Der Bleistift verhilft zu einem neuen Leben

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Danilo Ramos

Diana da Costa Andrade (links) hat sich einen Traum erfüllt und Lesen gelernt. Ihre Lehrerin Jucileide Soares ist stolz auf sie.

Alphabetisierungsprogramm
Im brasilianischen Bundesstaat Maranhão gibt es besonders viele Analphabeten. Doch mit einer aus Kuba stammenden Methode haben dort mehr als 20.000 Erwachsene, darunter viele Indigene, Lesen und Schreiben gelernt.

Diana da Costa Andrade hat ihren ersten Brief geschrieben – mit 36 Jahren. Während die Sonne im brasilianischen Bundesstaat Maranhão vom Himmel brannte, saß die Hausfrau vor einem leeren Papier, ließ den Stift darüber gleiten und schrieb: „Meine liebe Lehrerin. Ich schreibe, um dir zu danken. Durch deine Hilfe ist mein Traum, Lesen und Schreiben zu lernen, in Erfüllung gegangen.“

Die Lehrerin Jucileide Soares hielt später den Brief in Händen. Um ihr Gehalt aufzubessern, hatte sie den fordernden Nebenjob angenommen, Diana und 14 weitere Erwachsene nach der Alphabetisierungsmethode „Si yo puedo“ (Ja, ich kann es!) zu unterrichten. Die meisten hatten noch nie in ihrem Leben eine Schule besucht. Das Klassenzimmer improvisierte Soares bei sich zu Hause, indem sie Fotos an der Wand gegen eine Tafel austauschte. „Wir haben uns jeden Abend zum Unterricht getroffen. Keiner ließ auch nur einen Tag aus, und ich habe mein Bestes gegeben. Heute bin ich sehr stolz auf die Fortschritte, die sie beim Lesen und Schreiben gemacht haben“, sagt sie.

Auf Initiative der regionalen Regierung sind seit 2016 viele solcher Lerngruppen in den 30 Gemeinden mit dem niedrigsten Index der menschlichen Entwicklung (HDI) in Maranhão entstanden: in Schulen und Privathäusern, Kirchenhallen und Lehmhütten. Ziel ist es, alle zu alphabetisieren, die 15 Jahre und älter sind. Laut der Nationalen Haushaltsbefragung von 2017 hat Maranhão insgesamt 851.000 Einwohner in dieser Altersgruppe, davon sind 16,7 Prozent Analphabeten. Das ist die zweithöchste Rate des Landes, nur im Bundesstaat Alagoas liegt sie höher (18,2 Prozent). In den ärmsten Gemeinden wie Itaipava do Grajaú, wo Jucileide und Diana leben, ist die Lage noch alarmierender: Laut einer Volkszählung aus dem Jahr 2010 können 34 Prozent der Erwachsenen dort mit Buchstaben nichts anfangen.

Das gewählte Alphabetisierungsprogramm stammt aus Kuba. Es wurde dort in den 1990er Jahren entwickelt und seither in viele Länder in Lateinamerika und Afrika, aber auch nach Kanada, Australien, Neuseeland und Spanien exportiert. Die Lehrmethode wurde für Englisch, Französisch und Portugiesisch adaptiert sowie für indigene Sprachen wie Quechua, Aymara und Suaheli.

„Si yo puedo“ verspricht die Alphabetisierung Erwachsener innerhalb von drei Monaten; in Maranhão wurde das Programm auf acht Monate ausgeweitet. In den ersten vier Monaten liegt der Schwerpunkt auf dem Lesen und Schreiben. In der zweiten Hälfte beschäftigen sich die Kursteilnehmer mit Themen wie Kultur und Identität, Land und Staatsgebiet, Arbeit, Demokratie und Bürgerrechten.

„Die Lehrmethode geht davon aus, dass selbst Erwachsene, die des Lesens nicht mächtig sind, etwas mit Zahlen anfangen können. Daher arbeiten wir mit einem System, in dem jeder Buchstabe eine Nummer repräsentiert“, erklärt Lizandra Guedes von der Landarbeiterbewegung „Landless Workers Movement“ (MST), die „Ja, ich kann es!“ als Partnerorganisation der Regierung umsetzt. Seit 2006 hat die Bewegung Landarbeiterinnen und Landarbeiter in mindestens sechs brasilianischen Staaten alphabetisiert, vor allem in Maranhão.

