Buddhismus à la carte

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Achtsamkeit
Meditieren, Klangschalen und Achtsamkeitstrainings: Aus dem Buddhismus entlehnte Rituale und Symbole sind hierzulande beliebt. Dafür haben Europäer gesorgt, die passende Elemente dieser Religion ausgewählt und in ihrer Heimat propagiert haben.

Zwei Männer und vier Frauen sind an dem sonnigen Donnerstagabend Anfang Juli ins Meditationszentrum im Frankfurter Nordend gekommen. Die meisten sind zum ersten Mal da. Thomas, 62, Grafiker, grauer Bart und wache Augen, gibt ihnen im Nebenraum einen Crashkurs in Sachen Shamata-Meditation. Er  erklärt die richtige Sitzposition und Atemtechnik. Und er rät den Neulingen, dass sie ihre vorbeiziehenden Gedanken aus der Distanz beobachten sollen. Im Meditationsraum steigt der Duft von Räucherstäbchen in die Nase. Auf dem Boden liegen dunkelblaue, viereckige Sitzkissen. Links neben dem kleinen roten Altar sitzt Gisel, die Lebensgefährtin von Thomas. Sie leitet heute die Sitzung.

Shamata ist eine buddhistische Meditationstechnik, die sich in etwa mit „friedvolles Verweilen“ übersetzen lässt. Sitz- und Gehmeditation wechseln sich ab: 25 Minuten aufrechtes Sitzen, auf die Atmung achten, fünf Minuten gehen, die Hände ineinanderlegen, eineinhalb Stunden dauert der offene Meditationsabend. Vor jedem Wechsel zwischen Sitzen und Gehen schlägt Gisel mit einem Holzklöppel gegen die Klangschale.

Thomas meditiert seit 20 Jahren, seit 15 Jahren leitet er Sitzungen an. Er ist in einem evangelischen Elternhaus aufgewachsen, wurde konfirmiert. „Mit Konstruktionen wie Gott konnte ich nie etwas anfangen“, sagt er. Bei der Frage, ob er Buddhist ist, muss Thomas kurz überlegen. Dann sagt er: „Das buddhistische Zufluchtsritual habe ich nie abgelegt.“ Durch die Zufluchtnahme bekennt man sich zum Buddha und seiner Lehre. Doch Buddhismus ist für ihn trotzdem mehr als einmal die Woche meditieren. Er lese Texte buddhistischer Lehrer und beschäftige sich im Alltag damit, sagt Thomas.

Die Deutsche Buddhistische Union (DBU), der Dachverband der buddhistischen Gemeinschaften in Deutschland, schätzt die Zahl der hier lebenden Buddhisten auf 250.000. Der DBU gehören derzeit 63 Gemeinschaften der verschiedenen buddhistischen Traditionen an. Zum Vergleich: Trotz steigender Austrittszahlen bringen es die beiden Volkskirchen auf rund 44 Millionen Mitglieder.

Buddhistische Rituale: weit verbreitet

Doch Zahlen sind in diesem Fall zweitranging: Die Verbreitung des Buddhismus lässt sich nur schwer beziffern. Obwohl hierzulande nur wenige Buddhisten lebten, seien buddhistische Rituale wie die Meditation weit verbreitet, sagt Martin Baumann. Der Religionswissenschaftler forscht an der Universität Luzern zum Buddhismus in Europa und den USA. „Es gibt viele, die den Buddhismus  ganz allgemein gut finden und den Dalai Lama bewundern“, sagt Baumann. Er habe einen „hochgradig positiven Ruf“ und werde im Gegensatz zu anderen Religionen als friedlich wahrgenommen. Häufig werde der Buddhismus außerhalb seiner Ursprungsländer auch als „sehr trendy“ bezeichnet.

