Was erwartet ihr von mir?”, ruft der Mönch auf der Bühne ins Mikrofon. Junge Männer, die in Reihen vor ihm knieen, rutschen näher heran. Einer streckt ihm in dramatischer Geste die Hände entgegen und rollt zum Takt der Trommeln mit dem Kopf. Frauen in weißen Tüchern stimmen einen Heulgesang an und knirschen mit den Zähnen. „Was wollt ihr?”, fragt der Mönch mit lauter Stimme noch einmal über die Rufe und Gesänge der Anwesenden hinweg. „Heile mich!”, ertönt als Antwort, untermalt von anschwellendem Trommelwirbel.
Diese Pilger haben an einem Massenexorzismus teilgenommen, der im September 2018 in Wenkeshet stattfand, einem abgelegenen Kloster im Norden Äthiopiens unweit des Dorfs Tis Issat und der nach ihm benannten Wasserfälle. Sie sind aus dem ganzen Land gekommen, manche sogar aus Europa, den USA und dem Nahen Osten. Alle waren sie auf der Suche nach Erlösung – von HIV, psychischen Problemen, beruflichem Misserfolg oder Liebeskummer. Leiter des Rituals war Yohannes Tesfamariam, 61 Jahre, ein äthiopisch-orthodoxer Christ, dessen Anhänger von seinen wundersamen Heilkräften überzeugt sind.
„Vater Yohannes ist ein ganz besonderer Mensch”, ist ein junger Pilger namens Michael Asrat beim Massenexorzismus in Wenkeshet überzeugt. Er vergleicht ihn sogar mit Johannes dem Täufer. „Jemanden wie ihn findet man nicht noch einmal in Äthiopien.”
Auftritte wie der von Yohannes erfreuen sich zunehmender Beliebtheit unter äthiopischen Christen, insbesondere den Protestanten. Doch auch bei orthodoxen Gläubigen finden sie mehr und mehr Anklang. Veranstaltet werden sie von charismatischen Priestern, die sich offenbar an amerikanischen Fernsehpredigern orientieren, die geschäftstüchtig die Massenmedien nutzen und ihren Wirkungsbereich oft auch über die Landesgrenzen ausdehnen. In diesen Elementen zeigt sich der Einfluss der Pfingstbewegung, einer außerordentlich rasant wachsenden protestantischen Wiedererweckungsbewegung, welche die persönliche Erfahrung mit Gott in den Mittelpunkt stellt. In weiten Teilen Afrikas und den Entwicklungsländern auf dem Vormarsch, verändert die Pfingstbewegung nun auch einige der ältesten christlichen Gemeinschaften, darunter die äthiopisch-orthodoxe Kirche. Dazu gehört eine Wiederbelebung exorzistischer Rituale, die weltweit auch bei anderen christlichen Konfessionen zu beobachten ist.
Yohannes verkündet seine Botschaft auf zahlreichen Reisen rund um die Welt. Mittlerweile strömen nach seiner Schilderung pro Monat 40.000 Pilger „wie das Wasser eines Flusses” nach Wenkeshot. Rund ums Jahr halten sich einige Tausend Besucher in einer Zeltstadt auf dem Gelände des Klosters auf.
Exorzistische Riten per Video
Aber was Yohannes am meisten hilft, eine internationale Anhängerschaft zu gewinnen, sind die sozialen Medien. Er stellt Videos seiner Exorzismusveranstaltungen bei Facebook und YouTube ein – sein Kloster hat bei beiden Plattformen zusammengenommen mehr als 120.000 Follower. Etliche Pilger sagen, sie hätten von Wenkeshet über das Internet erfahren. Eshetu Neta, ein Regierungsmitarbeiter aus dem unweit der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba gelegenen Adama, erzählt, seine in Deutschland lebende Schwester sei von einem Rückenmarksleiden „allein durch Anschauen seiner Videos auf YouTube und ihren Aufenthalt hier” geheilt worden. Die 25-jährige Meaza Lemma, die von Asthma geplagt wird, erfuhr durch ihre Schwester in Dubai, die Yohannes auf Facebook gesehen hatte, von dem Mönch. Am Ende der Zeremonie, die ich als Reporter beobachtete, erlebte ich, wie Yohannes eine junge Frau aufforderte, vor der Kamera zu bezeugen, erfolgreich von psychischen Problemen befreit worden zu sein.