In Brasilien gilt seit 1971 eine allgemeine Schulpflicht für Kinder zwischen 7 bis 14 Jahren, die allen acht Grundschuljahre garantieren soll und 2016 auf Kinder zwischen 4 und 17 Jahren ausgeweitet wurde. Dennoch gehen fast zwei Millionen Kinder in dieser Altersgruppe nicht zur Schule, besonders in ärmeren Gemeinden und ländlichen Gegenden. In Dörfern der indigenen Bevölkerung kommen Schulabbruch und aufgeschobene Einschulungen besonders häufig vor.

In die Erwachsenenbildung fließt kaum Geld

Während Brasilien sich bemüht, die Zahl der Schulkinder zu erhöhen, fließt in die Erwachsenenbildung nur ein minimaler Prozentsatz der Investitionen. Landesweit sind 6,8 Prozent der Erwachsenen ab 15 Jahren Analphabeten. Das sind 11,3 Millionen Menschen.

„Grund für die hohe Analphabetenrate unter Erwachsenen ist die soziale Ungleichheit im Land. Es ist eher ein gesellschaftliches als ein Bildungsproblem. Daher muss es durch politische Strategien gelöst werden, die den Menschen Würde, Gesundheit und Arbeit garantieren“, erklärt Roberto Catelli, Experte für Jugend- und Erwachsenenbildung und Exekutivkoordinator der nichtstaatlichen Organisation Ação Educativa.

Auch im Dorf São Benedito dos Colocados in der ländlichen Region Santa Filomena ist für viele nach einem Arbeitstag auf der Farm oder dem Knacken von Kokosnüssen der Babassu-Palme noch nicht Schluss: Nach Sonnenuntergang sieht man Dutzende Erwachsene durch die engen, staubigen, schlecht beleuchteten Straßen eilen, auf dem Weg in improvisierte Klassenzimmer, in der Hoffnung, Lesen und Schreiben zu lernen.

Autorin

Sarah Fernandes

ist Journalistin und Geografin in Brasilien. Sie berichtet über Menschenrechte und entwicklungspolitische Themen in Lateinamerika und Asien.
Fast 32 Prozent der Einwohner der Gemeinde sind Analphabeten. „Ich habe von klein an gearbeitet. Ich konnte nicht zur Schule“, erzählt die 57-jährige Rentnerin Maria Osmalinda dos Santos. „Dabei wollte ich immer lernen, mit meinem Namen zu unterschreiben. Ich habe sogar Geld von meinem Verdienst fürs Babassu-Knacken zurückgelegt, um einen Lehrer zu bezahlen. Aber ich konnte es mir nicht leisten.“ Erst mit „Ja, ich kann es!“ habe sich das geändert. „Ich weiß, ich muss weiter üben, aber ich kenne jetzt schon das komplette Alphabet. Hätte ich all das früher gewusst, wäre ich ein völlig anderer Mensch“, meint die Rentnerin.

Täglich zwei Stunden Unterricht stehen auf dem Programm. Am Anfang schauen die Schüler eine Videolektion in Soap-Opera-Format, in der die Schauspieler die Arbeit in einem Klassenzimmer mit erwachsenen Schülern mimen. Im Anschluss werden die Inhalte vertieft und wird mit Hilfe eines Lehrbuchs Schreiben geübt.

Seit dem Programmstart vor drei Jahren haben mehr als 20.000 Erwachsene in Maranhão die Chance genutzt, Lesen und Schreiben zu lernen. Weitere 3000 kommen dieses Jahr dazu, wenn in der neuen Projektrunde ab November in der Hauptstadt São Luís und der Gemeinde Imperatriz  neue Kurse starten. Die 28-jährige Lehrerin Erinalda Januário hatte vorher keine Erfahrung in der Erwachsenenbildung: „Als ich den Job annahm, machte ich mir Gedanken: Was kann ich Leuten beibringen, die so viel mehr Lebenserfahrung haben als ich? Heute weiß ich, dass es unterschiedliche Arten von Wissen gibt. Aber ich habe definitiv mehr gelernt, als ich gelehrt habe.“ Vielen ihrer Schüler fehle das Selbstvertrauen in ihre Lernfähigkeit. „Es hat viel Überredungskunst gekostet, dafür zu sorgen, dass sie nicht aufgeben“, erzählt die junge Frau. „Ich hatte Schüler, die nicht wussten, mit welchem Buchstaben ihr Name beginnt. Heute sind sie in der Lage,  kurze Mitteilungen zu schreiben.“  

So wie die Rentnerin Luziana Carvalho de Souza. Stolz erinnert sie sich an den Tag, an dem sie kurzfristig aus dem Haus musste. Sie ließ ihrer Tochter einen Zettel da, auf dem stand, wo sie war. „Meine Tochter war beeindruckt und sehr froh, als sie ihn fand.“ Sie war nie in der Schule. „Heute weiß ich, dass Lernen das Beste auf der Welt ist“, sagt die Kursteilnehmerin, die trotz ernster Rückenprobleme immer zum Unterricht gegangen ist.