Autor

Moritz Elliesen

ist Online-Redakteur bei "welt-sichten".
Entstanden in Indien, verbreitete sich der Buddhismus zunächst in verschiedenen Schulen über den asiatischen Kontinent. Seine Ankunft in Europa lässt sich aufs späte 19. Jahrhundert datieren. Hierher schaffte es der Buddhismus ohne das Zutun asiatischer Mönche oder Missionare. Zwar hätten buddhistische Organisationen wie die 1891 in Sri Lanka gegründete Maha Bodhi Society Mönche nach Europa geschickt, sagt Baumann. „Aber deren Einfluss war gering.“

Der Buddhismus wurde nicht nach Europa exportiert, sondern von westlichen Intellektuellen importiert: „Gelehrte und Orientalisten haben angefangen, buddhistische Texte zu lesen und zu übersetzen“, sagt Baumann. Er bezeichnet sie als „frühe Pionierbuddhisten“. Vor allem Mitglieder der urbanen, gebildeten Oberschicht hätten im Buddhismus eine Spiritualität gesehen, die ein „Sinnangebot“ in der modernen Industriegesellschaft machte, dabei aber ohne die Dogmen der Kirche auskam. „Es ging darum, den Buddhismus als Zukunftsreligion gegen das Christentum zu positionieren.“ Dabei habe es sich meist um eine textbasierte und intellektuelle Auseinandersetzung gehandelt, erklärt der Religionswissenschaftler aus Luzern. Die ersten buddhistischen Gemeinschaften wurden in Deutschland ab 1907 gegründet.

Mit dem Buddhismus in Asien hatte diese intellektuelle Rezeption nicht viel zu tun: „Die Texte lieferten eine idealistische Version des Buddhismus, die sich von der Alltagspraxis in Ländern wie Thailand oder Sri Lanka stark unterschied“, sagt Lauren Drover, Religionswissenschaftlerin an der Universität Bonn. „Der Buddhismus wurde als Religion ohne Gott und reine Philosophie verklärt.“ Dass das Anbeten von Schutzgöttern in asiatischen Ländern weit verbreitet sei, habe man ausgeblendet. Auch Baumann meint: „Aus westlicher Perspektive wurde genau das aus dem Buddhismus herausgezogen, was man suchte und brauchte.“

Inspiration durch aus Tibet geflohene Mönche

In den 1960er Jahren wandelte sich der Zugang zum Buddhismus in Europa: Im Umfeld der Hippies und Blumenkinder verbreiteten sich Meditationstechniken. Der Buddhismus wurde nicht mehr als abstraktes Gedankengebäude aufgefasst, sondern sollte sinnlich erfahren werden. Ähnlich wie bei den Pionierbuddhisten habe die Suche nach Spiritualität und alternativen Lebensformen eine wichtige Rolle gespielt, erklärt Baumann. In den 1970ern reisten viele Europäer nach Indien und trafen dort auf aus Tibet geflohene Mönche und ließen sich inspirieren. Zurück in der Heimat gründeten manche von ihnen buddhistische Gemeinschaften.

Über die Jahrzehnte entwickelte sich ein spezifisch westlicher Buddhismus, der sich an den hiesigen kulturellen Kontext angepasst hat. Einer der Hauptunterschiede zu den asiatischen Ländern bestehe in dem Verhältnis zwischen Laien und Mönchen, sagt Baumann. In Asien sei der Buddhismus eher monastisch und patriarchal organisiert: „Die Rolle der Laien ist meistens darauf reduziert, den Klöstern etwas zu spenden, bestimmten buddhistischen Vorsätzen zu folgen und die Mönche zu respektieren.“ Hierzulande ist das umgekehrt: Es gebe weniger Mönche; Laien übernähmen in vielen Gemeinschaften und Vereinen wichtige Aufgaben.

Besuch im Tibethaus im Frankfurter Westend: Vor der prachtvollen Villa, in der einst Professoren der Goethe-Universität untergebracht waren, flattern heute tibetische Gebetsfähnchen im Wind. Seit 2005 ist das Tibethaus in Frankfurt ein Anlaufpunkt für alle, die sich für Buddhismus und tibetische Kultur interessieren: Es gibt Meditationsabende, ein dreijähriges Studienprogramm zu den Grundlagen des Buddhismus, Seminare zur buddhistischen Logik und einen hauseigenen Verlag. In den Sommerferien geben zwei Tibetologie-Studenten aus Hamburg einen Tibetisch-Sprachkurs. Bereits 2005 übernahm der Dalai Lama während eines Besuchs in Wiesbaden die Schirmherrschaft – eine Ehre, die sonst nur den Tibethäusern in New York und New Delhi zuteil geworden ist.

