren es noch 45 Prozent. Aber die Vergangenheit ist weiter der politische Horizont López Obradors. Der Niedergang seines Landes begann aus seiner Sicht mit der neoliberalen Öffnung in den 1990er-Jahren und beschleunigte sich unter seinem Vorgänger Enrique Peña Nieto, der Pemex Allianzen mit privaten Investoren erlaubte. Die Zentralisierung und eine starke Rolle des Staates sind deshalb AMLOS wichtigste Anliegen. Sein wachstumskritischer Diskurs, der die Armutsbekämpfung ins Zentrum des politischen Handelns rückt, geht zwar konform mit den UN-Nachhaltigkeitszielen. Doch in der Praxis weicht seine Vorstellung von Entwicklung und guter Regierungsführung deutlich von dem ab, was die internationale Gemeinschaft darunter versteht. Etwa bei der Ölraffinerie nahe El Paraíso.

Kaum hatte er sein Amt im Dezember 2018 angetreten, holzten erste Baufirmen Mangroven rund um den Ort ab. Eine Umweltverträglichkeitsprüfung lag zu dem Zeitpunkt ebensowenig vor wie ein vom Kongress genehmigter Haushalt. Die Raffinerie ist Teil des Plans zur Rettung von Pemex, das seit Jahren rote Zahlen schreibt. Gleichzeitig sollen im armen Süden Mexikos Arbeitsplätze geschaffen und das Land bei seiner Energieversorgung wieder unabhängig von den USA werden. Der nostalgische Diskurs findet Zustimmung bei großen Teilen der Bevölkerung. 

Wird die Rezession nun zum Abgrund?

Kritikern hingegen wird flau im Magen. Und das nicht nur wegen der veranschlagten acht Milliarden US-Dollar Kosten. Schließlich war Mexiko schon vor der Corona-Krise in eine leichte Rezession gerutscht, die nun zu einem Abgrund werden könnte. Der Bau der Raffinerie geht einher mit einer Zentralisierung der Energieversorgung beim staatlichen Energieversorger (CFE), der auf Heizkraftwerke setzt, um damit die Schwerölproduktion von Pemex zu stützen. Gleichzeitig sollen die steuerlichen Vergünstigungen und Investitionsanreize für erneuerbare Energien gestrichen werden. Dabei hatte Mexiko dank eines Gesetzes aus dem Jahr 2013, das den Ausbau erneuerbarer Energien an private Anbieter auslagert und ihnen Abnahmegarantien gibt, einen enormen Sprung nach vorne gemacht: In diesem Jahr stammen bereits 24 Prozent des Stroms aus den erneuerbaren Quellen Sonne, Wind und Wasser; die jährliche Zuwachsrate betrug zuletzt 4,5 Prozent. 

Außerdem hat López Obrador den Verkauf von schmutzigem schwefelhaltigem Diesel von Pemex um fünf Jahre bis 2024 verlängert. Bürger- und Umweltschutzorganisationen, vereint im Bürgerobservatorium für Luftqualität (OCCA), hatten von der Vorgängerregierung ein Verkaufsverbot dafür erreicht, das Ende 2019 in Kraft treten sollte. „Durch Luftverschmutzung sterben jedes Jahr 42.000 Menschen in Mexiko, und die Dieselpartikel haben daran einen großen Anteil“, kritisiert OCCA. Auf sauberere Luft müssen nun vor allem Stadtbewohner länger warten. Mexiko entfernt sich damit aufgrund der präsidialen Fixierung auf die Kohlenstoffwirtschaft zunehmend von den UN-Nachhaltigkeitszielen zu Gesundheit, bezahlbarer, sauberer Energie sowie Klima- und Umweltschutz.

Die Bekämpfung der Armut und die Verringerung der sozialen Ungleichheit, beides ebenfalls UN-Ziele, waren López Obradors wichtigste Wahlkampfversprechen. Einige Aktionen wie die von ihm aufgelegten direkten Transferzahlungen für Rentner und Stipendien für arbeitslose Jugendliche sehen zwar auf dem Papier gut aus und stärken seine soziale Basis. Doch sie sind niedrig dotiert (150 Euro im Monat), die Vergabe ist intransparent, zentralisiert und politisch motiviert. Die strukturelle Ungerechtigkeit wird damit nicht bekämpft, sondern lediglich populistisch kaschiert. 