„Kompletter Analphabetismus ist häufiger bei den über 40-Jährigen und bei Leuten, die im Nordosten und Norden Brasiliens oder in den großen Städten wie Rio de Janeiro und Salvador leben. Besonders stark betroffen sind die Ärmsten, die schwarze Bevölkerung und die Kinder von Leuten, die selbst Analphabeten sind“, erklärt der Bildungsexperte Catelli.

Noch schwieriger gestaltet sich das Lernen für die mehr als tausend Mitglieder der indigenen Volksgruppe der Guajajara, die im Bundesstaat Maranhão in den Orten Jenipapo dos Vieiras und Itaipava do Grajaú im brasilianischen Regenwald leben und an den „Ja, ich kann es!“-Kursen teilnehmen. Ihre Muttersprache Guajajara wird bisher nicht einmal in der Regelschule gelehrt. Auch beim „Ja, ich kann es!“-Programm ist die Lehrsprache Portugiesisch.

Die brasilianischen Ureinwohner sprechen 150 Sprachen

Fast 900.000 Ureinwohner gibt es in Brasilien. Sie gehören 255 ethnischen Gruppen an und sprechen mindestens 150 verschiedene Sprachen. Die meisten von ihnen leben in Schutzgebieten. Auch wenn sie sich einige Rechte erkämpft haben, herrschen in vielen Dörfern große Armut und Konflikte um Land, vor allem mit Farmern und Minenarbeitern.

„Ich war wie ein blinder Mann – immer auf die Hilfe von anderen angewiesen“, beschreibt der 51-jährige Farmer José Ribeiro de Souza sein Gefühl. Der Einwohner des indigenen Dorfes Juruá im Bezirk Itaipava do Grajaú ist das älteste von 17 Geschwistern. Auch er musste früh die Schule abbrechen, um seinem Vater bei der Farmarbeit zu helfen. „Wenn ich in die Stadt gefahren bin, wusste ich nicht, wo die Bank ist, welchen Bus ich nehmen soll oder wohin ich gehen muss. Das kann ich jetzt alles machen. Bildung ist alles“, sagt er stolz und ergänzt, dass er es geschafft hat, seinen Sohn Lehrer werden zu lassen.

Der 51-jährige Lorival Cadete Guajajara ist als Kind für kurze Zeit in die Schule gegangen. Aber wegen eines Sprachfehlers fiel ihm das Lernen schwer. Im Winter wurde die Straße häufig durch heftigen Regen unpassierbar, so dass die Lehrer das Dorf nicht erreichen konnten. Entmutigt hörte er mit der Schule auf, bevor er Lesen und Schreiben gelernt hatte. „Heute bin ich immer mit meiner Frau zum Unterricht gegangen. Sie ist 70 und hat im Kurs zum ersten Mal einen Stift in die Hand genommen.“

Die Lehrerin Ilzabete dos Santos Souza legt jeden Tag sieben Kilometer mit dem Motorrad über eine Staubstraße zurück, um Indigene zu unterrichten: „Viele müssen noch immer die Angst überwinden, etwas mit dem ‚caraí‘ (weißen Mann) zu tun zu haben“, erzählt sie. „Es war ein harter Kampf. Am Anfang musste ich jedem Einzelnen beim Schreiben einzelner Buchstaben die Hand führen.“

Ein großes Plus des Alphabetisierungsprogramms ist, dass es ganze Gemeinden mobilisiert, sagt Roberto Catelli. „Alphabetisierung bringt ganz klare persönliche Vorteile, und wenn es nur ist, dass man seinen Namen schreiben oder einen Busfahrplan lesen kann.“ Aber dabei dürfe es nicht bleiben, warnt er: „Erwachsenenalphabetisierung ist viel mehr als das. Die Frage ist, wie politisch dafür gesorgt werden kann, dass die Menschen auch weitermachen und wirklich zu voller Alphabetisierung gelangen. Etwa sollte über die Einrichtung von Bibliotheken vor Ort, Weiterbildungskurse und öffentliche Lesezirkel nachgedacht werden.“

Aus dem Englischen von Carola Torti.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2019: Ab in die Steueroase
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