Autor
Tom Gardner
ist Journalist mit Sitz in Addis Abeba, Äthiopien, und dort auch Korrespondent des britischen „The Economist“.Völlig neu sind in Äthiopien weder solche religiösen Rituale noch Persönlichkeiten wie Yohannes. Schon die Mönche und Missionare aus Nordafrika und dem Nahen Osten, die im 5. Jahrhundert das Christentum ins Land brachten, sollen Wunder gewirkt haben. „Der Wunderglaube ist eng mit der Gründung der Klöster verknüpft”, sagt Theodros Teklu, Theologe an der Ethiopian Graduate School of Theology, einem protestantischen Priesterseminar. Vater Garima, ein byzantinischer Fürst, der als einer der sogenannten Neun Heiligen zu den Gründungsvätern der äthiopisch-orthodoxen Kirche gehört, wurde für seine spirituellen Gaben gerühmt, insbesondere sein Vermögen, Kranke zu heilen. Über Jahrhunderte umgab Äthiopien in der europäischen Vorstellung der Nimbus eines mythischen, von der Außenwelt abgeschotteten christlichen Königreichs.
Heiliges Wasser – spektakulär inszeniert
Zur Geschichte des äthiopischen Christentums gehören wandernde Mönche und Mystiker, Bahitawi genannt, die häufig Dreadlocks trugen und gelegentlich eine beträchtliche Anhängerschaft um sich scharten. Laut Joachim Persoon, der ihre Geschichte erforscht, traten sie besonders in unruhigen Umbruchszeiten in Erscheinung. „War die Regierung schwach oder instabil, suchten die Menschen nach Orientierung und Führung”, erklärt er.
Exorzistische Riten und heiliges Wasser, für das viele Pilger in Wenkeshet Schlange standen, sind auch in anderen orthodoxen Glaubensrichtungen bekannt. Sie spielen aber meist eine geringere Rolle und werden nicht so spektakulär inszeniert. Nach dem traditionellen Verständnis äthiopischer Christen entspringt heiliges Wasser nur an ganz bestimmten Orten. So leben heute zum Beispiel viele HIV-Infizierte am Berg Entoto nahe Addis Abeba, weil sie sich Heilung vom dortigen Quellwasser versprechen.
Die Besucher von Wenkeshet kommen allerdings hauptsächlich, um Yohannes zu sehen. Für Priester wie ihn oder den noch weit populäreren Memehir Girma Wondimu aus Addis Abeba ist „heiliges Wasser mehr ein Beiwerk”, sagt Diego Malara, Anthropologe an der Glasgow University, der sich mit Exorzismus und Wunderheilung in der äthiopisch-orthodoxen Kirche beschäftigt hat. „Das Wichtigste ist die spirituelle Gabe des Exorzisten selbst.”
Orthodoxe Persönlichkeiten wie Yohannes und Girma warnen oft vor rivalisierenden charismatischen Priestern, wie sie heute in der äthiopischen Pfingstbewegung an Bedeutung gewinnen. Diese haben nach dem Vorbild von Superstars der nigerianischen Fernsehpredigerszene teils bereits eine riesige Schar von Anhängern gewonnen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie den Glauben mit Geschäftstüchtigkeit zu kombinieren verstehen – Kritiker werfen ihnen rundheraus vor, die Religion zu kommerzialisieren.