Meditationsabende gegen Stress im Alltag

Elke Hessel sitzt im Vorstand des Trägervereins und ist für das Programm des Tibethauses verantwortlich. Auf ihrem Schreibtisch im ersten Stock der Villa stapeln sich Unterlagen und Notizen, gerade sitzt sie an der Schlussredaktion des hauseigenen Magazins „Chökor Tibethaus Journal“. Hessel sagt: „Viele, die zu uns kommen, sind keine Buddhisten.“ Die Gründe für einen Besuch seien vielfältig: Manche kämen, weil sie sich für Tibet und den Dalai Lama begeisterten oder für Asien interessierten. Andere erhofften sich von den Meditationsabenden ein Rezept gegen Stress im Alltag und Beruf. Die Religionszugehörigkeit spielt dabei keine Rolle: „Ich kenne viele Christen, die meditieren“, sagt Hessel.

Die Religionswissenschaftlerin Drover spricht in solchen Fällen von einem „meditativen Zusatzangebot“. Dass Leute, die keine Buddhisten sind, im Alltag nach buddhistischen Regeln meditierten, sei hierzulande weit verbreitet. Die Meditation werde religiös entkernt und vor allem als eine „Praxis des Stressabbaus“ wahrgenommen. Auch Baumann sagt: „Viele Menschen verbinden mit dem Buddhismus die Meditation und das zur Ruhe kommen.“

Die neuste Spielart des westlichen Buddhismus ist die Achtsamkeitsbewegung. Bereits in den 1970er Jahren entwickelte der US-amerikanische Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn die sogenannte achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, eine Therapie, die unter anderem auf buddhistischer Sitz- und Gehmeditation aufbaut und zur Behandlung von Panikattacken, Depressionen oder Burnout eingesetzt wird.

Krankheitsbilder, die hierzulande weit verbreitet sind: Sechs von zehn Arbeitnehmern in Deutschland klagen über Erschöpfung; rund die Hälfte fürchtet sich vor einem Burnout. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie der gesetzlichen Krankenkasse pronova BKK aus dem Jahr 2018. Inzwischen gibt es Achtsamkeits- und Meditations-Apps sowie meterweise Ratgeberliteratur mit Titeln wie „Buddha at Work“. Große Unternehmen buchen Achtsamkeitstrainer, um der Erschöpfung ihrer Mitarbeiter vorzubeugen.

Kritik an der Achtsamkeitsbewegung

Der Soziologe Jacob Schmidt hat diese Entwicklung in seiner Doktorarbeit untersucht. Er spricht von einem „Achtsamkeitstrend“, der in den vergangenen 30 Jahren an Fahrt aufgenommen habe und sich auf ein breit geteiltes Gefühl der Überforderung und Beschleunigung zurückführen lasse. „Achtsamkeit macht ein Angebot zur Lösung unserer modernen Probleme“, sagt Schmidt. Zugleich  kritisiert er die Achtsamkeitsbewegung: Sie lege nahe, dass Stress und Erschöpfung keine gesellschaftlichen, sondern individuelle Probleme seien, die jeder für sich lösen könne.

Was halten „echte“ Buddhisten eigentlich von dem Meditationshype? „Manche befürchten einen Ausverkauf“, sagt Baumann. Andere sähen darin eher ein Mittel, um Leute für den Buddhismus zu interessieren. Die Tibethaus-Vorsitzende Hessel legte vor 25 Jahren in einem Tempel im indischen Bundesstaat Sikkim ihr buddhistisches Zufluchtsritual ab. Buddhismus ist für sie mehr als ein Zusatzangebot auf dem breit gefächerten Markt der Religionen oder ein Schutzwall gegen Burnout und Depression. Sie sagt: „Wenn man meditieren geht, um runterzukommen, ist das in Ordnung.“ Aber: „Das hat vielleicht eine buddhistische Basis, aber das ist kein Buddhismus.“

„Die meisten Leute kommen, weil sie Stress im Alltag haben oder runterkommen wollen“, sagt Thomas aus dem Meditationshaus in Frankfurt. Ihm hilft die Meditation in seinem Alltag: „Wahrnehmung und Denken verändern sich, wenn man meditiert“, sagt er. Bei Streit etwa merke er, wenn er überreagiert. Für handfeste Probleme brauche man aber einen „echten Therapeuten“, sagt er.

Mit einer Sitzung ist es ohnehin nicht getan. Nach der eineinhalbstündigen Meditation kommen die Teilnehmer nochmal kurz zusammen. Einige, die heute zum ersten Mal da waren, klagen über Rückenschmerzen. Für Ungeübte ist das aufrechte Sitzen auf dem Kissen ungewohnt. Auch Meditieren kann anstrengend sein.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2019: Mission und Macht
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