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.
Als wirksamer könnte sich eine Maßnahme erweisen, die ausgerechnet dem Freihandelspartner USA zu verdanken ist. Dort hatten US-Präsident Donald Trump und die Demokraten im Kongress die Lohnangleichung zwischen beiden Ländern ins neue Handelsabkommen T-Mec, dass das alte NAFTA-Abkommen ersetzt, schreiben lassen. Demnach müssen in spätestens sieben Jahren 40 Prozent der Komponenten eines im Freihandelsgebiet verkauften Fahrzeuges aus Standorten stammen, bei denen die Arbeiter mindestens 16 US-Dollar pro Stunde verdienen – achtmal mehr als derzeit in Mexiko üblich. Davon könnten eine Million mexikanische Arbeiter der für den Export wichtigen Automobilbranche profitieren – sofern Trumps Rechnung nicht aufgeht, dass die Firmen ihre Produktion ohne diesen Lohnvorteil in die USA zurückverlagern. 

Das nutzte López Obrador geschickt, um den Arbeitgeberverbänden eine allgemeine Erhöhung des Mindestlohns um 20 Prozent abzuringen. Der bleibt allerdings mit 150 Euro im Monat weiterhin einer der niedrigsten in Lateinamerika. Laut dem nationalen Statistikinstitut (Inegi) verdient die Hälfte der Mexikaner zwischen ein und zwei Mindestlöhnen. Um die monatliche Essensration für eine Person zu kaufen (die sogenannte Canasta básica, die aus Milch, Brot, Getreide und Hülsenfrüchten, Reis, Eiern, Käse, Fleisch, Obst und Gemüse besteht), geht Erhebungen zufolge die Hälfte eines Mindestlohnes drauf. 

Diese kleinen Fortschritte im sozialen Bereich drohen allerdings von der Corona-Krise zunichte gemacht zu werden. Bis Mai verloren laut Sozialversicherung 700.000 Menschen ihren festen Arbeitsplatz. Sie werden nun in den informellen Sektor abgleiten, also in rechtlich nicht abgesicherte Gelegenheitsjobs. Auch die Armut dürfte in die Höhe schnellen: Die staatliche Agentur Coneval rechnet mit sechs bis zehn Millionen neuen Armen. 

Brutales Sparprogramm der Regierung

Doch Rettungsprogramme oder Stützkredite für Kleinunternehmer fallen in Mexiko sehr viel kleiner aus als anderswo. „Diese Regierung führt zwar die soziale Gerechtigkeit auf den Lippen, hat aber ein brutales Sparprogramm aufgelegt, von dem sie nicht abrückt“, sagt Mariana Campos, Haushaltsexpertin der nichtstaatlichen Organisation Mexico Evalua. Die Auswirkung der von López Obrador gepriesenen „republikanischen Austerität“ spüren die Mexikaner jetzt in der Corona-Krise. Der Investitionshaushalt im Gesundheitswesen beispielsweise war schon vor Corona um 65 Prozent zusammengestrichen worden. Dabei wendet Mexiko ohnehin nur 2,4 Prozent seines Wirtschaftsaufkommens für Gesundheit auf – in Chile ist es doppelt so viel. Das ursprünglich dezentrale staatliche Beschaffungswesen im Gesundheitsbereich wurde wegen grassierender Korruption zentralisiert – allerdings so stümperhaft, dass mehr als die Hälfte der Ausschreibungen nicht weiter bearbeitet wurden. Deshalb gab es beim Ausbruch des Coronavirus weder genügend Schutzkleidung noch Beatmungsgeräte. 

Der Rotstift wurde auch bei den Ausgaben für Bildung angesetzt und bei den Sozialprogrammen, deren Umsetzung an nichtstaatliche Organisationen ausgelagert wurde, etwa an Kinderkrippen, Flüchtlingsbetreuung oder Frauenhäuser. Viele dieser Institutionen stürzten nach der Kürzung ihrer staatlichen Zuschüsse um die Hälfte von einem Tag auf den anderen in die Insolvenz; viele mussten schließen, sich verkleinern oder von den Nutzern Geld verlangen. „Diese Institutionen haben nachweislich eine gute Arbeit geleistet, auch bei der Gewaltprävention“, bedauert Campos. Diese liegt López Obrador zwar rhetorisch am Herzen, genauso wie ein Ende des Drogenkrieges, doch de facto hat er die Rolle der Armee in der öffentlichen Sicherheit noch gestärkt und sie zunehmend von der zivilen gerichtlichen Verantwortung, etwa für Menschenrechtsverletzungen, befreit.