Wenkeshet, von Yohannes vor etwa 20 Jahren gegründet, nachdem er lange Zeit als Wanderprediger unterwegs gewesen war, unterhält an vielen Orten der äthiopischen Region Amhara Kontaktbüros. Eine kleine Manufaktur auf dem Gelände des Klosters stellt Textilien zum Verkauf an die Pilger her, auch CDs werden dort produziert. Schon plant Yohannes, das Kloster zur Erholungseinrichtung auszubauen und Touristen zu beherbergen. Inzwischen hat er vier weitere Klöster gegründet.
„Ich will Klöster in der ganzen Welt errichten”, erklärt Yohannes. Er stehe gerade in Verhandlungen, um ein Grundstück in Australien zu erwerben. In und um Wenkeshot sollen auch ein Krankenhaus, Schulen und eine Universität entstehen. „Meine Vision ist nicht rein religiöser Natur”, sagt er. „Ich bin nicht nur Mönch, sondern auch Ingenieur, Arzt, Aktivist, Schriftsteller und Landwirt.”
Messias-Kult für gut ausgebildete Städter
Orthodoxen Traditionalisten stört außer solcher Geschäftstüchtigkeit vor allem der Kult um individuelle Prediger. „Einzelpersonen sollten nicht im Mittelpunkt stehen, das ist die Position der Kirche seit Jahrhunderten”, sagt Tekalign Nega, ebenfalls von der Ethiopian Graduate School of Theology. Persönlichkeiten wie Yohannes haben solche Skrupel nicht. Und Michael, der Pilger, erklärt unumwunden: „Alle glauben, [Yohannes] ist der Messias.”
Viele Anhänger von Yohannes und Girma sind junge, gut ausgebildete Städter, die in den vergangenen Jahrzehnten vermehrt vom orthodoxen Glauben zur Pfingstbewegung gestoßen sind. Letzterer gehörten in den 1960er Jahren noch lediglich ein Prozent der Äthiopier an, heute ist es ein Viertel. Viele Konvertiten zieht die stärker weltlich orientierte Modernität der Pfingstkirchen an, ihre positive Botschaft individuellen Wohlstands und das Versprechen körperlicher und seelischer Heilung (oder „Erlösung”, wie es die Gläubigen nennen) durch den Ritus des Massenexorzismus.
Die äthiopische orthodoxe Kirche steht unter Anpassungsdruck, will sie die Abwanderung zu rivalisierenden Glaubensrichtungen stoppen. Yohannes und Girma bieten nicht bloß Spektakel und Unterhaltung, sie versprechen auch Lösungen für Probleme des alltäglichen Lebens wie schlechte Geschäfte und typische neuzeitliche Krankheiten wie Diabetes.
Darin unterscheiden sie sich gar nicht so sehr von anderen christlichen Konfessionen und Glaubensbewegungen. Naomi Richman sieht einen Grund für die zunehmende Popularität traditioneller Rituale in der „Skepsis gegenüber der Moderne mit ihrer Verneinung des Spirituellen und Übernatürlichen”. Exorzismus findet Zuspruch, sagt sie, weil er Hilfe in den Bereichen Gesundheit, Finanzen und persönliche Beziehungen verspricht, mithin bei Problemen, „die sich in einer globalisierten Welt, in der die Kluft zwischen den Besitzenden und Besitzlosen extremer wird, zu intensivieren scheinen”.
Der Erfolg von Persönlichkeiten wie Yohannes und Girma ist also sicher vor dem Hintergrund von Äthiopiens schmerzhafter Begegnung mit der Globalisierung und dem rasanten sozioökonomischen Wandel zu begreifen. Doch den jungen Pilgern in Wenkeshet sind solche theoretische Erklärungen fern. Michael, der erst kürzlich einen interessanten Job bei einer europäischen Entwicklungsorganisation erhalten hat, ist überzeugt, seinen beruflichen Erfolg dem Mönch zu verdanken: „[Wenkeshet] hat mir sehr geholfen”, sagt er und blickt lächelnd auf das Kloster. „Es ist wirklich ein gesegneter Ort.”
Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.
Dieser Artikel ist zuerst im Februar in „The Atlantic“ erschienen.
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