Die Gewaltspirale dreht sich schneller als je zuvor

Die Zahl der Morde nimmt zu, die Gewaltspirale dreht sich seit seinem Amtsantritt schneller als je zuvor und entfernt Mexiko immer weiter von UN-Nachhaltigkeitsziel Nummer 16 (Frieden, Justiz und starke Institutionen). Die Kürzungen für die NGOs begründet López Obrador mit Korruption. Campos hält das allerdings für einen Vorwand. Es gebe einige wenige schwarze Schafe, doch alle NGOs würden regelmäßig von den Behörden mit klaren Kriterien evaluiert. „Dank der Kinderkrippen konnten 90 Prozent der alleinerziehenden Mütter einen besseren Job bekommen. Ohne sie wird sich die soziale Kluft vertiefen“, warnt sie. López Obrador findet hingegen, dass Kleinkinder besser von den Großeltern betreut werden. Frauenrechtsbewegungen hält er für einen Ableger der bürgerlichen Opposition. Die Nachhaltigkeitsziele 4 und 5 für gute Bildung und Gleichberechtigung sind mit solchen Ansichten und Maßnahmen schwer zu erreichen. 

Fachleute kritisieren außerdem, dass es seit López Obrador überhaupt keine staatliche Rahmenplanung mehr gibt. Der mittelfristig angelegte „Plan der Nation“, an dem neben dem Finanzministerium auch internationale Geldgeber wie die Weltbank oder das UN-Entwicklungsprogramm UNDP mitarbeiten und der anschließend dem Kongress zur Abstimmung vorgelegt wird, missfiel López Obrador. Er schrieb daraufhin seinen eigenen Plan – ein „politisches Manifest ohne jegliche fachliche Kriterien“, sagen Wirtschaftsfachleute, die nicht namentlich genannt werden wollen. Der Streit darüber führte zum Rücktritt seines Finanzministers Carlos Urzúa.

Die Abwesenheit von Planung, Kontrolle und transparenten Kriterien erhöht die Gefahr für Willkür und Missbrauch. Zumal es in Mexiko dafür Schlupflöcher gibt, die Haushaltsexpertin Campos schon lange anprangert. Artikel 58 des Haushaltsgesetzes erlaube es der Exekutive zum Beispiel, vom Parlament bewilligte Ausgaben einfach umzuwidmen. Die Budgetkompetenz des Parlaments werde damit Makulatur. Ihre schleichende Entmachtung ließen sich die Parlamentarier bereits im Jahr 2006 teuer bezahlen, mit einem Fonds für „Sonderzuwendungen“, den Abgeordnete und Gouverneure anzapfen und nach eigenem Gutdünken verwenden können. Ein Fass ohne Boden, hat der mexikanische Rechnungshof festgestellt: Die Vorgängerregierung hatte unter der Rubrik Sonderzuwendungen 153 Millionen Euro vorgesehen, doch immer wieder aufgestockt, wenn sie die Zustimmung zu wichtigen Gesetzesvorhaben „erkaufen“ musste. Ausgegeben wurde letztlich zehnmal mehr. „Das ist grotesk, aber das Oberste Gericht hat sich bis heute nicht zu dem Thema geäußert“, kritisiert Campos. Offenbar ist das ein politisch sehr heißes Eisen, das besser in der Schublade bleibt. 

Derzeit deutet alles darauf hin, dass die schwindenden Haushaltseinnahmen vor allem in teure, intransparente, umwelt- und finanzpolitisch fragwürdige Lieblingsprojekte des Präsidenten fließen werden – darunter nicht nur die Raffinerie bei El Paraíso, sondern auch ein neuer Hauptstadtflughafen und eine 900 Kilometer lange Bahnstrecke auf der Halbinsel Yucatán, die Touristen anlocken soll. „Wir sind im Rückwärtsgang“, bilanziert Campos.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2020: Der Plan für die Zukunft?
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